Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Serien-Wissen

Das (amerikanis­che) TV-Serien ger­ade der let­zte kul­turelle Schrei sind und so ziem­lich alle anderne Kün­ste zumin­d­est in Bezug auf die Auf­gabe der Welt­deu­tung und ‑erk­lärung abgelöst haben/ablösen, dürfte ja inzwis­chen jed­er mit­bekom­men haben, spätestens seit auch die klas­sis­chen deutschen Feuil­letons darüber schreiben.

Beson­ders viel ern­sthafte Lit­er­atur zu diesen For­mat­en gibt es in Deutsch­land bish­er aber nicht. Der diaphanes-Ver­lag hat jet­zt eine kleine Rei­he begonnen, die dem abhelfen will: die “book­lets”.

Zwei der jew­eils um die hun­dert Seit­en (bei großzügigem Satz) starken Büch­lein habe ich jet­zt gele­sen: Simon Rothöh­lers (der auch die Her­aus­gabe der Rei­he ver­ant­wortet) Über­legun­gen zu “The West Wing” und Diedrich Diederich­sens Aus­führun­gen zu “The Sopra­nos” — das erste, weil mich “West Wing” ziem­lich begeis­tert und das zweite, weil mich Diederich­sen ziem­lich begeis­tert …

Das sind auch ganz unter­schiedliche Texte. Der Essay — viel mehr ist es ja nicht — von Rothöh­ler zeigt vor allem, wie “West Wing” als alter­na­tive zei­this­torische (oder auch poli­tis­che) Erzäh­lung in Konkur­renz zur Gegen­wart funk­tion­iert. Das war mir manch­mal etwas dünn und ander­er­seits oft etwas pauschal. Aber vielle­icht bin ich auch nicht der ide­ale Leser, weil ich die Serie (zu) gut kenne.

Inter­es­san­ter sind Diederich­sens Über­legun­gen zu den “Sopra­nos”. Das kann wiederum daran liegen, dass ich die nicht so gut kenne, weil ich die Serie nur ein­mal vor eini­gen Jahren gese­hen habe. Ander­er­seits merkt man aber dur­chaus den typ­is­chen Diederich­sen-Denk- und Schreib­stil, auf höherem reflex­iv­en und the­o­retis­chem, auch the­o­retisieren­dem Niveau. Und trotz der dur­chaus nicht zu ver­ach­t­en­den Abstrak­tion schien es mir beim Lesen detail­re­ich­er. Vor allem aber facetten­re­ich­er, weil er die “Sopra­nos” unter ver­schiede­nen Gesicht­spunk­ten analysiert und beschreibt: Qua­si (pop-)kulturgeschichtlich, den inter­textuellen Hin­weisen (den direk­ten Zitat­en zum Beispiel oder den Songs, die im Hin­ter­grund und im Abspann sowie in der Titelse­quenz laufen) nachge­hend; aber auch als Beschreibung/Kritik der amerikanis­chen Gesellschaft der Mit­telschicht; und dann aber auch wieder auf eher indi­vidu­eller Ebene, etwa in Bezug auf Liebes­beziehun­gen und Leben­sziele. Das — und das ist für mich (wie gesagt, es wird auch an mein­er stark unter­schiedlichen Ken­nt­nis der bei­den Serien liegen) ein deut­lich­er Unter­schied zu Roth­müller — ist sehr bere­ich­ernd und anre­gend, so dass die näch­ste Schau der Serie gle­ich mal wieder auf die Todo-Liste gewan­dert ist.

Den Schluss daraus möchte ich mal als Beispiel zitieren:

Die “Sopra­nos” — und mehr noch die spätere Serie “Break­ing Bad” — haben immer auch den Umstand artikuliert, dass Leute, die eigentlich nichts anderes wollen als ein Häuschen in der Sub­ur­bia, nicht anders über­leben kön­nen als durch Kap­i­talver­brechen. Und umgekehrt, dass diejeni­gen, die gewohn­heitsmäßig Kap­i­talver­brechen bege­hen, nicht anders leben wollen als der Rest der Mit­telk­lasse. Dies ist bei Arbeit­slosigkeit, Lohn­ab­bau, Dein­dus­tri­al­isierung, Prekarisierung nicht mehr möglich — daher muss man so leben, wie die Mafia schon lange lebt. Das alltägliche Leben fühlt sich eh schon die ganze Zeit an wie ein Kampf gegen das Gesetz. Das einzige, was dieses Leben noch über­strahlt, gele­gentlich über seine hündis­che Imma­nenz hin­ausweist, sind die Songs, die alle ken­nen, die ihnen fort­ge­set­zt zuge­ord­net wer­den: große Songs, vertrot­telte Songs, klas­sis­che Bal­laden, Madri­gale, Rap, Rock’n’Roll. […] Die Gegenkul­tur und ihre Über­reste, aus der die Songs kom­men, die das Leben in ein­er Ver­brechen-um-zu-Über­leben-Mit­telk­lasse mit Trans­parenz ausstat­ten, müssen natür­lich unter ihrer Last zusam­men­brechen. Am trau­rig­sten und zugle­ich beson­ders evi­dent wird das, wenn ein Song so direkt ein­er Per­son zuge­ord­net wird, dass das Lacan’sche Dik­tum, wonach das Sub­jekt immer im Futur II existiert, sich nicht nur vol­len­det, son­dern dieses Futur II, der auf eine Zukun­ft, die Ver­gan­gen­heit gewor­den ist, gerichtete Entwurf, von dem Entwer­fend­en wieder­erkan­nt wird.(98f.)

Als drittes ist übri­gens zum Start der book­let-Rei­he noch ein Text von Daniel Eschköt­ter zu “The Wire” erschienen. Aber damit — also mit “The Wire” — kann ich bish­er gar nichts anfan­gen.

Simon Rothöh­ler: The West Wing. Zürich: diaphanes 2012 (book­let). 96 Seit­en. 10 Euro. ISBN 9783037342121.
Diedrich Diederich­sen: The Sopra­nos. Zürich: diaphanes 2012 (book­let). 112 Seit­en. 10 Euro. ISBN 9783037342114.

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  1. Es ist krass wie stark sich die Sprache in den let­zten Jahrzehn­ten durch Serien aus den USA und Co. verän­dert hat. So viele Sätze, die heute selb­stver­ständlich sind, sind so erst ent­standen und beim genauen Anschauen auch heute noch eigentlich total sinn­los und undeutsch.

    Würde mich über eine genaue Auf­stel­lung solch­er Sätze freuen. Vielle­icht ja hier. ;)

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