Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: essay

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Ins Netz gegangen (25.9.)

Ins Netz gegan­gen am 25.9.:

Aus-Lese #46

Hans Jür­gen von der Wen­se: Über das Ste­hen. Hrsg. von Rei­ner Nie­hoff. Ber­lin: blau­wer­ke 2014 (split­ter 02). 76 Sei­ten. ISBN 978−3−945002−01−8.
Hans Jür­gen von der Wen­se: Die Schau­kel. Her­aus­ge­ge­ben und mit einem Vor­wort ver­se­hen von Rei­ner Nie­hoff. Mit einer Lek­tü­re von Val­eska Ber­ton­ci­ni. Ber­lin: blau­wer­ke 2016 (split­ter 08). 52 Sei­ten. ISBN 9783945002087.

wense, die schaukel (cover)Das sind zwei (sehr) klei­ne Tex­te – Essays wohl am bes­ten zu nen­nen – die sich auf den ers­ten Blick ganz unter­schied­li­chen The­men wid­men: Über das Ste­hen wid­met sich der Sta­tik (des Men­schen), Die Schau­kel dage­gen einem Ding, das wie kaum ein ande­res Bewe­gung vergegenständlicht.

Natür­lich stimmt der Gegen­satz bei Hans Jür­gen von der Wen­se so eigent­lich gar nicht. Das merkt man schon, wenn man den ers­ten Satz in Über das Ste­hen liest: 

Ste­hen ist eine bewe­gung; es ist schwan­ken und wan­ken, um sich im gleich­ge­wich­te zu hal­ten, auf­recht.. Ste­hen ist eine lage. (13)

Dem folgt ein manch­mal mei­nes Erach­tens etwas aus­fa­sern­der Essay über das Ste­hen, der mich vor allem in sei­nen wel­t­ety­mo­lo­gi­schen Abschnit­ten nicht immer glei­cher­ma­ßen fas­zi­nie­ren konn­te. Trotz­dem ein schö­nes „Gro­schen­heft des Welt­geis­tes“ – so nennt der klei­ne, rüh­ri­ge blau­wer­ke-Ver­lag sei­ne split­ter-Rei­he, die im klei­nen Notiz­heft­for­mat klei­ne Tex­te mit viel zusätz­li­chem (Archiv-)Material vor­bild­lich ediert und zu wohl­fei­len Prei­sen (näm­lich jeweils 1 Euro) zugäng­lich macht. Auch die­se bei­den Wen­se-Essays haben jeweils ein ein­füh­ren­des Vor­wort von Rei­ner Nie­hoff, das unter ande­rem über Ent­ste­hungs­zu­sam­men­hän­ge und Publi­ka­ti­ons- bzw. Über­lie­fe­rungs­ge­schich­te berich­tet, und ein ein­ord­nen­des, erklä­ren­des „Nach­wort“ von Val­eska Ber­ton­ci­ni, das als „Lek­tü­re“ fungiert.

Das gera­de erst erschie­nen Heft Die Schau­kel bie­tet einen recht kur­zen Wen­se-Text von weni­gen Sei­ten, der sich – qua­si kul­tur­ge­schicht­lich avant la lett­re – mit dem Gegen­stand, dem Ding „Schau­kel“ und vor allem sei­nen Bedeu­tun­gen und Impli­ka­tio­nen für den Men­schen (ob er nun schau­kelt, anstößt oder zuschaut …) befasst. Auch eine sehr ver­gnüg­li­che, klu­ge und berei­chern­de Lek­tü­re. Denn an der Schau­kel fas­zi­niert Wen­se offen­bar die Gleich­zei­tig­keit bzw. ding­li­che Iden­ti­tät von Bewe­gung und Ruhe, von der Mög­lich­keit, bei sich selbst zu sein und zugleich über sich hin­aus zu gelangen: 

Schau­keln ist Mut-Wil­le. Es ist Ent­fer­nen, Abwei­chen von der Mit­te, dem Ruhe-Punk­te, Ab-Fall. (23)

Micha­el Starcke: Das Meer ist ein alter Bekann­ter, der war­ten kann. Net­te­tal: Elif 2016. 74 Sei­ten. ISBN 9783981750928.

starcke, das meer ist ein alter bekannter, der warten kann (cover)

Das Meer ist ein alter Bekann­ter, der war­ten kann ist ein inter­es­san­ter Gedicht­band. Nicht nur des schö­nen Titels wegen. Und auch nicht nur der gra­phi­schen Aus­stat­tung wegen. Son­dern vor allem wegen der schöp­fe­ri­schen Kraft, die Starcke aus letzt­lich einem The­man, einem Gegen­stand ent­wi­ckelt: Dem Meer. Denn dar­um geht es in fast allen Gedich­ten. Und trotz der mono­the­ma­ti­schen Anla­ge des Ban­des – neben dem Meer spie­len Sand, Wol­ken und der hohe Baum vor dem Haus noch eine gewis­se Rol­le –, der erstaun­lich engen Fixie­rung auf einen Ort und eine Posi­ti­on des Betrach­ters und Schrei­ben­den ist das alles ande­re als lang­wei­lig. Eine Rol­le spielt dabei sicher­lich die ver­ge­hen­de Zeit, deren Lauf man beim Lesen des Ban­des gewis­ser­ma­ßen nach­voll­zie­hend mit­er­le­ben kann. 

