Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: orgelmusik

Taglied 3.1.2012

Heu­te gibt es ganz viel Musik, näm­lich „The Illu­si­ve Eng­lish Organ“, die Aus­ga­be 1201 der „Pipe­d­reams“. Pipe­d­reams ist eine unbe­dingt emp­feh­lens­wer­te Sen­dung des ame­ri­ka­ni­schen Radi­os, die über deren Home­page auch bei uns zu hören ist: Jede Woche gibt es hier (auch per E‑Mail) zwei Stun­den feins­te Orgel­mu­sik, the­ma­tisch und/​oder regio­nal ver­bun­den, mit gro­ßem Inter­es­se an den Orgeln und ihren Spe­zi­fi­ka. Mehr Infor­ma­tio­nen gibt’s auf der Home­page beim Publicradio/​American Publik Media: klick.

Der Sommer ist Musik

Wenn schon das Wet­ter nicht mit­spielt, dann wenigs­tens die Kunst: Der Main­zer Musik­som­mer ist wie­der eröff­net:

Kei­ne leich­te Sache wird das: Von 16. bis zum 20. Jahr­hun­dert reicht die Span­ne, von fran­ko-flä­mi­scher Vokal­po­ly­pho­nie bis zu spät­ro­man­ti­schen Chor­lie­dern. Das Eröff­nungs­kon­zert des Main­zer Musik­som­mers im Dom ist damit fast ein klei­nes Fes­ti­val in sich.

Ein­fach ist das nicht, so eine gro­ße Viel­falt in einem Kon­zert­abend zusam­men­zu­brin­gen und jedem ein­zel­nen Werk auch gerecht zu wer­den. Doch Dom­ka­pell­meis­ter Mathi­as Breit­schft gelingt das mit dem Dom­kam­mer­chor rich­tig gut. Sicher, die Spe­zia­lis­ten wür­den die Chor­mu­sik der Main­zer Hof­ka­pell­meis­ter wie Gabri­el Plautz, Phil­ipp Fried­rich Buch­ner oder Johann Zach schon anders sin­gen. Aber auch Breit­schaft fin­det einen guten Weg. Einen sanf­ten vor allem:

Immer wie­der fällt in die­sen lit­ur­gi­schen Chor­sät­zen aus dem Renais­sance- und Barock-Mainz der wei­che Chor­klang auf, den Breit­schaft formt. Der Dom­kam­mer­chor und sei­ne Solis­ten las­sen den Klang förm­lich in die Dom­hal­le flie­ßen, ohne die Kon­trol­le über die Kon­tu­ren zu ver­lie­ren – und mit der Fähig­keit, immer wie­der kla­re Akzen­te zu set­zen und Höhe­punk­te zu for­men.
Der Sprung in die Roman­tik ist dann frei­lich doch genau das: Ein Sprung. Und ein recht gro­ßer noch dazu. Zumal Franz Liszts „Prä­lu­di­um und Fuge über B‑A-C‑H“ für Orgel ja auch nicht zurück­hält mit gro­ßen Ges­ten, har­mo­ni­schen Kühn­hei­ten und klang­li­chen Effek­ten.

Dom­or­ga­nist Dani­el Beck­mann, der in der ers­ten Hälf­te den Chor auch schon mit Cel­lis­tin Traudl Eute­bach im Gene­ral­bass unter­stützt hat, über­nimmt die Auf­ga­be, die­sen Sprung aus­zu­füh­ren – und tut das gewandt, ohne die Boden­haf­tung zu ver­lie­ren. Wo ande­re Orga­nis­ten sich ger­ne aus­to­ben, bevor­zugt er eher gemä­ßig­te Tem­pi und nimmt sich auch Zeit für Ruhe­punk­te – so bleibt auch in der Domakus­tik noch vie­les erkenn­bar. Vor allem aber ist es sei­ne sehr fan­ta­sie­vol­le, abwechs­lungs­rei­che und ein­fühl­sa­me Regis­trie­ung, die nicht nur das Poten­zi­al der Orgel aus­kos­tet, son­dern auch dem Werk zur vol­len Gel­tung ver­hilft.

