Entgrenzung und die Sprache der Flüchtlingsdebatte | FAZ → ein sehr guter text von tobias rüther über die zunehmend unsägliche, untragbare, verheerende rhetorik im politischen diskurs, vor allem wenn es um “flüchtlingsfragen” geht (woran die faz aber auch ihren anteil hat …)
Als Geschäftsmodell des akademischen Kapitalismus ist OA Realität, als Programm dafür, die Menschheit im gemeinsamen intellektuellen Gespräch und Streben nach Wissen zu vereinigen, ist es eine Utopie.
OA hat das auch vorher schon virulente Problem eines hemmungslosen Publikationswahns noch weiter verschärft und mit der vermeintlichen Transparenz eine noch größere Unübersichtlichkeit geschaffen.
Das kritischste Risiko für die Energiewende wirkt im Vergleich gar nicht so spannend: dauerhaft niedrige Weltmarktpreise für fossile Energien.
„Das Geld wandert ab aus diesem Beruf“ | Volltext → interessantes interview mit ulrike draesner über lyrik und deren wertschätzung, die änderungen für das schreiben, die die allzeit verfügbaren daten & informationen mit sich bringen
Am Abend meditiere ich auf dem Saxofon die jüngsten Ereignisse dieser enigmatischen Reise, ihre numerologischen Implikationen, und bin ab sofort als 23 neu inkarniert. […]
Zersplitterte Zeitpyramide. Simulationszeitalter. Anything Goes – Jazz ist eigentlich ein querstehendes Gefühl.
Hans Jürgen von der Wense: Über das Stehen. Hrsg. von Reiner Niehoff. Berlin: blauwerke 2014 (splitter 02). 76 Seiten. ISBN 978–3‑945002–01‑8. Hans Jürgen von der Wense: Die Schaukel. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Reiner Niehoff. Mit einer Lektüre von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2016 (splitter 08). 52 Seiten. ISBN 9783945002087.
Das sind zwei (sehr) kleine Texte — Essays wohl am besten zu nennen — die sich auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Themen widmen: Über das Stehen widmet sich der Statik (des Menschen), Die Schaukel dagegen einem Ding, das wie kaum ein anderes Bewegung vergegenständlicht.
Natürlich stimmt der Gegensatz bei Hans Jürgen von der Wense so eigentlich gar nicht. Das merkt man schon, wenn man den ersten Satz in Über das Stehen liest:
Stehen ist eine bewegung; es ist schwanken und wanken, um sich im gleichgewichte zu halten, aufrecht.. Stehen ist eine lage. (13)
Dem folgt ein manchmal meines Erachtens etwas ausfasernder Essay über das Stehen, der mich vor allem in seinen weltetymologischen Abschnitten nicht immer gleichermaßen faszinieren konnte. Trotzdem ein schönes “Groschenheft des Weltgeistes” — so nennt der kleine, rührige blauwerke-Verlag seine splitter-Reihe, die im kleinen Notizheftformat kleine Texte mit viel zusätzlichem (Archiv-)Material vorbildlich ediert und zu wohlfeilen Preisen (nämlich jeweils 1 Euro) zugänglich macht. Auch diese beiden Wense-Essays haben jeweils ein einführendes Vorwort von Reiner Niehoff, das unter anderem über Entstehungszusammenhänge und Publikations- bzw. Überlieferungsgeschichte berichtet, und ein einordnendes, erklärendes “Nachwort” von Valeska Bertoncini, das als “Lektüre” fungiert.
Das gerade erst erschienen Heft Die Schaukel bietet einen recht kurzen Wense-Text von wenigen Seiten, der sich — quasi kulturgeschichtlich avant la lettre — mit dem Gegenstand, dem Ding “Schaukel” und vor allem seinen Bedeutungen und Implikationen für den Menschen (ob er nun schaukelt, anstößt oder zuschaut …) befasst. Auch eine sehr vergnügliche, kluge und bereichernde Lektüre. Denn an der Schaukel fasziniert Wense offenbar die Gleichzeitigkeit bzw. dingliche Identität von Bewegung und Ruhe, von der Möglichkeit, bei sich selbst zu sein und zugleich über sich hinaus zu gelangen:
Schaukeln ist Mut-Wille. Es ist Entfernen, Abweichen von der Mitte, dem Ruhe-Punkte, Ab-Fall. (23)
Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann ist ein interessanter Gedichtband. Nicht nur des schönen Titels wegen. Und auch nicht nur der graphischen Ausstattung wegen. Sondern vor allem wegen der schöpferischen Kraft, die Starcke aus letztlich einem Theman, einem Gegenstand entwickelt: Dem Meer. Denn darum geht es in fast allen Gedichten. Und trotz der monothematischen Anlage des Bandes — neben dem Meer spielen Sand, Wolken und der hohe Baum vor dem Haus noch eine gewisse Rolle –, der erstaunlich engen Fixierung auf einen Ort und eine Position des Betrachters und Schreibenden ist das alles andere als langweilig. Eine Rolle spielt dabei sicherlich die vergehende Zeit, deren Lauf man beim Lesen des Bandes gewissermaßen nachvollziehend miterleben kann.