Man ist dabei, sozu­sa­gen, allei­ne mit dem Meer. Men­schen kom­men näm­lich recht sel­ten (wenn über­haupt vor). Das Meer selbst ist in die­sen Gedich­ten vor allem als insta­bi­le Sta­bi­li­tät, als dau­er­haf­ter Wan­del, als vergehende/​bewegte/​bewegende/​fortschreitende Zeit prä­sent. Auch wenn oft ein recht pro­sa­ischer Duk­tus vor­herrscht, kaum Sprach­spie­le oder aus­ge­fal­le­ne, gesuch­te Bil­der zu ent­de­cken und ent­schlüs­seln sind, ist das den­noch gera­de in den Details oft sehr span­nend, in den klei­nen Abwei­chun­gen, den mini­ma­len Stö­run­gen und poe­ti­schen Signa­len (etwa bei der Wort­stel­lung, der Kom­ma­set­zung, der (unter­bro­che­nen) Rei­hung). Fast jedes Gedicht hat einen Moment, einen (Teil-)Satz, der beson­ders berührt, der beson­ders die Inten­si­tät (des Erle­bens vor allem) aus­strahlt. Als „weg­zeh­rung der erin­ne­rung“ (56) sind die Gedich­te aber immer auch ein Ver­such, die Ver­gäng­lich­keit festzuhalten. 

Vie­le die­ser Meer-Gedich­te funk­tio­nie­ren dabei wie ein „inne­res fern­glas“ (56): der Blick auf die Land­schaft der Küs­te (ich glau­be, das Wort „Küs­te“ kommt dabei gar nicht vor, nur Meer, Sand, Wol­ken und Him­mel als Ele­men­te des Über­gangs­raums) ermög­licht und för­dert den Blick nach innen, mit dem glei­chen Instru­men­ta­ri­um, das zugleich das gro­ße, wei­te Pan­ora­ma erfasst und das klei­ne, maß­geb­li­che Detail. Und obwohl es oft um Ver­gäng­lich­keit und Abschied geht, um Ort- und Hei­mat­lo­sig­keit, bleibt den Gedich­ten eine auf­fäl­li­ge Leich­tig­keit eigen: Die Spra­che bleibt locker, die Bil­der beweg­lich, das Syn­tax­ge­fü­ge fle­xi­bel, die Begrif­fe immer kon­kret: „sie [d.i. die geschich­ten vom meer] lie­ben das offe­ne /​im ver­bor­ge­nen.“ (47) heißt es ein­mal – und damit ist Metho­de Starckes in Das Meer ist ein alter Bekann­ter, der war­ten kann als Mot­to ziem­lich genau beschrieben.

viel­leicht, dass sich
unterm meer ein
wei­te­res meer versteckt
wie erin­ne­run­gen im
sand der gedan­ken, die,
für geheim­nis­se offen,
momen­te von stil­le verkörpern.
an sei­nen geräu­schen, schluss­ver­se (72)

Juli Zeh: Unter­leu­ten. Mün­chen: Luch­ter­hand 2016. 508 Seiten. 

zeh, unterleuten (cover)

Juli Zehs Unter­leu­ten hält sich zwar hart­näch­kig auf der Best­sel­ler-Lis­te, ist aber eigent­lich ein eher lang­wei­li­ges, unbe­mer­kens­wer­tes Buch. Das ist rou­ti­niert erzählt und kann ent­spre­chend mit unbe­tei­lig­ter Neu­gier ohne nach­hal­ti­gen Ein­drcuk gele­sen wer­den. Vie­les in dem Plot – den ich jetzt nicht nach­er­zäh­le – ist ein­fach zu abseh­bar. Dazu kommt noch ein erzäh­le­ri­sches Pro­blem: Der Text wird mir per­ma­nent erho­be­nem Zei­ge­fin­ger erzählt, bei jeder Figur ist immer (und meist sofort) klar, was von ihr zu den­ken ist – das wird erzäh­le­rich über­deut­lich gemacht. Dazu eig­net sich der wech­seln­de erzäh­le­ri­sche­re Fokus der aukt­oria­len Erzäh­le­rin natür­lich beson­ders gut. Das Schluss­ka­pi­tel, in dem sie (bzw. eine ihrer Instan­zen) als Jour­na­lis­tin, die Unter­leu­ten recher­chiert hat, auf­tritt und die Fäden sehr unele­gant zum Ende führt, zeigt sehr schön die feh­len­de künstlerische/​poetische Ima­gi­na­ti­on der Autorin: Das ist so ziem­lich die bil­ligs­te Lösung, einen Schluss zu fin­den – und zugleich auch so über­aus unnö­tig … Ande­rer­seits hat mich die erzäh­le­ri­sche Anla­ge schnell genervt, weil das so deut­lich als die ein­fachs­te Mög­lich­keit erkenn­bar wir, alle Sei­ten, Posi­tio­nen und Betei­lig­ten des Kon­flikts in der Pseu­do-Tie­fe darzustellen. 

„[E]ine weit­rei­chen­de Welt­be­trach­tung, einen Gesell­schafts­ro­man mit einer bestechen­den Viel­falt lite­ra­ri­scher Ton­la­gen, vol­ler Esprit und Tra­gik, Iro­nie und Dras­tik“, die Klaus Zey­rin­ger im „Stan­dard“ beob­ach­tet hat, kann ich da beim bes­ten Wil­len nicht erken­nen. (Jörg Mage­nau hat die „Qua­li­tä­ten“ des Romans in der „Süd­deut­schen Zei­tung“ bes­ser und deut­li­cher gese­hen.) Letzt­lich bleibt Unter­leu­ten ein eher unspan­nen­der Dorf­kri­mi, der sich flott weg­liest, (mich) aber weder inhalt­lich noch künst­le­risch beson­ders berei­chern konn­te. Scha­de eigentlich.

Sophie Rey­er: :nach­kom­men nackt­kom­men. Wien: hoch­roth 2015. 34 Sei­ten. ISBN 9783902871664.