Der Dom­kam­mer­chor nimmt das dann direkt auf: Mit drei Motet­ten von Liszt zeigt er sich in der zwei­ten Kon­zert­hälf­te deut­lich far­bi­ger als zuvor in der Abtei­lung „Alte Musik“, deut­lich viel­fäl­ti­ger auch in Dyna­mik und Arti­ku­la­ti­on. Vor allem zum Schluss hin stei­gern sich die nach­denk­li­chen Innig­kei­ten: Sorg­sam und fas­zi­nie­rend detail­reich ent­fal­tet Breit­schaft schon Hugo Wolfs „Geist­li­che Lie­der“, behut­sam und bedacht lässt er ihre resi­gna­tiv-erlös­te End­zeit­stim­mung genau aus­for­men. Und mit der Motet­te „Schaf­fe in mir Gott“ von Johan­nes Brahms, die zumin­dest for­mal noch ein­mal den Bogen zum Anfang des Kon­zer­tes schlägt, kann er das sogar noch ein biss­chen über­bie­ten: Mit geziel­tem Kraft­ein­satz, mit prä­zis gesetz­ten Höhe­punk­te und trotz aller klang­li­chen Deli­ka­tes­se vor allem mit viel begeis­ter­tem Schwung.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein­zei­tung.)

rock gegen orgel oder wie ein englischer organist im dom gegen die mainzer nachwuchsrocker ankämpft

Die Kon­kur­renz war stark. Und vor allem sehr laut. Der eng­li­sche Orga­nist John Scott muss­te im Dom wirk­lich alle sprich­wört­li­chen Regis­ter zie­hen, um gegen die Bands auf dem Lieb­frau­en­platz anzu­kom­men. Die meis­te Zeit gelang ihm das auch recht gut, aber so man­che zar­te und lei­se Stel­le ging dann doch im her­ein­schwap­pen­den Rock unter. Dafür war hier das Publi­kum exklu­si­ver – nur wenig Orgel­en­thu­si­as­ten fan­den am Mitt­woch Abends in den Dom.

Gelohnt hat sich der Weg aber durch­aus. Denn der in New York täti­ge Scott, den eine Koope­ra­ti­on der Dom­kon­zer­te mit dem Kul­tur­som­mer Rhein­land-Pfalz nach Mainz brach­te, prä­sen­tier­te ein klas­si­sches Orgel­kon­zert­pro­gramm. Zumin­dest auf den ers­ten Blick. Das begann ganz typisch mit deut­scher Orgel­mu­sik des 17. Jahr­hun­derts, um sich dann bis in die Gegen­wart und nach Eng­land vor­zu­ar­bei­ten. Und da wur­de es dann rich­tig span­nend. Sicher, Scott kann als ver­sier­ter Orga­nist auch die vor­bach­schen Meis­ter sou­ve­rän dar­bie­ten. Sein sehr behut­sa­mer Umgang mit dem Noten­text, sei­ne fast zer­brech­lich auf­schei­nen­den klang­li­chen Ideen, die abwechs­lungs­rei­chen Regis­trie­run­gen, sein defen­si­ves und wei­ches Spiel – all das steht Georg Muf­fat genau­so zugu­te wie Pachel­bels Choral­par­ti­ta über „Was Gott tut, das ist wohl­ge­tan“.

