Klaus Beck­mann, Ver­fass­er des unverzicht­baren „Reper­to­ri­um Orgel­musik“, hat im Schott-Ver­lag in den let­zten Jahren bere­its die umfan­gre­iche Rei­he „Meis­ter der Nord­deutschen Orgelschule“ her­aus­gegeben. Jet­zt legt er die the­o­retis­che bzw. musikgeschichtliche Ergänzung dazu vor: „Die Nord­deutsche Schule. Orgel­musik im protes­tantis­chen Nord­deutsch­land zwis­chen 1517 und 1755.“ Man darf also einiges erwarten. Zu sehr sollte man die Vor­freude allerd­ings nicht aus­reizen. Denn, soviel sei schon gesagt, bei allen Ver­di­en­sten, die dieses Buch aufweist, bleiben doch einige Lück­en offen. Das liegt natür­lich auch daran, dass bish­er nur der erste Teil der Unter­suchung vor­liegt: „Die Zeit der Grün­derväter“ betitelt, was den Zeitraum bis 1629 meint. Musikalisch wird es danach freilich erhe­blich inter­es­san­ter – aber hier sind eben die Anfänge der Nord­deutschen Orgelschule, hier sind die Voraus­set­zun­gen und Aus­gangspunk­te der eigen­ständi­gen Entwick­lung der Orgel­musik in den protes­tantis­chen Städten in Deutsch­lands Nor­den zu beobacht­en. Und darum kreist auch ein erhe­blich­er Teil dieses Buch­es: Die Bedin­gun­gen, unter denen damals über­haupt wie und welche Orgel gespielt wurde und wann und wie für die Orgel kom­poniert wurde.
Dazu liefert Beck­mann nicht nur einen knap­pen Abriss der Entwick­lun­gen des Orgel­baus in den Hans­es­tädten bis zum 16. Jahrhun­dert, er bietet vor allem eine Vielzahl Quellen zur
sozial­his­torischen Sit­u­a­tion, zu den geisti­gen und religiösten Umständten der frühen Ref­or­ma­tion, zu den von Ort zu Ort sich unter­schei­den­den Aus­tarierun­gen zwis­chen (lateinis­ch­er) Messtra­di­tion und refor­ma­torischem Gottes­di­enst. Ins­beson­dere die vielfach über­liefer­ten Kirchenord­nun­gen bieten ihm dafür Mate­r­i­al. Und dort wiederum ins­beson­dere, wo sie von der Situ­ierung der Orgel und des Organ­is­ten im protes­tantis­chen Gottes­di­enst sprechen: So weit sich das überblick­en lässt, sind es vor allem die Ves­pern, die Orgel­musik möglich macht­en. Und die geschah dort wiederum offen­bar in ver­schiede­nen Funk­tio­nen: Der Organ­ist kon­nte intonierend oder alternierend mit dem Chor musizieren, er kon­nte diesen voll­ständig sub­sti­tu­ieren oder auch col­la parte spie­len. Hier ist die Quel­len­lage im Einzel­nen aber immer noch dünn. Die Kirchenord­nun­gen geben für diese Details näm­lich oft nur wenig her – für die gottes­di­en­stliche Prax­is ist auch Beck­mann immer noch auf Ver­mu­tun­gen angewiesen – durch­weg plau­si­ble allerd­ings.
Aus diesen Voraus­set­zun­gen rekon­stru­iert er dann später auch den Ort bzw. Anlass der über­liefer­ten Kom­po­si­tio­nen und entsprechend auch eine typ­isierende Kat­e­gorisierung. Beck­mann legt großen Wert darauf, das nicht mit „kün­stlichen“, weil später entwick­el­ten Begrif­f­en zu tun, son­dern nach Möglichkeit auf zeit­genös­sis­che Beze­ich­nun­gen zurück­zu­greifen. Bei den hier unter­sucht­en Werken in diesem Zeitraum stößt er vor allem auf zwei For­men: Orgel­choral und Choral­fan­tasie. Doch der genauen Unter­suchung der musikalis­chen Quellen geht zunächst noch ein kurz­er, reich­lich knap­per Rück­blick auf die bish­erige Orgel­musik vroaus: Die süd­deutschen Kom­pon­is­ten um Schlick und Hofhaimer wer­den eben­so erwäh­nt wie Hans Buch­n­ers exem­plar­ische Orgelschule bzw. Ton­sat­zlehre, das „Fun­da­men­tum“. Außer­dem bietet Beck­mann noch einige Erläuterun­gen der Dimi­nu­ition­sprax­is und des Koloris­mus, um den Stand der Orgelkun­st in Deutsch­land zu Beginn des 16. Jahrhun­derts darzule­gen. Ähn­lich wie bei dem Kapi­tel zum Orgel­bau bleibt aber die zen­trale Frage eigentlich wieder unbeant­wortet: Was hat das mit der Nord­deutschen Orgelschule zu tun? Wie sehen die Verbindun­gen denn jet­zt konkret aus?