Auch :nach­kom­men nackt­kom­men ist wie­der so ein Zufalls­fund, bei dem ich dem Ver­lag – hoch­roth – ver­traut habe … Sophie Rey­ers Gedich­te sind knapp kon­zen­trier­te Kurz­zei­ler, die oft abgrün­dig leicht sind, aber immer sehr auf den Punkt gedacht und for­mu­liert sind – bezie­hungs­wei­se auf den Dop­pel­punkt als Gren­ze und Über­gang, der den Beginn aller Gedich­te zei­chen­haft mar­kiert. Immer wie­der fal­len mir die küh­nen, wil­den, ja gera­de­zu über­bor­den­den und über­schie­ßen­den Bil­der auf, die jeg­li­cher sprach­li­cher Öko­no­mie Hoh­ne spre­chen und die, so scheint es mir, manch­mal auch ein­fach nur um ihrer selbst wil­len da sind. Außer­dem scheint Rey­er eine gro­ße Freu­de am Spiel mit Asso­nan­zen und Alli­te­ra­tio­nen zu haben. Über­haupt ist viel­leicht das Spiel, der spie­le­ri­sche Umgang mit Spra­che und Ein­fäl­len trotz der The­men, die einen gewis­sen Hang zum Dun­keln auf­wei­sen, beson­ders bezeich­nend für ihre Lyrik. 

Man­ches wirkt in :nach­kom­men nackt­kom­men auch eher wie das spon­ta­ne Notat einer Idee, wie eine Ein­falls­skiz­ze im Notiz­buch der Autorin und noch nicht wie ein fer­ti­ges Gedicht. Zwei­zei­ler wie der auf S. 27 zum Beispiel: 

die kur­siv­schrift des kornfelds
son­nen strah­len stenographie

Inter­es­sant fand ich bei der Lek­tü­re auch, dass Takt und Rhyth­mus der Lyrik wie­der­holt (im Text selbst) anzi­tiert wer­den, durch die Tex­te aber nur sehr bedingt (wenn über­haupt) umge­setzt wer­den. Viel­leicht kommt daher auch der Ein­druck der Spon­ta­ni­tät, des augen­blick­li­chen Einfalls …

:nach­kom­men nackt­kom­men ist dabei ein typi­sches klei­nes hoch­roth-Bänd­chen – ich mag das ja, ich brau­che nicht immer gleich 80–100 Sei­ten Lyrik von einer Autorin, es rei­chen oft auch 20, 30 (klei­ne­re) Tex­te. Und die Kauf­hür­de ist auch nicht so hoch, wenn das nur 8 Euro statt 25 sind … Zudem sind die hoch­roth-Publi­ka­tio­nen eigent­lich immer schön gemacht, lie­be­voll und umsich­tig gestal­tet. Die hier ist die ers­te, bei der mir typo­gra­phi­sche Feh­ler auf­ge­fal­len sind – ein nach unten „fal­len­des“ l, das ich auf sechs Sei­ten ziem­lich wahl­los ver­streut gefun­den habe (aber wer weiß, viel­leicht ist das ja auch ein gehei­mes fea­ture der Tex­te, das sie auch ganz geschickt mit dem Para­text verbindet?).

Wolf von Kalck­reuth: schlum­mer­schwar­ze Näch­te. Gedich­te. Leip­zig: hoch­roth 2015. 26 Sei­ten. ISBN 978−3−902871−67−1.
Wolf Graf von Kalck­reuth: Gedich­te und Über­tra­gun­gen. Her­aus­ge­ge­ben von Hell­mut Kru­se. Hei­del­berg: Lam­bert Schnei­der 1962. 190 Seiten.

kalckreuth, gedichte (cover)Über die schma­le Aus­wahl beim fei­nen hoch­roth-Ver­lag bin ich eher zufäl­lig auf die Lyrik Wolf von Kalck­reuths gesto­ßen. Kalck­reuth ist gewis­ser­ma­ßen eine tra­gi­sche Figur: 1887 in eine Mili­tär- und Künst­ler­fa­mi­lie gebo­ren, setzt er sei­nem Leben bereits 1906 ein Ende. Bis dahin war er in der Schu­le, hat sein Abitur gemacht, ist etwas gereist und dann – trotz eigent­li­cher Nicht-Eig­nung – im Okto­ber 1906 auf eige­nen Wunsch ins Mili­tär ein­ge­tre­ten, wo er es kei­ne zehn Tage bis zu sei­nem Frei­tod aus­hielt. In die­ser kur­zen Lebens­zeit ent­stan­den aber nicht nur eige­ne Gedich­te, son­dern auch diver­se (wich­ti­ge) Über­set­zun­gen der Lyrik Ver­lai­nes und Bau­de­lai­res.

Erstaun­lich ist in sei­nen Gedich­ten immer wie­der die aus­ge­spro­chen siche­re (hand­werk­li­che) Sprach- und Form­be­herr­schung trotz des jun­gen Alters. Nicht immer und nicht alles ist wahn­sin­nig ori­gi­nell, vie­les ist sehr deut­lich einer spä­ten Spät­ro­man­tik ver­haf­tet, die aber durch die mal mehr, mal weni­ger zag­haf­ten Ein­flüs­se des Expres­sio­nis­mus inter­es­sant wird. Vie­le sei­ner Gedich­te pen­deln sich gewis­ser­ma­ßen in der Dia­lek­tik von Ver­fall und Sehn­sucht ein. Und aus ihnen spricht auch immer wie­der das Bewusst­sein um die eige­ne (Ver-)Spätung, um End­zeit, Unter­gang, vor allem aber Ster­bens­wunsch und Todes­sehn­sucht etc. – nicht ohne Grund spie­len die Däm­me­rung (und natür­lich die Nacht), der Abend und der Herbst eine gro­ße Rol­le in die­sen Gedichten.

Aber was mich wirk­lich am meis­ten fas­zi­niert hat, war doch die sorg­sa­me Fügung der Gedich­te, gera­de der Sonet­te, die nahe an per­fek­te Gedich­te her­an­rei­chen. Die hoch­roth-typisch sehr klei­ne Aus­wahl – 26 Sei­ten inkl. Nach­wort! – hat mich dann immer­hin neu­gie­rig gemacht und mich zu der deut­lich umfang­rei­che­ren Aus­wahl von 1962 grei­fen las­sen. Da fin­den sich natür­lich auch wie­der vie­le fas­zi­nie­ren­de Sonet­te, aber auch inter­es­san­te und anre­gen­de Gedich­te, eigent­lich ja Elo­gen, auf Napo­le­on, den Kalck­reuth wohl sehr bewun­der­te. Und schließ­lich ent­hält der Band auch noch eine umfang­rei­che Abtei­lung mit Über­set­zun­gen der Lyrik Ver­lai­nes und Bau­de­lai­res, bei­de auch wesent­li­che Vor­bil­der und Ein­flüs­se Kalck­reuths.