Aber erst mit dem Über­gang zum eng­li­schen Teil des Pro­gramms ent­fal­te­te sich Scotts gan­ze Fas­zi­na­ti­on und Spann­kraft. Schon Samu­el Sebas­ti­an Wes­leys Lar­ghet­to zeig­te die Rich­tung – aller­dings vor­erst nur in Andeu­tun­gen. Sehr sach­te brei­te­te Scott das aus, fast schon ein wenig ver­huscht for­mier­te er Klang­schwa­den in sanft anrol­len­den Wel­len – so konn­ten die medi­ta­ti­ven Varia­tio­nen sich wun­der­bar ent­fal­ten. Und dann ging es mit einem har­tem Schnitt rein in die vir­tuo­se, majes­tä­ti­sche Pracht. Begin­nend mit der Fan­ta­sia & Toc­ca­ta des Iren Charles Vil­liers Stan­ford, ließ der Eng­län­der sei­nen Hän­den und Füßen nun wirk­lich frei­en Lauf. Aber auch hier, in den deut­lich auf Vir­tuo­si­tät kon­zi­pier­ten Wer­ken, zau­ber­te Scott immer wie­der wun­der­bar sanft glei­ten­de Über­gän­ge. Dumm nur, dass aus­ge­rech­net jetzt, in die fein­sin­nig zurück­ge­zo­ge­nen Gespins­te, die Außen­welt in Gestalt der Rock­mu­sik immer wie­der ein­brach. Dafür konn­te Scott, voll­kom­men sou­ve­rä­ner Herr­scher über den Spiel­tisch der Main­zer Dom­or­gel, mit den „Wild Bells“ von Micha­el Ber­ke­ley das Ter­rain dann wie­der mehr als behaup­ten. Die­ses phan­tas­ti­sche Werk vol­ler vir­tuo­ser Ein­fäl­le und Tricks ist genau das, was der Titel ver­heißt: Eine impres­sio­nis­tisch ange­hauch­te Klang­stu­die über wild gewor­de­ne, fast irr­sin­nig tönen­de Glo­cken. Und das gab Scott zum Schluss noch ein­mal Gele­gen­heit, aus dem Vol­len zu schöp­fen, einen Wett­kampf der Zun­gen zu insze­nie­ren und im vir­tuo­sen Rausch beein­dru­cken­de Klang­be­we­gun­gen vor­zu­füh­ren.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung.)

