Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.
— Gustav Mahler, in Variation eines Zitats von Thomas Morus
Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.
— Gustav Mahler, in Variation eines Zitats von Thomas Morus
Bevor ich ganz in die Weihnachtsmusik abtauche, noch eine der besten Chormusiken überhaupt: Gustav Mahlers “Ich bin der Welt abhanden gekommen” im großartigen Arrangement von Clytus Gottwald (hier gesungen vom österreichischen Chorus sine nomine)
Mahlers 9. Symphonie, in einer Aufnahme des London Symphony Orchestra unter Valery Gergiev — besonders der dritte Satz ist gelungen:
Weil heute Sonntag ist, ein besonderes (langes) Schmankerl: Mahlers 9. Symphonie mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester unter Claudio Abbado:
„Wir genießen die himmlischen Freuden“ — das Motto für seine Interpretation scheint der Dirigent Peter Hirsch direkt aus dem Schlusssatz der vierten Sinfonie von Gustav Mahler genommen zu haben. Damit endete er das dritte Sinfoniekonzert im Staatstheater – und damit triumphierten er und das Philharmonische Staatsorchester. Anfangs, bei Leos Janáceks Orchester-Ballade „Des Spielmanns Kind“, reagierte das Mainzer Publikum noch sehr zurückhaltend. Nicht ganz ohne Grund, denn das blieb wirklich noch ziemlich blass. Gefallen hatten auch Alban Bergs „Drei Bruckstücke“ aus dessen Oper Wozzeck nicht – obwohl Hirsch und die Sopranistin Marlene Mild den grausigen Schrecken dieser Musik sehr überlegt und gekonnt Gestalt werden lassen. Aber ob das Publikum dann so eine Mahler-Sinfonie erwartet hatte? Denn Hirsch ging einen eigenen, sehr gefährlichen Weg: Er radikalisierte die 1901 uraufgeführte Sinfonie total – zu einer eminent modernen Musik.
Der in dieser Hinsicht durchaus extremistische Dirigent änderte auch sein Auftreten vollkommen: Er schwebt fast vor dem Orchester, der Taktschlag ist kaum noch zu erkennen, für jeden Klang formt er eine eigene Geste, ja fast eine eigene Erscheinung. Permanent verwandelt er sich vom imposanten Großmeister und Dompteur zum scheuen Kitz, vom steifen Zelebranten zum wild fuchtelnden Derwisch: Und jeder Klang, jede Phrase klingt dann auch ganz eigen. Diese Sinfonie ist ein einziges Fest der Ambivalenzen: Hirsch lässt sie im Zustand der permanenten Störung spielen. Ruhe und Ordnung, oder auch nur so etwas wie Gleichgewicht, gibt es hier nicht. Oder höchstens ganz kurzzeitig. Leicht geht hier nichts, Verzögerungen und Stolpern werden zur geplanten Normalbewegung.
Und doch ist das Philharmonische Orchester immer ganz bei sich: Sein durchweg sehr klarer, schlanker Klang wird dann im zweiten Satz etwa wunderbar hohl. Und vor allem ist das Orchester in der Lage, die irrsinnigen Spannungen, die Hirsch fordert, wirklich auszuhalten. Er zerdehnt die Musik gerne bis an die Schmerzgrenze, forciert Brüche bis kurz vor das Reißen – und das immer wieder und wieder. Ein unermesslich riskantes Spiel ist das: Schafft er es, die schweren Zentrifugalkräfte noch im Schach zu halten? Oder fliegt ihm gleich alles um die Ohren? Man erwartet die Katastrophe fast in jedem Takt, nach jeder Phrase rechnet man mit dem Chaos – und jedes Mal wird man erneut enttäuscht. Oder eben begeistert: Selbst im unendlich quälend langsamen dritten Satz wird die Spannung nahezu unerträglich ausgeweitet. Doch alles hält – auch dank Marlene Mild, die mit unschuldig-klarem Ton fast überdeutlich wirkt. In der Kombination ist das eine nahezu absurde Energie, die Hirsch aus der Sinfonie entwickelt. Und damit hat der Dirigent fast geschafft, dass die Schlusszeilen wahr werden: „Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden, die unserer verglichen kann werden.“
(geschrieben für die Mainzer Rhein-Zeitung.)
Gellend meckern die Klarinetten, von sanft schwingenden Flöten gleich behutsam beruhig. In der Tiefe brummeln die Fagotte und im Hintergrund schrubbt der Kontrabass dazu. Die Oboen wieseln derweil elegant über Hoch und Tief, während die Hörner unaufgeregt zwischen druckvollem Schmettern und gelassenen Kantilenen wechseln.
Ja, es ist eine Menge los, wenn so ein Bläserdezett ein Konzert gibt. Auch wenn, wie beim dritten Kammerkonzert in Kleinen Haus des Staatstheaters, manchmal nur neun oder acht statt der zehn Holz- und Blechbläser aus dem Philharmonischen Orchester im Einsatz sind. Dafür haben sie aber auch nicht nur artfremde Unterstützung durch den Kontrabass – der gehört ja quasi dazu, auch wenn niemand ihn mitzählt. Sondern sie haben für ihr ausgewähltes Publikum auch hochkarätige Unterstützung dabei. Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt setzt sich für das Philharmonische Bläserdezett am Ende ihrer Mainzer Zeit noch einmal an den Flügel. Mit den „Variations sur un thème plaisant“ von Jean Françaix tut sie das für eine angenehme Komposition, bei der nicht nur das Thema gefällt. Gemeinsam mit dem Philharmonischen Bläserdezett lässt sie die neoklassizistischen Variationen immer wieder charmant changieren zwischen Heiterkeit und Nachdenklichkeit. Bläser und Pianistin spielen das mit viel Esprit, immer locker, genau und vor allem ausgesprochen inspiriert.