Das Leben eilt zum Zie­le wie eines Welt­stroms Flut
Die uns ins Meer ent­führt mit dunk­len Wogenmassen,
In schwin­del­haf­ter Hast, die nie ent­schlum­mernd ruht,
Bis wir das eig­ne Herz erken­nen und erfas­sen. (72)

Annet­te Pehnt: Hier kommt Michel­le. Ein Cam­pus­ro­man. Mün­chen: Piper 2012. 140 Sei­ten. ISBN 9783492300827.

pehnt, hier kommt michelle (cover)Eine net­te klei­ne Sati­re – das heißt, ein schar­fer und bis­si­ger Text, der das deut­sche Uni­ver­si­täts­sys­tem und ‑leben, ins­be­son­de­re aber die zeit­ge­nös­si­sche Stu­die­ren­den­ge­ne­ra­ti­on gekonnt auf­spießt. Nur not­dürf­tig fik­tio­na­li­siert, bekom­men so ziem­lich alle ihr Fett weg: Die Stu­die­ren­den, die Leh­ren­den vom aka­de­mi­schen „Unter­bau“ über den Mit­tel­bau bis zu den ver­trot­tel­ten Eme­ri­ti, von der Ver­wal­tung bis zur Pres­se und Poli­tik. Selbst die Haupt­fi­gur, Michel­le, ist so über­haupt nicht lie­bens­wert, son­dern – natür­lich als Zerr­bild – eher ein abschre­cken­des Bei­spiel der Ziel- und Ver­nunft­lo­sig­keit als ein Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bot für den Lesen. Sehr schön fand ich den erzäh­le­ri­schen Kunst­griff, dass sich die Erzäh­le­rin selbst mit ihrer eige­nen Stim­me wie­der­holt ein­mischt und sich und ihren (?) Text im Text selbst gleich mit­kom­men­tiert (auf die eher unwit­zi­ge Her­aus­ge­ber­fik­ti­on hät­te ich dafür ger­ne ver­zich­ten können).

Hier ist die Erzäh­le­rin. Sie reibt sich die Hän­de, weil sie die­ses harm­lo­se Mäd­chen mit gro­ben Stri­chen ent­wor­fen hat und sich jetzt schon, wo die Erfin­dung doch gera­de erst zu leben begon­nen hat, dar­auf freut, ihr Knüp­pel zwi­schen die Bei­ne zu wer­fen. (13)

Trotz eini­ger hand­werk­li­cher Män­gel wie etwa einem schlecht gear­bei­te­ten Zeit­sprung oder einer etwas unge­fü­gen Makro­struk­tur ist Hier kommt Michel­le ein­fach nett zu lesen, aber halt auch – der Umfang ver­rät es ja schon – recht dünn. Der Witz ist eben schnell ver­braucht, die Unter­hal­tung trägt auch nicht viel län­ger. Zum Glück hat Annet­te Pehnt das nicht über­mä­ßig aus­ge­walzt, denn viel mehr als die­sen klei­nen Text gibt die Grund­idee allei­ne wohl nicht her.

Das war auch eine wich­ti­ge Lek­ti­on: Nicht alles geht sie etwas an, es ist gut, all­zu frem­den oder schwie­ri­gen Zusam­men­hän­gen nicht auf den Grund zu gehen, man muss sich zurück­hal­ten und sich auf das beschrän­ken, was man kennt und kann, und das gilt auf jeden Fall auch für das Stu­di­um in Som­mer­stadt, das Michel­le nun mit neu­em Élan, aber auch einer Rei­fe angeht, die sie schon am zwei­ten Tag befä­higt, zum Jung­ang­lis­ten zu gehen und zu fra­gen, ob er sie brau­chen kann. (120)

außer­dem gelesen:

  • Phil­ipp Tin­gler: Juwe­len des Schick­sals. Kur­ze Pro­sa. Zürich: Kein und Aber 2005. 
  • Geor­ges Batail­le: Der gro­ße Zeh. Hrsg. & übers. von Val­eska Ber­ton­ci­ni. Ber­lin: blau­wer­ke 2015 (split­ter 01). 80 Seiten.
  • Rai­ner Hoff­mann: Abduk­tio­nen, Aberra­tio­nen I. Bern: edi­ti­on taber­na kri­ti­ka 2011. 57 Seiten.

Ins Netz gegangen (9.12.)

Ins Netz gegan­gen am 9.12.:

  • 30. Neo­hi­sto­flo­xi­kon oder Neue Flos­keln braucht das Land | Geschich­te wird gemacht – achim land­wehr wird grundsätzlich:

    Es ist eigent­lich immer an der Zeit, das eige­ne Den­ken über Ver­gan­gen­heit und Geschich­te mal etwas durch­zu­schüt­teln und auf den grund­sätz­li­chen Prüf­stand zu stellen. 