Klaus Beckmann sucht die Anfänge der Norddeutschen Orgelschule

Klaus Beck­mann, Ver­fas­ser des unver­zicht­ba­ren „Reper­to­ri­um Orgel­mu­sik“, hat im Schott-Ver­lag in den letz­ten Jah­ren bereits die umfang­rei­che Rei­he „Meis­ter der Nord­deut­schen Orgel­schu­le“ her­aus­ge­ge­ben. Jetzt legt er die theo­re­ti­sche bzw. musik­ge­schicht­li­che Ergän­zung dazu vor: „Die Nord­deut­sche Schu­le. Orgel­mu­sik im pro­tes­tan­ti­schen Nord­deutsch­land zwi­schen 1517 und 1755.“ Man darf also eini­ges erwar­ten. Zu sehr soll­te man die Vor­freu­de aller­dings nicht aus­rei­zen. Denn, soviel sei schon gesagt, bei allen Ver­diens­ten, die die­ses Buch auf­weist, blei­ben doch eini­ge Lücken offen. Das liegt natür­lich auch dar­an, dass bis­her nur der ers­te Teil der Unter­su­chung vor­liegt: „Die Zeit der Grün­der­vä­ter“ beti­telt, was den Zeit­raum bis 1629 meint. Musi­ka­lisch wird es danach frei­lich erheb­lich inter­es­san­ter – aber hier sind eben die Anfän­ge der Nord­deut­schen Orgel­schu­le, hier sind die Vor­aus­set­zun­gen und Aus­gangs­punk­te der eigen­stän­di­gen Ent­wick­lung der Orgel­mu­sik in den pro­tes­tan­ti­schen Städ­ten in Deutsch­lands Nor­den zu beob­ach­ten. Und dar­um kreist auch ein erheb­li­cher Teil die­ses Buches: Die Bedin­gun­gen, unter denen damals über­haupt wie und wel­che Orgel gespielt wur­de und wann und wie für die Orgel kom­po­niert wur­de.
Dazu lie­fert Beck­mann nicht nur einen knap­pen Abriss der Ent­wick­lun­gen des Orgel­baus in den Han­se­städ­ten bis zum 16. Jahr­hun­dert, er bie­tet vor allem eine Viel­zahl Quel­len zur
sozi­al­his­to­ri­schen Situa­ti­on, zu den geis­ti­gen und reli­gi­ös­ten Umständ­ten der frü­hen Refor­ma­ti­on, zu den von Ort zu Ort sich unter­schei­den­den Aus­ta­rie­run­gen zwi­schen (latei­ni­scher) Mess­tra­di­ti­on und refor­ma­to­ri­schem Got­tes­dienst. Ins­be­son­de­re die viel­fach über­lie­fer­ten Kir­chen­ord­nun­gen bie­ten ihm dafür Mate­ri­al. Und dort wie­der­um ins­be­son­de­re, wo sie von der Situ­ie­rung der Orgel und des Orga­nis­ten im pro­tes­tan­ti­schen Got­tes­dienst spre­chen: So weit sich das über­bli­cken lässt, sind es vor allem die Ves­pern, die Orgel­mu­sik mög­lich mach­ten. Und die geschah dort wie­der­um offen­bar in ver­schie­de­nen Funk­tio­nen: Der Orga­nist konn­te into­nie­rend oder alter­nie­rend mit dem Chor musi­zie­ren, er konn­te die­sen voll­stän­dig sub­sti­tu­ie­ren oder auch col­la par­te spie­len. Hier ist die Quel­len­la­ge im Ein­zel­nen aber immer noch dünn. Die Kir­chen­ord­nun­gen geben für die­se Details näm­lich oft nur wenig her – für die got­tes­dienst­li­che Pra­xis ist auch Beck­mann immer noch auf Ver­mu­tun­gen ange­wie­sen – durch­weg plau­si­ble aller­dings.
Aus die­sen Vor­aus­set­zun­gen rekon­stru­iert er dann spä­ter auch den Ort bzw. Anlass der über­lie­fer­ten Kom­po­si­tio­nen und ent­spre­chend auch eine typi­sie­ren­de Kate­go­ri­sie­rung. Beck­mann legt gro­ßen Wert dar­auf, das nicht mit „künst­li­chen“, weil spä­ter ent­wi­ckel­ten Begrif­fen zu tun, son­dern nach Mög­lich­keit auf zeit­ge­nös­si­sche Bezeich­nun­gen zurück­zu­grei­fen. Bei den hier unter­such­ten Wer­ken in die­sem Zeit­raum stößt er vor allem auf zwei For­men: Orgel­cho­ral und Choral­fan­ta­sie. Doch der genau­en