Ins­ge­samt geht er allerd­ings sehr gewis­senhaft und peni­bel sys­tem­a­tisch vor: Nach­dem die äußeren Bedin­gun­gen nun gek­lärt sind, soweit es die Quel­len­lage erlaubt – oder wenig­stens die Quellen dazu zitiert wur­den –, kom­men nun die einzel­nen Städte an die Rei­he. Die Reise begin­nt in Ham­burg mit den „ehrwürdi­gen Grün­dervätern der Nord­deutschen Orgelkun­st“ (142) der Fam­i­lie Prae­to­rius, allen voran Hierony­mus (1560 – 1629).
Hier, bei dessen Vater Jakob und vor allem bei Hierony­mus beobachtet Beck­mann näm­lich ein wesentlich­es Ele­ment: Den eigentlichen Über­gang vom bloßen Abset­zen, d.h. Über­tra­gen vokaler Musik auf das Tas­tenin­stru­ment und das Kolo­ri­eren zum eigentlichen „Kom­ponieren“. Jakob Prae­to­rius ist ihm der erste Organ­ist mit „fest umris­senem Pro­fil“ (135) — das er dem Leser freilich schuldig bleibt. Damit ist Hierony­mus Prae­to­rius der erste Kom­pon­ist, dessen „einzi­gar­tiges Oeu­vre“ (156) Beck­mann aus­führlich vor- und darstellt. Denn von ihm ist „das kom­plette organ­is­tis­che Reper­to­rie als Gesamtwerk“ mit einzel­nen, in sich jew­eils geschlosse­nen Zyklen über­liefert: Mag­ni­fi­cats, Hym­nen und Kyrien. Hier zeigt sich Beck­mann dann auch, etwa in der Analyse der Mag­ni­fi­catzyklen, als feinsin­niger und sach­lich aus­ge­sprochen auf Kor­rek­theit bedachter Wis­senschaftler – freilich ohne beson­dere sprach­liche Ele­ganz. Über­haupt ist das vom Ver­lag schon als „Stan­dard­w­erk“ gepriesene Buch – viel Konkur­renz hat es allerd­ings auch nicht – eine aus­ge­sprochen trock­ene Lek­türe – noch ein Stück spröder als der auch nicht ger­ade über­mäßig sinnliche Gegen­stand der Unter­suchung.
Grund­sät­zlich lässt sich schon bei den ersten Analy­sen fest­stellen: Beck­mann hat vor allem die for­male Gestal­tung und ihre Ver­läufe sowie die pro­to-motivis­che Arbeit im Blick. Sobald er freilich das Feld der unmit­tel­baren Analyse ver­lässt, hagelt es Kon­junk­tive – im all­ge­meinen ist Beck­mann näm­lich aus­ge­sprochen vor­sichtig und zurück­hal­tend, was Deu­tun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen ange­ht, die nicht direkt auf Aus­sagen zeit­genös­sis­ch­er (was bei ihm, ger­ade was Fig­u­ra­tio­nen und kon­tra­punk­tis­che Tech­niken bzw. deren Ter­mi­ni ange­ht, dur­chaus ein Zeitraum von zwei­hun­dert Jahren sein kann) Quellen zurück­ge­hen.