  • Who is afraid of jazz? | Jazz­Zei­tung – „Wer hät­te gedacht, dass ich sogar Bruck­ner ein­mal span­nen­der und fre­ne­ti­scher fin­den wür­de als neu­en Jazz!“
  • Essay: Schläf­rig gewor­den – DIE WELT – er ost­eu­ro­pa-his­to­ri­ker karl schlö­gel wider­spricht in der „welt“ den ver­fas­sern & unter­zeich­nern des auf­ru­fes „wie­der krieg in euro­pa?“ – mei­nes erach­tens mit wich­ti­gen argumenten:

    Denn in dem Auf­ruf ist neben vie­len All­ge­mein­plät­zen, die die Eigen­schaft haben, wahr zu sein, von erstaun­li­chen Din­gen die Rede. So lau­tet der ers­te Satz: „Nie­mand will Krieg“ – so als gäbe es noch gar kei­nen Krieg. Den gibt es aber. Rus­si­sche Trup­pen haben die Krim besetzt
    […] Aber­mals ist vom „Nach­barn Russ­land“ die Rede: Wie muss die Kar­te Euro­pas im Kopf derer aus­se­hen, die so etwas von sich geben oder mit ihrer Unter­schrift in Kauf neh­men! Pein­lich – und wahr­schein­lich in der Eile von den viel beschäf­tig­ten, ernst­haf­ten Unter­zeich­nern nicht zur Kennt­nis genom­men – die Behaup­tung, Russ­land sei seit dem Wie­ner Kon­gress Mit­ge­stal­ter der euro­päi­schen Staa­ten­welt. Das geht viel wei­ter zurück, wie auch Lai­en wis­sen, die schon von Peter dem Gro­ßen gehört haben. Und aus­ge­rech­net die Hei­li­ge Alli­anz zu zitie­ren, mit der die Tei­lung Polens zemen­tiert, die pol­ni­schen Auf­stän­de nie­der­ge­wor­fen und die 1848er-Revo­lu­ti­on bekämpft wor­den ist – das passt nicht gut zur Ernst­haf­tig­keit eines um den Dia­log bemüh­ten Unter­neh­mens. Vom Molo­tow-Rib­ben­trop-Pakt – eine zen­tra­le Erfah­rung aller Völ­ker „dazwi­schen“ und im 75. Jahr der Wie­der­kehr des Ver­tra­ges, der den Zwei­ten Welt­krieg mög­lich gemacht hat – ist im Text gar nicht die Rede, ein­fach zur Sei­te gescho­ben, „ver­drängt“.

  • Was bewegt Yvan Sagnet?: Hoff­nung der Skla­ven | ZEIT ONLINE -

    Arbei­ter aus dem Sudan, aus Bur­ki­na Faso, aus Mali, aus fast jedem Land Afri­kas. In dre­cki­gen Män­teln suchen sie vor den Müll­hau­fen nach Ver­wert­ba­rem. Es ist, als wür­de man durch einen düs­te­ren, apo­ka­lyp­ti­schen Roman von Cor­mac McCar­thy fah­ren. An den Feld­we­gen, die von den Land­stra­ßen abge­hen, ste­hen Pro­sti­tu­ier­te. Rumä­nin­nen und Bul­ga­rin­nen. So sieht es aus, das Herz der ita­lie­ni­schen Tomatenproduktion.

    – fritz schaap in der zeit über den ver­such des gewerk­schaf­ters yvan sagnet, die mise­ra­blen bedin­gun­gen der arbei­ter in ita­li­en, v.a. der ern­te­hel­fer, zu ver­bes­sern. der sagt u.a.

    „Der Käu­fer muss wis­sen: Wenn er in den Super­markt geht und ein Kilo­gramm ita­lie­ni­sche Toma­ten für acht­zig Cent kauft, dann wur­den die­se Toma­ten von mise­ra­bel ent­lohn­ten Arbei­tern geern­tet, die man ohne Wei­te­res als moder­ne Skla­ven bezeich­nen kann.“

  • Eine wich­ti­ge Infor­ma­ti­on der Ver­ei­nig­ten Geheim­diens­te – You­Tube – Bet­ter no Let­ter: Eine wich­ti­ge Infor­ma­ti­on der Ver­ei­nig­ten Geheim­diens­te (sie­he auch: The U.S.S.A. says: BETTER NO LETTER!)
  • Uni­on kri­ti­siert Rame­low-Wahl in Thü­rin­gen: Ver­lo­ge­ne Heul­su­sen | tages​schau​.de – wow, bei der ARD & der Tages­schau ist jemand genau­so ange­wi­dert vom Ver­hal­ten der CDU in Thü­rin­gen wie ich
  • For­schung: So will doch kei­ner arbei­ten! | ZEIT ONLINE – For­schung: So will doch kei­ner an Unis arbei­ten! – Die­ses Mal mit einer Historikerin
  • Zer­schla­gen, aber im Samm­lungs­kon­text erschließ­bar: In der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek wur­de über den Ankauf des Schott-Archivs infor­miert | nmz – neue musik­zei­tung – Zer­schla­gen, aber im Samm­lungs­kon­text erschließ­bar: Die Bestän­de des Archivs des Schott-Ver­la­ges tei­len sich künf­tig auf die Staats­bi­blio­the­ken Mün­chen und Ber­lin sowie sechs For­schungs­ein­rich­tun­gen auf. Über den Kauf­preis wur­de Still­schwei­gen vereinbart.
  • So ent­stand der Mythos der „Trüm­mer­frau­en“ – Poli­tik – Süddeutsche.de – die sz lässt sich von der his­to­ri­ke­rin leo­nie tre­ber noch ein­mal erklä­ren, woher die „trüm­mer­frau­en“ kommen:

    Es wur­de ein äußerst posi­ti­ves Bild die­ser Frau­en ver­mit­telt: Dass sie sich frei­wil­lig und mit Freu­de in die har­te Arbeit stür­zen und den Schutt weg­räu­men, um den Wie­der­auf­bau vor­an­zu­trei­ben. Die PR war auch enorm wich­tig, weil die Trüm­mer­räu­mer – wie zuvor erwähnt – stig­ma­ti­siert waren und sol­che schwe­ren Jobs bis dahin eigent­lich nicht von Frau­en erle­digt wer­den soll­ten. Des­halb wur­de das Bild der „Trüm­mer­frau“ posi­tiv auf­ge­la­den mit den Ste­reo­ty­pen, die wir noch heu­te mit dem Begriff verbinden.