Unter­su­chung der musi­ka­li­schen Quel­len geht zunächst noch ein kur­zer, reich­lich knap­per Rück­blick auf die bis­he­ri­ge Orgel­mu­sik vro­aus: Die süd­deut­schen Kom­po­nis­ten um Schlick und Hof­hai­mer wer­den eben­so erwähnt wie Hans Buch­ners exem­pla­ri­sche Orgel­schu­le bzw. Ton­satz­leh­re, das „Fun­da­men­tum“. Außer­dem bie­tet Beck­mann noch eini­ge Erläu­te­run­gen der Dimi­nui­ti­ons­pra­xis und des Kolo­ris­mus, um den Stand der Orgel­kunst in Deutsch­land zu Beginn des 16. Jahr­hun­derts dar­zu­le­gen. Ähn­lich wie bei dem Kapi­tel zum Orgel­bau bleibt aber die zen­tra­le Fra­ge eigent­lich wie­der unbe­ant­wor­tet: Was hat das mit der Nord­deut­schen Orgel­schu­le zu tun? Wie sehen die Ver­bin­dun­gen denn jetzt kon­kret aus?
Ins­ge­samt geht er aller­dings sehr gewis­sen­haft und peni­bel sys­te­ma­tisch vor: Nach­dem die äuße­ren Bedin­gun­gen nun geklärt sind, soweit es die Quel­len­la­ge erlaubt – oder wenigs­tens die Quel­len dazu zitiert wur­den –, kom­men nun die ein­zel­nen Städ­te an die Rei­he. Die Rei­se beginnt in Ham­burg mit den „ehr­wür­di­gen Grün­der­vä­tern der Nord­deut­schen Orgel­kunst“ (142) der Fami­lie Prae­to­ri­us, allen vor­an Hie­ro­ny­mus (1560 – 1629).
Hier, bei des­sen Vater Jakob und vor allem bei Hie­ro­ny­mus beob­ach­tet Beck­mann näm­lich ein wesent­li­ches Ele­ment: Den eigent­li­chen Über­gang vom blo­ßen Abset­zen, d.h. Über­tra­gen voka­ler Musik auf das Tas­ten­in­stru­ment und das Kolo­rie­ren zum eigent­li­chen „Kom­po­nie­ren“. Jakob Prae­to­ri­us ist ihm der ers­te Orga­nist mit „fest umris­se­nem Pro­fil“ (135) – das er dem Leser frei­lich schul­dig bleibt. Damit ist Hie­ro­ny­mus Prae­to­ri­us der ers­te Kom­po­nist, des­sen „ein­zig­ar­ti­ges Oeu­vre“ (156) Beck­mann aus­führ­lich vor- und dar­stellt. Denn von ihm ist „das kom­plet­te orga­nis­ti­sche Reper­torie als Gesamt­werk“ mit ein­zel­nen, in sich jeweils geschlos­se­nen Zyklen über­lie­fert: Magni­fi­cats, Hym­nen und Kyri­en. Hier zeigt sich Beck­mann dann auch, etwa in der Ana­ly­se der Magni­fi­cat­zy­klen, als fein­sin­ni­ger und sach­lich aus­ge­spro­chen auf Kor­rekt­heit bedach­ter Wis­sen­schaft­ler – frei­lich ohne beson­de­re sprach­li­che Ele­ganz. Über­haupt ist das vom Ver­lag schon als „Stan­dard­werk“ geprie­se­ne Buch – viel Kon­kur­renz hat es aller­dings auch nicht – eine aus­ge­spro­chen tro­cke­ne Lek­tü­re – noch ein Stück sprö­der als der auch nicht gera­de über­mä­ßig sinn­li­che Gegen­stand der Unter­su­chung.
Grund­sätz­lich lässt sich schon bei den ers­ten Ana­ly­sen fest­stel­len: Beck­mann hat vor allem die for­ma­le Gestal­tung und ihre Ver­läu­fe sowie die pro­to-moti­vi­sche Arbeit im Blick. Sobald er frei­lich das Feld der unmit­tel­ba­ren Ana­ly­se ver­lässt, hagelt es Kon­junk­ti­ve – im all­ge­mei­nen ist Beck­mann näm­lich aus­ge­spro­chen vor­sich­tig und zurück­hal­tend, was Deu­tun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen angeht, die nicht direkt auf Aus­sa­gen zeit­ge­nös­si­scher (was bei ihm, gera­de was Figu­ra­tio­nen und kon­tra­punk­ti­sche Tech­ni­ken bzw. deren Ter­mi­ni angeht, durch­aus ein Zeit­raum von zwei­hun­dert Jah­ren sein kann) Quel­len zurück­ge­hen.
