Es ist schnell ein böses Wort geworden. Dabei war es doch nur gut gemeint:Das so harmlos klingende Wort „Gebrauchsmusik” sollte bloß ein Phänomen beschreiben, dass die europäische Musikgeschichte schon lange geprägt hatte. Denn Heinrich Bessler hatte in seinen „Grundfragen des musikalischen Hörens” (1925) zwei Typen der Musik unterschieden: „eigenständige” und „umgangsmäßige”. Letzere sollte Gebrauchsmusik heißen und die Art von Musik sein, die sich in erster Linie durch ihre Zweckgebundenheit von Erscheinungen wie der Kunstmusik der klassischen oder romantischen Tradition abhebt. Gemeint war damit Musik wie die Kirchenmusik, die höfische Musik und überhaupt die Unterhaltungsmusik – also ohne Zweifel ganz bedeutende Teile der abendländischen Musikausübung und Musikgeschichte. Das hängt damit zusammen, dass sich so etwas wie „eigenständige” oder autonome Musik erst einmal entwickeln musste. Bald aber wurde Gebrauchsmusik auch als Kampfbegriff für die musikalische Abgrenzung von einer subjektiv übersteigerten, spätbürgerlich-expressionistischen Musik benutzt. Paul Hindemith dekretierte dann schon 1927: „Es wird keinem einfallen, die Notwendigkeit der Gebrauchs- oder Verschleißmusik zu leugnen.” Und damit waren die Weichen gestellt, jetzt geschah das unvermeidliche: Der Begriff verselbständigte sich und wurde zum Schlagwort.
Dabei führt das Wörtchen „Gebrauch” immer mehr in die Irre. Denn natürlich soll alle Musik, auch die der vehementen Bekämpfer der Gebrauchsmusik, gebraucht werden. Worum es vielmehr geht, ist die (gesellschaftliche) Funktion von Musik und ihre Situierung im Leben. Die Verfechter der Gebrauchsmusik positionierten sich mit dem Vorwurf der L’art pour l’art bewusst gegen die abgehoben erscheinende Sphäre der „Kunst“-Musik und setzten Tendenzen wie politische Musik, Arbeiterlieder und ‑chöre (es sei nur an die vielfältigen Bemühungen Hanns Eislers erinnert) dagegen. Und so bekam Gebrauchsmusik immer mehr einen pejorativen Beiklang: Denn es war ja keine richtige Musik für die Ewigkeit, sondern bloße Gelegenheitskomposition. Sehr schön sieht man das noch in der ersten Auflage der Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart” – da wimmelt es nur von solchen Urteilen: „geschickte Gebrauchsmusik”, „kam über Gebrauchsmusik nicht heraus”, „blieb der konventionellen Gebrauchsmusik verhaftet”.
Doch die Gegenüberstellung von Gebrauchsmusik und absoluter Musik ist letztlich nichts weiter als ein obsoletes Überbleibsel der romantischen Musikästhetik des 19. Jahrhunderts und der gerade im Bürgertum weit verbreiteten Idealisierung der Kunst überhaupt. Aber noch Ende des 19. Jahrhunderts gelang die Verbindung zwischen diesen bald darauf so säuberlich getrennten Sphären der Musik noch. Bestes Beispiel dafür: Die unzähligen Chorkompositionen von Meistern wie Brahms oder Reger, wie sie heute als Gebrauchsmusik klassifizieren würden – eine Verbindung, die Theodor W. Adorno in seiner „Einleitung in die Musiksoziologie” für das 20. Jahrhundert kategorisch verneint: „Aber die unversöhnlichen Sphären des Musiklebens können unmöglich im selben Individuum koexistieren.” Tatsächlich lässt sich beobachten, dass sich der Kontrast im 20. Jahrhundert noch einmal wesentlich verschärft hat. Vor allem in den sechziger Jahren, den Hochzeiten des ungehemmten Materialfortschritts der Avantgarde, der Blütezeit des Serialismus. Daran wird aber auch deutlich, warum die Kluft immer größer wurde: Die Neue Musik wurde immer avancierter und intellektueller, sie entfernte sich stetig von ihren Rezipienten. Der Serialismus trieb das nur auf die Spitze: Niemand vermag diese Musik hörend zu verstehen oder nachzuvollziehen. Ganz zu schweigen von einem anderen Problem, das bei weitem nicht nur den Serialismus betrifft und dessen Wurzeln ebenfalls schon in der Entwicklung der Musik durch das 19. Jahrhundert hindurch zu suchen sind: Die Kompositionen wurden hinsichtlich ihrer Aufführbarkeit immer anspruchsvoller. Und das manifestiert sich nirgends so deutlich wie im Feld der vokalen Musik.