  • Main­zer Schott-Musik­ver­lag: His­to­ri­sches Archiv wird öffent­lich zugäng­lich – Rhein­land-Pfalz | SWR​.de – „opti­ma­le Erschlie­ßung“ = Zer­stö­rung des Zusam­men­hangs. Schott-Musik­ver­lag: Archiv wird öffent­lich zugänglich
  • Hat die Jugend kei­nen Ehr­geiz mehr? | Blog Maga­zin – phil­ipp tin­gler über die gegen­wart, die kul­tur und den ehr­geiz zum glück:

    Gegen­wär­tig leben wir in einer Gesell­schaft, die Selbst­per­fek­tio­nie­rung, die Arbeit am Ich, als Selbst­ge­nuss pos­tu­liert; einer der letz­ten Leit­wer­te in der irre­du­zi­blen Viel­falt der uns allent­hal­ten umge­be­nen Kon­tin­genz­kul­tur ist: Authen­ti­zi­tät. Dafür steht auch Dia­ne von Fürs­ten­berg. Die Bio­gra­fie als Pro­jekt. Wenn jetzt also plötz­lich alle aus ihrem Leben ein Kunst­werk machen wol­len, dann ist das nicht nur ein ethi­scher, son­dern auch ein sehr ehr­gei­zi­ger Impe­ra­tiv: Lebens­wel­ten und ‑for­men wer­den ambi­tio­niert durch­äs­the­ti­siert, und das Pathos der Selbst­er­schaf­fung rich­tet sich auf die bei­den gros­sen Zie­le der Post­wachs­tums­ge­sell­schaft: Spass und Glück.
    […] Wir sehen also, dass Ehr­geiz durch­aus nicht ver­schwun­den ist, son­dern sich nur ver­irrt hat.

    sei­ne the­ra­pie ist übri­gens ziem­lich ein­fach (und wahr­schein­lich gar nicht so ver­kehrt): selbst­iro­nie als die „schöns­te Form der Eigenliebe“

  • Duden | Kon­rad-Duden-Preis 2014 geht an Dama­ris Nüb­ling | – Der Kon­rad-Duden-Preis 2014 geht an @DFDmainz-Projektleiterin Dama­ris Nübling
  • E‑Books: Wir sind die Fähr­ten­le­ser der neu­en Lite­ra­tur – Bücher – FAZ – elke hei­ne­mann über die viel­falt der neu­en (klei­ne) e‑book-ver­la­ge:

    Dich­tung ist längst auch digi­tal: Auf der Suche nach E‑Books abseits des Main­streams führt der Weg in Deutsch­land vor allem nach Ber­lin. Doch die enga­gier­ten Spe­zi­al­ver­la­ge haben auch spe­zi­el­le Probleme. 

  • Gen­der-Debat­te: Anschwel­len­der Ekel­fak­tor | ZEIT ONLINE – wun­der­bar: robin det­je rech­net gna­den­los mit den kolum­nen­het­zern #ulfha­rald­jan­mat­thi­as aber (scha­de nur, dass das bei der @Zeit wie­der nie­mand lesen wird und harald des­halb wei­ter die leser­schaft ver­gif­ten darf):

    Heu­te tobt die Schluss­strich­de­bat­te Femi­nis­mus. Ende: nicht abzu­se­hen. Altern­de Män­ner an vor­ders­ter Front. Hoher Unter­hal­tungs­wert, aber auch anschwel­len­der Ekel­fak­tor. Die Argu­men­ta­ti­on wie­der fas­zi­nie­rend: Femi­nis­mus gibt es inzwi­schen doch schon so lan­ge, das nervt, Frau­en ner­ven ja immer, und die Frau­en wol­len offen­bar tat­säch­lich, dass wir Män­ner unser Ver­hal­ten ändern, wes­halb jetzt wir die eigent­li­chen Opfer sind.
    […] Und des­halb husch, husch, ihr all­män­ner­mäch­ti­gen Dis­kurs­be­herr­scher, zurück in eure Eck­knei­pe. Die jetzt lei­der von einem Gen­der-Stu­dies-Les­ben‑, Tran­sen- und X‑trupp über­nom­men wird, und ihr schiebt für eine Wei­le in der Küche Abwaschdienst.

    Ent­schul­di­gung, aber das wird man sich als auf­ge­klär­ter, älte­rer deut­scher Mann doch noch wün­schen dürfen.

  • “Femi­nis­mus kann nie­mals Life­style sein” • Denk­werk­statt – gabrie­le mich­alit­sch im inter­view mit eini­gen sehr rich­ti­gen beobachtungen:

    Femi­nis­mus kann nie­mals Life­style sein, Femi­nis­mus ist immer poli­tisch. Wenn die Medi­en eine sol­che Dis­kus­si­on befeu­ern, ist das eine Form von Anti­fe­mi­nis­mus und der Ver­such, den Begriff Femi­nis­mus zu ver­ein­nah­men, ihm sei­ne poli­ti­sche Rele­vanz abzu­spre­chen. Femi­nis­mus war zudem nie män­ner­feind­lich, er wur­de immer auch von Män­nern mit­ge­tra­gen. Wenn, dann wen­det er sich gegen bestimm­te Kon­zep­tio­nen von Männ­lich­keit – wie auch Weib­lich­keit. Wäre die­ser angeb­lich neue Femi­nis­mus nicht Gegen­stand öffent­li­cher Debat­ten, müss­ten wir uns erst gar nicht damit aus­ein­an­der­set­zen – in mei­nen Augen ist das eine anti­fe­mi­nis­ti­sche Strategie.

    und spä­ter auf den punkt gebracht: 

    Wenn Femi­nis­mus auf Kar­rie­re mit Kin­dern redu­ziert wird, ist das das Ende des Feminismus.