Das ergibt dann eine Fül­le rich­ti­ger und auf­schluss­rei­cher Beob­ach­tun­gen und Erkennt­nis­se, etwa aus der vor­treff­li­chen Ana­ly­se der 3 Ver­sus des Magni­fi­cat Pri­mi Toni des Hie­ro­ny­mus Prae­to­ri­us aus des­sen Zyklus der acht Magni­fi­cat-Ver­to­nun­gen, die schon Wil­li Apel zu Recht als „Auf­takt der nord­deut­schen Orgel­mu­sik […], in dem sich die gan­ze Pracht und Grö­ße die­ser Kunst in bedeut­sa­mer Wei­se ankün­digt“, cha­rak­te­ri­sier­te. Klaus Beck­mann zeigt nun aller­dings recht deut­lich, dass das schon mehr als eine Ankün­di­gung zukünf­ti­ger Groß­ta­ten ist: Bei ihm ist mit Hie­ro­ny­mus Prae­to­ri­us der wich­tigs­te Schritt bereits getan, die ers­te Rea­li­sie­rung künst­le­ri­cher Äuße­rung schon gesche­hen. Aber die­ses Ergeb­nis muss der Leser schon selbst voll­zie­hen – da ist Beck­mann wie­der viel zu vor­sich­tig, so etwas exli­pi­zit zu äußern.
Anhand von Prae­to­ri­us‘ Wer­ken cha­rak­te­ri­siert er auch schon „Orgel­cho­ral und Choral­fan­ta­sie als instru­men­ta­le Kate­go­rien, die ins­be­son­de­re für die Orgel­mu­sik der Nord­deut­schen Schu­le spe­zi­fisch sind“ (195). Zwar lässt sich der Tas­ten­satz Prae­to­ri­us‘ (und sei­nes Zeit­ge­nos­sen Johann Stef­fens in Lüne­burg) durch­aus noch als „vokal­af­fin“ beschrei­ben, doch nicht nur die Ana­ly­se der Satz- und Form­struk­tu­ren, auch die Unter­su­chung der ver­wen­de­ten Figu­ren erlau­ben es Beck­mann, von einer orgel­spe­zi­fi­schen Fort­ent­wick­lung zu spre­chen. Dane­ben betont er nicht nur die Stan­dar­di­sie­rung der for­ma­len Abläu­fe, die sich hier bereits zeigt, son­dern vor allem den geschlos­se­nen Opus-Cha­rak­ters der drei Zyklen. Dar­in ist nicht nur für ihn ein ein­deu­ti­ges Zei­chen der Reper­toire-Schaf­fung für den got­tes­dienst­li­chen Gebrauch zu sehen.
Den Unter­su­chun­gen der Ham­bur­ger Orgel­kunst folgt ein kur­zer Besuch in Dan­zig, um die Dan­zi­ger Tabu­la­tur wenigs­tens zu erwäh­nen. Dar­auf geht es wei­ter nach Lüne­burg, wo Johann Stef­fens leb­te und arbei­te­te. Bei der Unter­su­chung von Stef­fens‘ Choral­fan­ta­sien zeigt sich, dass die anhand der Kom­po­si­tio­nen von Prae­to­ri­us ent­wi­ckel­ten Begrif­fe „Orgel­cho­ral“ und „Choral­fan­ta­sie“ trag­fä­hig genug sind, um auch Stef­fens‘ For­men zu beschrei­ben.
Dem folgt noch einen kur­zer Abste­cher nach Cel­le – die dort ent­stan­de­ne Orgel­ta­bu­la­tur von 1601 ist der Grund dafür –, um mit Braun­schweig-Wol­fen­büt­tel, wo Micha­el Prae­to­ri­us resi­dier­te, die Rei­se vor­erst schon wie­der zu been­den. Den Abschluss bil­det der Ver­such eini­ger Über­le­gun­gen zur „His­to­ri­schen Spiel­wei­se“. Aber die­se sehr kur­zen, knapp gefass­ten Hin­wei­se zur grund­le­gen­den Pro­ble­ma­tik jeder his­to­risch infor­mier­ten Auf­füh­rungs­pra­xis bie­ten kaum mehr als ein kom­men­tier­tes Lite­ra­tur­ver­zeich­nis – und haben im Zusam­men­hang die­ses ers­ten Teils auch kei­nen rech­ten Platz.
Schon die­se arg ver­kür­zen­de Zusam­men­fas­sung zeigt, dass in den ers­ten Jah­ren der Nord­deut­schen Orgel­schu­le im Grun­de kaum von einer Schu­le gespro­chen wer­den kann. Das liegt vor allem an dem weni­gen Mate­ri­al, das über­lie­fert ist und dem­entspre­chend den weni­gen Ver­bin­dun­gen unter­ein­an­der.