Das ergibt dann eine Fülle richtiger und auf­schlussre­ich­er Beobach­tun­gen und Erken­nt­nisse, etwa aus der vortr­e­f­flichen Analyse der 3 Ver­sus des Mag­ni­fi­cat Pri­mi Toni des Hierony­mus Prae­to­rius aus dessen Zyk­lus der acht Mag­ni­fi­cat-Ver­to­nun­gen, die schon Willi Apel zu Recht als „Auf­takt der nord­deutschen Orgel­musik […], in dem sich die ganze Pracht und Größe dieser Kun­st in bedeut­samer Weise ankündigt“, charak­ter­isierte. Klaus Beck­mann zeigt nun allerd­ings recht deut­lich, dass das schon mehr als eine Ankündi­gung zukün­ftiger Groß­tat­en ist: Bei ihm ist mit Hierony­mus Prae­to­rius der wichtig­ste Schritt bere­its getan, die erste Real­isierung kün­st­lerich­er Äußerung schon geschehen. Aber dieses Ergeb­nis muss der Leser schon selb­st vol­lziehen – da ist Beck­mann wieder viel zu vor­sichtig, so etwas exlip­iz­it zu äußern.
Anhand von Prae­to­rius‘ Werken charak­ter­isiert er auch schon „Orgel­choral und Choral­fan­tasie als instru­men­tale Kat­e­gorien, die ins­beson­dere für die Orgel­musik der Nord­deutschen Schule spez­i­fisch sind“ (195). Zwar lässt sich der Tas­ten­satz Prae­to­rius‘ (und seines Zeitgenossen Johann Stef­fens in Lüneb­urg) dur­chaus noch als „vokalaf­fin“ beschreiben, doch nicht nur die Analyse der Satz- und Form­struk­turen, auch die Unter­suchung der ver­wen­de­ten Fig­uren erlauben es Beck­mann, von ein­er orgel­spez­i­fis­chen For­ten­twick­lung zu sprechen. Daneben betont er nicht nur die Stan­dar­d­isierung der for­malen Abläufe, die sich hier bere­its zeigt, son­dern vor allem den geschlosse­nen Opus-Charak­ters der drei Zyklen. Darin ist nicht nur für ihn ein ein­deutiges Zeichen der Reper­toire-Schaf­fung für den gottes­di­en­stlichen Gebrauch zu sehen.
Den Unter­suchun­gen der Ham­burg­er Orgelkun­st fol­gt ein kurz­er Besuch in Danzig, um die Danziger Tab­u­latur wenig­stens zu erwäh­nen. Darauf geht es weit­er nach Lüneb­urg, wo Johann Stef­fens lebte und arbeit­ete. Bei der Unter­suchung von Stef­fens‘ Choral­fan­tasien zeigt sich, dass die anhand der Kom­po­si­tio­nen von Prae­to­rius entwick­el­ten Begriffe „Orgel­choral“ und „Choral­fan­tasie“ tragfähig genug sind, um auch Stef­fens‘ For­men zu beschreiben.
Dem fol­gt noch einen kurz­er Abstech­er nach Celle – die dort ent­standene Orgeltab­u­latur von 1601 ist der Grund dafür –, um mit Braun­schweig-Wolfen­büt­tel, wo Michael Prae­to­rius resi­dierte, die Reise vor­erst schon wieder zu been­den. Den Abschluss bildet der Ver­such einiger Über­legun­gen zur „His­torischen Spiel­weise“. Aber diese sehr kurzen, knapp gefassten Hin­weise zur grundle­gen­den Prob­lematik jed­er his­torisch informierten Auf­führung­sprax­is bieten kaum mehr als ein kom­men­tiertes Lit­er­aturverze­ich­nis – und haben im Zusam­men­hang dieses ersten Teils auch keinen recht­en Platz.
Schon diese arg verkürzende Zusam­men­fas­sung zeigt, dass in den ersten Jahren der Nord­deutschen Orgelschule im Grunde kaum von ein­er Schule gesprochen wer­den kann. Das liegt vor allem an dem weni­gen Mate­r­i­al, das über­liefert ist und dementsprechend den weni­gen Verbindun­gen untere­inan­der.