Als zweite Solistin hatte das Ensemble die junge Sopranistin Alexandra Samouilidou verpflichtet. Die sang die Fünf frühen Lieder Gustav Mahlers – in einer auch wieder aus Mainz stammenden Bearbeitung für Bläserdezett. Ob die wirklich besser ist als die Orchestrierung von Luciano Berio sei einmal dahingestellt. Im Kleinen Haus ist jedenfalls ein Genuss. Das ist sowohl ein Verdienst der klar artikulierenden Sängerin, die sich eng in den Bläserklang integriert, als auch eben dieser zehn Bläser, die das dicht gewebte Arrangement sehr plastisch ausformen.
Die hatten ihr Hauptwerk und ein echtes Heimspiel aber noch vor sich: Die Suite aus Smetanas Oper „Die verkaufte Braut“, für die das Dezett zur Harmoniemusik schrumpfte. Nun waren sie zwar nur noch zu acht (plus dem einsamen Kontrabass), aber immer noch gewitzt und spielfreudig. Die sichtliche und vor allem hörbare Freude, diese Oper – die ja auch auf dem Spielplan des Großen Hauses stand – mal ganz allein, ohne störende Sänger, Streicher, Dirigenten und den ganzen Kram auf der Bühne in Angriff zu nehmen, zog sich sowohl durch die Tanzstücke als auch die Duette und Ensembles. Andreas Tarkmanns Bearbeitung bietet auch viele reizvolle Möglichkeiten der Entfaltung für die Harmoniemusik – und macht dieser Besetzung, eigentlich vor allem eine Sache des späten 18. Jahrhunderts, auch tscheschiche Nationaloper des späteren 19. Jahrhunderts zu eigen. Und die wiederum klang beim Philharmonischen Bläserdezett so frisch und unverbraucht, als wäre sie erst vor einigen Wochen komponiert worden und nicht schon 155 Jahre alt.
(geschrieben für die mainzer rhein-zeitung.)
Von Mozart zu Šenderovas, dann noch einmal von Mahler zu Arensky (zurück ins tiefere 19. Jahrhundert): Das Konzert in der Villa Musica mit den Dozenten Kalle Randalu und David Geringas sowie einer Menge Stipendiaten findet keine Ruhe:
Größere Gegensätze sind kaum denkbar: Einerseits stehen Mozart und Mahler auf dem Programm. So hat die Villa Musica ihr Stipendiatenkonzert auch betitelt. Aber das reicht noch nicht für ein Konzert. Also kommen noch zwei Werke von Anatolijus Šenderovas und Anton Arensky dazu. Zwei halb oder gar nicht bekannte Kompositionen, die dann aber wesentlich spannender und interessanter waren als der Rest.
Denn Mozarts Klavierquartett in Es-Dur schien hier eher belanglos und als brav absolvierte Pflichtübung. Mahlers Quartettsatz immerhin kam breit ausgespielt und kraftvoll entschlossen mit großem Gestus daher – eindeutig als ein uneingelöstes Versprechen: Was hätte Gustav Mahler nicht auch für die Kammermusik leisten können, wenn er sich nicht auf orchestrale Großwerke beschränkt hätte. Das kurze Werk des jugendlichen Genies ist eine einzige Vorahnung auf Späteres. Und genau so, mit dem Wissen der späteren Entwicklung des Komponisten, spielten die die Stipendiaten um Kalle Randalu die einzige erhaltene Kammermusik Mahlers auch.
Im a‑Moll-Quartett des russischen Komponisten Anton Arensky läuft das Denken in die entgegengesetzte Richtung: In die Vergangenheit. Denn dieses Streichquartett in der unüblichen Besetzung mit Violine, Bratsche und zwei Celli ist von Arensky als Totenklage auf seinen Freund Tschaikowsky komponiert. Virtuos und weit ausholend beginnt es, spieltechnisch anspruchsvoll bleibt es auch in den Variationen über Thema von Tschaikowsky – ein berührender Satz, gründlich durchgearbeitet und getragen von der Dunkelheit des Abschiedes. Die drei Stipendiaten und Dozent David Geringas am Cello spielen das gleichermaßen wuchtig und athmosphärisch, folgen den elegischen Erinnerungen mit viel Klangsinn und Gespür für die machmal schmerzvolle, manchmal wehmütige und manchmal auch etwas verträumte Musik.
Athmosphärische und stimmungsvolle Klänge bietet auchdas zweite Klaviertrio des Litauers Anatolijus Šenderovas. 1984 komponiert, wie Arenskys Quartett in memoriam eines Freundes geschrieben, bietet es in moderne Tonsprache eine breite Ausdruckspalette. Und jungen Musiker widmen sich dem mit viel Hingabe und Konzentration und können die volle Vielfalt dieser Musik eindringlich beschwören. So entsteht, von den ersten Flageoletts als Bild der fahle Wirklichkeit über weite Kantilenen und harsch-dramatische Einbrüchen, aus dem sprachlosen Raum der Trauer und der Erinnerung eine echte Seelenmusik. Frei von formalen Zwängen, ganz dem Ausdruck verschrieben, setzt Senderovas der schalen Realität die mannigfaltigen Möglichkeiten der Kunst entgegen. Vielfalt ist eben immer wieder ein großer Gewinn. Und wenn sie nur dazu führt, unbekannte Musik zu entdecken.
(geschrieben für die Mainzer Rhein-Zeitung.)
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