Beck­mann bemüht aller­dings immer wie­der die beson­de­re Beto­nung der Eigen­stän­dig­keit der hier begin­nen­den Nord­deut­schen Orgel­schu­le, wie sie sich vor allem in Hie­ro­ny­mus Prae­to­ri­us und Johann Stef­fens mani­fes­tiert. In der Tat ist ja die frü­her gern ange­nom­me­ne Abhän­gig­keit von Jan Pie­ter­zoon Sweelinck kaum und auch nur mit schwa­chen Indi­zi­en zu bele­gen: „Dem­ge­gen­über bedarf die deut­sche Wur­zel einer wahr­heits­ge­treu­en Auf­wer­tung.“ (262) Der Auf­ar­bei­tung die­ser älte­ren musik­wis­sen­schaft­li­chen Rezep­ti­on hat Beck­mann viel Raum gege­ben. Aber genau die­se „vor­der­grün­di­ge Denk­wei­se“, die Beck­mann der älte­ren For­schung vor­wirft, fin­det dann doch – zumin­dest in klei­nen Dosen – ihren Nie­der­schlag auch in sei­ner eige­nen Arbeit – wenn er etwa behaup­tet: „Es liegt nahe anzu­neh­men, dass Johann Stef­fens und Hie­ro­ny­mus Prae­to­ri­us […] eine gute nach­bar­schaft­lich-kol­le­gia­le Bezie­hung gepflegt haben, wozu auch der Aus­tausch von Kom­po­si­tio­nen gehört haben dürf­te. Eine Rei­he von Über­ein­stim­mun­gen […] erhär­tet jeden­falls die­se Ver­mu­tung zur Gewis­se­heit.“ Sol­che Schlüs­se sind letzt­lich genau­so gefähr­lich wie die Argu­men­ta­ti­on mit einem his­to­ri­schen „Wahr­heits­wert“. Schließ­lich weist Beck­mann selbst oft genug dar­auf hin, wie ent­schei­dend sich das Bild durch neue oder lan­ge Zeit ver­nach­läs­sig­te Quel­len ver­än­dern kann.
Doch das betrifft nur weni­ge Stel­len sei­ner Aus­füh­run­gen. Was dage­gen schwe­rer ins Gewicht fällt, ist die Tat­sa­che, dass es Beck­mann in die­sem ers­ten Teil sei­ner Unter­su­chung kaum gelingt, ange­nom­me­ne oder tat­säch­li­che his­to­ri­sche Ent­wick­lun­gen in ihrem Ver­laufs­cha­rak­ter dar­zu­stel­len: Zu sehr sind das (noch) lau­ter ein­zel­ne Wis­sens­bro­cken. Aber noch besteht ja Hoff­nung, denn dies ist ja aus­drück­lich der ers­te Teil einer grö­ße­ren Unter­su­chung. Und der Haupt­teil sei­nes The­mas, die Hoch­pha­se der Nord­deut­schen Schu­le, steht eben noch aus. Die­ses Man­ko kann also durch­aus noch dem For­schungs­ge­gen­stand, einer Schu­le im Ent­ste­hen, geschul­det sein – wobei sich dann doch die Fra­ge stellt, ob die­se arg künst­li­che Tren­nung in „Grün­der­zeit“ und Hoch­pha­se wirk­lich sinn­voll ist.
Über­haupt haf­tet dem gan­zen Band an eini­gen Stel­len etwas unfer­ti­ges und undurch­dach­tes an. Nur ein Bei­spiel: Gewiss wird hier ein hoch­gra­dig spe­zi­el­les The­ma abge­han­delt, die Idee eines Glos­sars ist also durch­aus hilf­reich – aber dort dann „Orgel“ oder „Pedal“ in zwei Sät­zen erklä­ren zu wol­len, mutet doch befremd­lich an.
Schließ­lich hät­te man mit dem hier aus­ge­brei­te­ten Wis­sen eine wun­der­ba­re Geschich­te der Nord­deut­schen Orgel­schu­le – oder zumin­dest ihrer Anfän­ge – schrei­ben kön­nen. Aber das hat Klaus Beck­mann lei­der kaum getan. Es ist weni­ger ein Lese­buch, son­dern viel mehr eine Doku­men­ta­ti­on gewor­den – vor allem aber ein instruk­ti­ves und mate­ri­al­rei­ches Quel­len­le­se- und ‑fin­de­buch.
Klaus Beck­mann: Die Nord­deut­sche Schu­le. Orgel­mu­sik im pro­tes­tan­ti­schen Nord­deutsch­land zwi­schen 1517 und 1755. Teil I: Die Zeit der Grün­der­vä­ter. 1517–1629. Mainz u.a.: Schott 2005. 312 Sei­ten. 59,95 Euro.
(erschie­nen in „die ton­kunst”, jg. 1 (2007), heft 3, sei­te 310–314)

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