Beck­mann bemüht allerd­ings immer wieder die beson­dere Beto­nung der Eigen­ständigkeit der hier begin­nen­den Nord­deutschen Orgelschule, wie sie sich vor allem in Hierony­mus Prae­to­rius und Johann Stef­fens man­i­festiert. In der Tat ist ja die früher gern angenommene Abhängigkeit von Jan Pieter­zoon Sweel­inck kaum und auch nur mit schwachen Indizien zu bele­gen: „Demge­genüber bedarf die deutsche Wurzel ein­er wahrheits­ge­treuen Aufw­er­tung.“ (262) Der Aufar­beitung dieser älteren musik­wis­senschaftlichen Rezep­tion hat Beck­mann viel Raum gegeben. Aber genau diese „vorder­gründi­ge Denkweise“, die Beck­mann der älteren Forschung vor­wirft, find­et dann doch – zumin­d­est in kleinen Dosen – ihren Nieder­schlag auch in sein­er eige­nen Arbeit – wenn er etwa behauptet: „Es liegt nahe anzunehmen, dass Johann Stef­fens und Hierony­mus Prae­to­rius […] eine gute nach­barschaftlich-kol­le­giale Beziehung gepflegt haben, wozu auch der Aus­tausch von Kom­po­si­tio­nen gehört haben dürfte. Eine Rei­he von Übere­in­stim­mungen […] erhärtet jeden­falls diese Ver­mu­tung zur Gewis­se­heit.“ Solche Schlüsse sind let­ztlich genau­so gefährlich wie die Argu­men­ta­tion mit einem his­torischen „Wahrheitswert“. Schließlich weist Beck­mann selb­st oft genug darauf hin, wie entschei­dend sich das Bild durch neue oder lange Zeit ver­nach­läs­sigte Quellen verän­dern kann.
Doch das bet­rifft nur wenige Stellen sein­er Aus­führun­gen. Was dage­gen schw­er­er ins Gewicht fällt, ist die Tat­sache, dass es Beck­mann in diesem ersten Teil sein­er Unter­suchung kaum gelingt, angenommene oder tat­säch­liche his­torische Entwick­lun­gen in ihrem Ver­lauf­scharak­ter darzustellen: Zu sehr sind das (noch) lauter einzelne Wis­sens­brock­en. Aber noch beste­ht ja Hoff­nung, denn dies ist ja aus­drück­lich der erste Teil ein­er größeren Unter­suchung. Und der Haupt­teil seines The­mas, die Hoch­phase der Nord­deutschen Schule, ste­ht eben noch aus. Dieses Manko kann also dur­chaus noch dem Forschungs­ge­gen­stand, ein­er Schule im Entste­hen, geschuldet sein – wobei sich dann doch die Frage stellt, ob diese arg kün­stliche Tren­nung in „Grün­derzeit“ und Hoch­phase wirk­lich sin­nvoll ist.
Über­haupt haftet dem ganzen Band an eini­gen Stellen etwas unfer­tiges und undurch­dacht­es an. Nur ein Beispiel: Gewiss wird hier ein hochgr­a­dig spezielles The­ma abge­han­delt, die Idee eines Glos­sars ist also dur­chaus hil­fre­ich – aber dort dann „Orgel“ oder „Ped­al“ in zwei Sätzen erk­lären zu wollen, mutet doch befremdlich an.
Schließlich hätte man mit dem hier aus­ge­bre­it­eten Wis­sen eine wun­der­bare Geschichte der Nord­deutschen Orgelschule – oder zumin­d­est ihrer Anfänge – schreiben kön­nen. Aber das hat Klaus Beck­mann lei­der kaum getan. Es ist weniger ein Lese­buch, son­dern viel mehr eine Doku­men­ta­tion gewor­den – vor allem aber ein instruk­tives und mate­ri­al­re­ich­es Quel­len­lese- und ‑find­e­buch.
Klaus Beck­mann: Die Nord­deutsche Schule. Orgel­musik im protes­tantis­chen Nord­deutsch­land zwis­chen 1517 und 1755. Teil I: Die Zeit der Grün­derväter. 1517–1629. Mainz u.a.: Schott 2005. 312 Seit­en. 59,95 Euro.
(erschienen in „die tonkun­st”, jg. 1 (2007), heft 3, seite 310–314)