Doch wenden wir den Blick noch einmal zurück zur Entstehung des Begriffes. Nicht ohne Grund wurde der Begriff der Gebrauchsmusik gerade in der Zeit des Übergangs von der Moderne und dem Expressionismus zum Funktionalismus und der Neuen Sachlichkeit geprägt – zwei Strömungen, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg als allgemeine Zeitphänomene in allen Kunstrichtungen wirkten. Sie hatten in erster Linie eine ernüchterte Sicht auf musikalische Phänomene zur Folge. Diese werden im technischen Zeitalter nun weniger auf reine Schönheit als auf ihre Rezeption, ihre Wirkung und damit ihre Funktionalität befragt. Deshalb zählt Gebrauchsmusik für die Musikwissenschaft heute zum Teilbereich der „funktionalen Musik”. Das hat den Vorteil, ideologisch vorbelastet zu sein. Besser als „funktionale Musik” beschreibt der von Helmut Rösing geprägte Begriff „Umgangsmusik”, die er vor allem im Gegensatz zu der Darbietungsmusik des Konzertwesens definiert, das Wesen der Gebrauchsmusik. Gebrauchsmusik im eigentlichen Sinne deckt sich nämlich nicht ganz mit der funktionalen Musik. Denn zu dieser gehören auch Phänomene wie Muzak, die Fahrstuhl- oder Kaufhausmusik, die Jingles des Werbemusik und die Handy-Klingeltöne genauso wie Erik Saties Idee einer „musique d’ameublement” – der Versuch, genau das, was Hindemith „Verschleissmusik” nannte, nämlich die Musik als Begleiter des alltäglichen Lebens, auf die Spitze zu treiben und in beabsichtigter Kunstlosigkeit, einem Verweigern all dessen, was bisher eine Komposition bestimmte, in der Nicht-Komposition, der Anti-Kunst, zu enden. Doch so weit geht Gebrauchsmusik in der Regel nicht. Sie möchte ja durchaus noch im Reich der Kunst weilen. Das einzige, worauf sie wirklich verzichtet, ist der Anspruch auf Avantgarde. Doch dieser Teil der Musik wiederum interessiert die Wissenschaft nicht besonders – sieht man von einzelnen Studien zu Spezialphänomenen wie etwa der Salonmusik als spezifisch bürgerliche Musikpraxis des 19. Jahrhunderts oder der politischen Musik ab. Denn Musikwissenschaftler waren stets ausgesprochen materialorientiert. Das meint, sie beschäftigt sich bevorzugt mit Entwicklungen und Fortschreitungen in der Erkundung des musikalischen Materials. Besonders ausgeprägt ist diese Auffassung der Musikgeschichte wiederum bei Adorno. Der kommt aus diesem Blickwinkel deshalb zu dem umvermeidlichen Schluss: „Die Gebrauchsmusik wäre wohl als Kapitulation der isolierten Komponisten vor dem Markt zu bestimmen.” Was er damit impliziert, ist eindeutig: Wahre Kunst müsse auf ihrer gesellschaftlichen Unabhängigkeit, ihrer Befreiung von Auftrag und Funktion beharren und wahre Komponisten sich allein auf die Formung ihres Materials besinnen.
Solche Positionen sind jedoch spätestens seit dem „Ende des Materialfortschrittes” in den 60er/70er Jahren nicht mehr haltbar. Damit ist zwar die Unterscheidung Gebrauchsmusik – Avantgarde noch lange nicht obsolet geworden, aber in der Praxis noch schwieriger. Eine klassische (Material-)Analyse reicht zur Bestimmung nicht mehr aus, die Differenzierung erfordert, den Anspruch und die Rezeption der Komposition jeweils mitzubedenken. Oder mit Carl Dahlhaus: „Die Erfahrung zeigt, daß Urteilskriterien, die an autonomer Musik entwickelt wurden, bei funktionaler Musik (womit Dahlhaus hier Gebrauchsmusik meint) versagen und seltsam irrelevant erscheinen.” Jedes Werk muss also den Funktionalitätstest bestehen. Entscheidend ist dabei nur, ob es den eigenen Ansprüchen gerecht wird, ob es sein selbst gestecktes Ziel erreicht. Was heißt das aber für die Beurteilung Gebrauchsmusik, wenn wir die Differenzierung noch beibehalten wollen?
Da wäre natürlich zunächst zu überlegen, worin die Funktion von Musik eigentlich überhaupt besteht. Dafür ist hier nicht der rechte Platz, aber es genügt ja, auf gängige Vorstellungen zurückzugreifen, zum Beispiel Bestimmungen wie die Versöhnung des Menschen mit sich selbst, die Bestätigung des Ichs und des Kollektivs. Oder der Zugang zu Emotionen und Erfahrungen, die sich anders nicht erfassen und beschreiben lassen sowie die Etablierung einer gemeinschaftlichen Gefühlsbasis. Natürlich auch die Darstellung der Welt und alternativer Lebensentwürfe. Oder bloß kurzweilige Ablenkung. Leistet Gebrauchsmusik das? Im Ganzen lässt sich sagen: Ja, sie kann das. Der Unterschied zur Kunstmusik liegt weniger in den Zielen als vielmehr in den Methoden. Die Gebrauchsmusik vertraut wesentlich stärker auf die Wirksamkeit bereits erprobter musikalischer Gestaltungsmittel. Sie muss das auch, denn genau das, die Wirksamkeit, ist ihr Ziel – wohingegen andere Musik diese zwar nicht ausschließen kann und mag, sich von ihr in ihrer künstlerischen Freiheit aber auch nicht beschneiden lassen mag. Durch diese Orientierung verzichtet die Gebrauchsmusik bewusst – weil es ihre Hörer überfordern könnte – auf die Erprobung und Erfindung neuer Mittel, die vielleicht sogar besser geeignet wären, direkteren Zugang ermöglichten oder den zeitspezifischen Konstitutionen der Hörersubjekte besser entsprächen, möglicherweise dieser aufgrund ihrer Neuartigkeit aber auch vollkommen unzugänglich blieben.