Die Liebe des Lesens und der Bücher

Über die Lie­be des Lesens und der Bücher hat Charles Dant­zig ein net­tes, unter­halt­sa­mes Buch geschrie­ben. Eigent­lich ist es gar kein Buch, son­dern die Samm­lung von klei­nen Tex­ten, die der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler schon woan­ders publi­ziert hat­te. Unter dem Titel Wozu Lesen? hat der Steidl-Ver­lag das als ein schö­nes Buch herausgebracht.

Wozu Lesen? ist in aller ers­ter Linie ein abso­lu­tes, unbe­ding­tes Glau­bens­be­kennt­nis zum Lesen, ein Lob­preis, eine Selig­spre­chung: Gott ist nicht nur lesend, „Gott ist auf der Biblio­theks­lei­ter“ (28) – der Gott der Lek­tü­re näm­lich. Die Lek­tü­re ist es, die den lesen­den Men­schen ver­än­dert, begeis­tert und fas­zi­niert: Immer wie­der denkt Dant­zig (sich und alle ernst­haf­ten) den Leser als ein empa­thisch-den­ken­den Leser, einen emp­fäng­li­chen Leser: Emp­fäng­lich in dem Sin­ne, das er offen für die Schön­heit eines Tex­tes, eines ein­zel­nen Sat­zes oder eines blo­ßen Wor­tes ist …

Des­halb ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass er zu dem Schluss kommt:

Wir lesen aus purem Ego­is­mus, bewir­ken damit jedoch unge­wollt etwas Altru­is­ti­sches. Denn durch unse­re Lek­tü­re hau­chen wir einem schla­fen­den Gedan­ken neu­es Leben ein. (32)

Das Ver­gnü­gen am Lesen selbst, am Vor­gang des Ent­zif­fern, Auf­neh­men, Absor­bie­ren, Ver­wan­deln, zu-eigen-machen – also am mit­le­ben­den Lesen bestimmt sei­ne Kas­ka­de mög­li­cher Ant­wor­ten auf die zen­tra­le Fra­ge des Ban­des, näm­lich: Wozu ist das Lesen gut? Und was macht es mit uns? Zum Bei­spiel das hier:

Man liest ein Buch nicht um der Geschich­te wil­len, man liest ein Buch, um mit sei­nem Autor ein Tänz­chen zu wagen. (41)

Dant­zig sam­melt hier lau­ter klei­ne und kleins­te Minia­tur-Essays, die meist von eige­nen Lek­tü­re-Erleb­nis­sen Dant­zigs (die er unge­heu­er prä­sent zu haben scheint) aus­ge­hen und oft nur ein etwas aus­ge­führ­ter Gedan­ke oder Ein­fall sind, ver­packt in einer grif­fi­gen Sen­tenz oder For­mu­lie­rung. Zum Bei­spiel klingt das so:

Die Leu­te bestehen auf ihre Gedan­ken­lo­sig­keit. Dabei sind wir nur,[sic] wäh­rend wir lesen, vor der Päd­ago­gik sicher. (43)1

Immer wie­der mani­fes­tiert sich in die­sen Nota­ten (die mich in man­chem an Hen­ning Rit­ters Notiz­hef­te erin­ner­ten) die Ideee, gegen sich selbst zu lesen, sich selbst beim Lesen, durch das Lesen, mit dem Lesen in Fra­ge zu stel­len – also Neu­es zu pro­bie­ren, Argu­men­te aus­zu­tes­ten, Bücher/​Autoren wie­der­holt zu lesen, um eine Abnei­gung zu über­win­den … Im Grund ist das also das klas­si­sche Lek­tü­re-Argu­ment schlecht­hin: Lesen ermög­licht es, Alter­na­ti­ven zum Leben und der Welt zu erfah­ren und ken­nen zu ler­nen, sich selbst aus­zu­pro­bie­ren in der Phan­ta­sie : „Stel­len Sie sich selbst in Fra­ge. Stel­len Sie das in Fra­ge, was SIe in die­sem Moment lesen.“ (66), – ja, genau, das gilt natür­lich auch für die­se Sen­ten­zen, die Dant­zig­schen Schluss-Mora­li­tä­ten sei­ner Kurz­tex­te selbst:

Die ein­zi­ge Fage, die man sich im Hin­blick auf einen Chef stel­len soll­te, lau­tet: Wür­de er die Biblio­thek von Alex­an­dria anzün­den? […] Man möge lie­ber mei­ne Bücher ver­bren­nen als Men­schen. (50)

Egal, wel­che der vie­len Modi des Lesens Dant­zigs reflek­tiert und prei­send betrach­tet – leich­tes und schwe­res Lesen, spie­le­ri­sches und erns­tes, unter­hal­ten­des und for­schen­des: Immer ist das Lesen und Sein Leser begeis­te­rungs- und lie­bes­fä­hig. Selbst in der Ableh­nung schlech­ter Bücher (es ist wohl kein Zufall, dass ein Leser (und Schrift­stel­ler) wie Dant­zig, dem es so sehr (fast aus­schließ­lich) auf die empa­thi­sche Lek­tü­re ankommt, von Büchern und nicht von Tex­ten spricht).

Wozu Lesen? selbst ist übri­gens ein schö­nes Buch, bei dem Innen und Außen in gewis­ser Wei­se zur Deckung kom­men – da merkt man die Hand des Ver­le­gers … Und es ist ein Buch, wie es viel­leicht wirk­lich nur ein Fran­zo­se schrei­ben kann (um die­ses natio­nat­lis­ti­sche Kli­schee auch ein­mal zu bedie­nen=: leicht und ele­gant, mit Tief­gang, aber unauf­ge­regt, nie über­heb­lich, dafür immer lust­voll – vol­ler Lust an den Lek­tü­ren, die zu die­sen Tex­ten führ­ten und vol­ler Lust am Schrei­ben – und damit sprü­hend vor Lust am Ver­füh­ren zum Lesen. Denn das ist ja das gro­ße, heh­re und ein­zi­ge Ziel die­ses Buches: Nicht nur über das Lesen, sei­ne vie­ler­lei Vor- und Nach­tei­le, zu sin­nie­ren, son­dern vor allem zum lust­vol­len, erfüll­ten Lesen anre­gen: „Leben ist Pro­sa, kei­ne Poe­sie.“ (63) – Viel­leicht, viel­leicht aber auch nicht – wenn man nur genug liest …

Charles Dant­zig: Wozu Lesen? Göt­tin­gen: Steidl 2011. 205 Sei­ten. 16 Euro. ISBN 9783869303666.

Show 1 footnote

  1. Die Kom­ma­set­zung ist hier ein ech­tes Ver­bre­chen am Text, das ich aber der Über­set­ze­rin und nicht dem Autor anlas­te …

eine „theorie der unbildung“?

soviel gleich vor­weg: eine theo­rie der unbil­dung hat kon­rad paul liess­mann nicht geschrie­ben – auch wenn er sei­nen groß-essay so über­ti­tel hat. was er aber sehr schön und poin­tiert macht: mit dem mythos, eine wis­sens­ge­sell­schaft zeich­ne sich durch viel und hohe bil­dung aus, gründ­lich auf­zu­räu­men. er tut dies durch­aus sehr poin­tiert. wenn auch nicht außer­ge­wöhn­lich originell.

am her­vor­ste­chends­ten ist schon sei­ne ana­ly­se der augen­blick­li­chen mise­re (auch er muss natür­lich aner­ken­nen, dass sich das sys­tem der (aus-)bildung per­ma­nent in der kri­se befin­det) als eine erschei­nung der unbil­dung, die – im gegen­satz zu den reform­ver­su­chen der nach­kriegs­zeit – voll­kom­men auf den anschluss an den begriff der bil­dung ver­zich­tet, auch in der nega­ti­on nicht mehr auf ihn rekur­riert (und damit unter­schie­den ist von dem, was liess­mann in anschluss an ador­no als halb­bil­dung klassifiziert).

von dort aus ist es liess­mann dann ein leich­tes, eini­ge der grö­be­ren miss­stän­de anzu­pran­gern und vor­zu­füh­ren: das unent­weg­te schie­len nach rang­lis­ten­po­si­tio­nen etwa, dass mit bil­dung nie etwas zu tun haben kann, da die­se als qua­li­tät prin­zi­pi­ell nicht quan­ti­fi­zier­bar sei und damit auch nicht in rang­lis­ten oder ähn­lich ord­nun­gen über­führt wer­den kön­ne. oder die krank­heit der eva­lua­ti­on, die auf dem glei­chen miss­ver­ständ­nis beruht, zusätz­lich aller­dings beson­ders deut­lich auch noch gehei­me nor­ma­ti­ve vor­ga­ben (schon durch die art der fra­gen) ent­wi­ckelt und eta­bliert. und immer wie­der: der gegen­satz von wis­sen als ver­füg­bar­keit von infor­ma­ti­ons­par­ti­keln und bil­dung (im klas­si­schen, huma­nis­ti­schen sinn, unter direk­tem rück­griff auf wil­helm von hum­boldts ideen und ideale).

der man­gel an die­sem ver­such wie bei allen ähn­li­chen unter­neh­mun­gen: sie kom­men immer zu spät (ein vor­wurf, der liess­mann unbe­dingt tref­fen muss – er ist schließ­lich teil des miss­stan­des), sie sind immer zu gebil­det und spe­zi­ell, um gehört zu fin­den. und hat durch­aus auch eini­ge lose enden (zum bei­spiel bei sei­nem angriff auf die recht­schreib­re­form – war­um die neue recht­schrei­bung unbe­dingt weni­ger ästhe­tisch sein soll als die alte erschließt sich mir über­haupt nicht – viel­leicht bin ich dafür aber auch zu sehr prag­ma­ti­ker). alles in allem: eine lesen­wer­te streit­schrift für bil­dung und gegen die ver­dum­mungs­be­mü­hun­gen der infor­mier­ten wissensgesellschaft.

kon­rad paul liess­mann: theo­rie der unbil­dung. wien: zsol­nay 2006.

bei der taz gibt es online ein inter­view von robert misik mit liessmann.

und noch ein p.s.: wie fra­gil und flüch­tig wis­sen auch in der soge­nann­ten wis­sens­ge­sell­schaft (oder gera­de hier) ist, lässt sich an liess­manns büch­lein exzel­lent beob­ach­ten: das ist näm­lich grot­ten­schlecht gesetzt – unter miss­ach­tung der eigent­lich immer noch gül­ti­gen satz­re­geln. zum bei­spiel habe ich sel­ten ein buch eines immer­hin renom­mier­ten ver­lags gele­sen, in dem es der­ma­ßen auf­fäl­lig von schus­ter­jun­gen wim­melt. und in dem es nicht nur ein­mal vor­kommt, dass fuß­no­ten nicht nur auf der fal­schen sei­te, son­dern tat­säch­lich auf der fal­schen dop­pel­sei­te plat­ziert sind (also zwi­schen dem fuß­no­ten­zei­chen und der fuß­no­te ein zwangs­wei­ses umblät­tern liegt) – so ein mist soll­te doch eigent­lich jedem lehr­ling in der ers­ten woche abge­wöhnt wor­den sein …

p.p.s.: ganz pas­send habe ich gera­de auf tele­po­lis ein arti­kel gefun­den, der hier per­fekt passt (vor allem zu liess­manns vier­tem kapi­tel, der wahn der rang­lis­te): „die welt in zah­len – Ran­kings gehö­ren zu den wirk­mäch­tigs­ten Mythen des neo­li­be­ra­len All­tags”. dort heißt es unter ande­rem: „Ran­kings for­men die Wirk­lich­keit, die sie zu mes­sen vor­ge­ben”. ansons­ten steht da (wie so oft) kaum etwas bemer­kens­wer­tes drin. aber die koin­zi­denz mit mei­ner lek­tü­re war doch wie­der ein­mal bemerkenswert …

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