Und das ist eine wesentliche Lücke, die von der Gebrauchsmusik gefüllt wird: Die unbedingte Ausrichtung auf den Zuhörer. Sie weist zugleich auf eine andere Bedeutung des Begriffs hin: Gebrauchsmusik ist Musik, die im zweifachen Sinne gebraucht wird, sie wird benötigt und verbraucht. Benötigt wird sie, weil große Teil der eigenständigen Kunstmusik jegliche Rezipienten- und Musikerorientierung aufgeben mussten. Solche Musik ist nur noch von Spezialisten zu realisieren und verstehend zu durchdringen. Ihr fehlt damit aber ein wesentliches Wirkungsmoment in der Gesellschaft: Das aktive Musizieren, das Laien-Musizieren, das mit seinen gruppendynamischen und gesellschaftliche Funktionen weit über die ästhetische Erfahrung hinausgeht.
Verbraucht werden kann die Gebrauchsmusik in gewissen Sinne deshalb, weil sie in das Bewusstsein der Rezipienten nicht im gleichen Maße eindringen will und kann wie autonome Musik: Sie verzichtet schließlich im Sinne der Verwendbarkeit auf besonders starke Irritationen. Und dieser Verzicht, der die Gebrauchsmusik zu einer Musik ihrer Zeit macht, führte auch dazu, dass sie aus den gewöhnlichen Musikgeschichten herausfällt, da diese sich aus vielfältigen Gründen in den allermeisten Fällen an der Historisierung des Materialfortschritts orientieren.
Damit wird aber deutlich: Die Gebrauchsmusik befriedigt legtitime Bedürfnisse, die die Kunstmusik gerade aufgrund ihres extrem elaborierten Systems nicht mehr mit ausreichender Funktionalität befriedigen kann, die Gebrauchsmusik bekennt sich sowohl zu ihrer Publikumsorientierung als auch zu ihrer Musikerorientierung gerade im Gegensatz zur freischwebenden Verwirklichung des Komponisten. Gebrauchsmusik kann also als Musik verstanden werden, die weniger zum Ziel hat, neue Dimensionen oder Formen des Ausdrucks zu (er-)finden, sondern vielmehr das bekannte, bereits eroberte Terrain nutzbar zu machen – oder, um in der Metapher zu bleiben: Die durch die Avantgarde vermessene Wildnis wird erst durch Werke der Gebrauchsmusik in nutzbaren Boden überführt.
Zum Wesen der Gebrauchsmusik gehört also, dass auf sie gerade nicht zutrifft, was der Philosoph und Kunsttheoretiker Benedetto Croces behauptete: „Jedes wahre Kunstwerk hat eine festgelegte Gattung verletzt.” In diesem Sinne, was Material und Form angeht, lässt sich Gebrauchsmusik also zweifellos als konservativ bezeichnen. Bezeichnend für sie ist aber außerdem eine immer prekäre Stellung zwischen Avantgarde und Tonsatz: Einerseits die Hochachtung des kompositorischen Handwerks, andererseits das Beharren auf dem Kunstcharakter. Die Grenzen, in denen sich Gebrauchsmusik damit bewegt, sind also mit Sicherheit enger – aber sie sind selbst auferlegt, sie sind bereits die erste ästhetische Entscheidung des Komponisten und als solche zu respektieren. Schließlich setzt die bloße Erwähnung des Wortes „Gebrauchsmusik” heute, nach fast hundert Jahren stetiger Verwendung, automatisch nicht nur eine Differenzierung, sondern vor allem eine Hierarchisierung in Gang: Gebrauchsmusik gilt in der Regel als nicht ganz vollwertige Musik – obwohl jede nähere Beschäftigung mit den tatsächlichen Werken zeigen muss, dass diese Auffassung in die Irre geht. Musik, die nicht gebraucht oder benutzt werden will und kann, wäre ein furchtbares und sinnloses Unterfangen. Gebrauchsmusik ist mehr als ein unliebsamer Seitenzweig der Musikgeschichte. Sie war, ist und bleibt integraler Teil des musikalischen Lebens.
erschienen in der neuen chorzeit, juli/august 2007.
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