Man ist dabei, sozusagen, alleine mit dem Meer. Menschen kommen nämlich recht selten (wenn überhaupt vor). Das Meer selbst ist in diesen Gedichten vor allem als instabile Stabilität, als dauerhafter Wandel, als vergehende/bewegte/bewegende/fortschreitende Zeit präsent. Auch wenn oft ein recht prosaischer Duktus vorherrscht, kaum Sprachspiele oder ausgefallene, gesuchte Bilder zu entdecken und entschlüsseln sind, ist das dennoch gerade in den Details oft sehr spannend, in den kleinen Abweichungen, den minimalen Störungen und poetischen Signalen (etwa bei der Wortstellung, der Kommasetzung, der (unterbrochenen) Reihung). Fast jedes Gedicht hat einen Moment, einen (Teil-)Satz, der besonders berührt, der besonders die Intensität (des Erlebens vor allem) ausstrahlt. Als „wegzehrung der erinnerung“ (56) sind die Gedichte aber immer auch ein Versuch, die Vergänglichkeit festzuhalten.
Viele dieser Meer-Gedichte funktionieren dabei wie ein „inneres fernglas“ (56): der Blick auf die Landschaft der Küste (ich glaube, das Wort “Küste” kommt dabei gar nicht vor, nur Meer, Sand, Wolken und Himmel als Elemente des Übergangsraums) ermöglicht und fördert den Blick nach innen, mit dem gleichen Instrumentarium, das zugleich das große, weite Panorama erfasst und das kleine, maßgebliche Detail. Und obwohl es oft um Vergänglichkeit und Abschied geht, um Ort- und Heimatlosigkeit, bleibt den Gedichten eine auffällige Leichtigkeit eigen: Die Sprache bleibt locker, die Bilder beweglich, das Syntaxgefüge flexibel, die Begriffe immer konkret: „sie [d.i. die geschichten vom meer] lieben das offene / im verborgenen.“ (47) heißt es einmal — und damit ist Methode Starckes in Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann als Motto ziemlich genau beschrieben.
vielleicht, dass sich unterm meer ein weiteres meer versteckt wie erinnerungen im sand der gedanken, die, für geheimnisse offen, momente von stille verkörpern. an seinen geräuschen, schlussverse (72)
Juli Zeh: Unterleuten. München: Luchterhand 2016. 508 Seiten.
Juli Zehs Unterleuten hält sich zwar hartnächkig auf der Bestseller-Liste, ist aber eigentlich ein eher langweiliges, unbemerkenswertes Buch. Das ist routiniert erzählt und kann entsprechend mit unbeteiligter Neugier ohne nachhaltigen Eindrcuk gelesen werden. Vieles in dem Plot — den ich jetzt nicht nacherzähle — ist einfach zu absehbar. Dazu kommt noch ein erzählerisches Problem: Der Text wird mir permanent erhobenem Zeigefinger erzählt, bei jeder Figur ist immer (und meist sofort) klar, was von ihr zu denken ist — das wird erzählerich überdeutlich gemacht. Dazu eignet sich der wechselnde erzählerischere Fokus der auktorialen Erzählerin natürlich besonders gut. Das Schlusskapitel, in dem sie (bzw. eine ihrer Instanzen) als Journalistin, die Unterleuten recherchiert hat, auftritt und die Fäden sehr unelegant zum Ende führt, zeigt sehr schön die fehlende künstlerische/poetische Imagination der Autorin: Das ist so ziemlich die billigste Lösung, einen Schluss zu finden — und zugleich auch so überaus unnötig … Andererseits hat mich die erzählerische Anlage schnell genervt, weil das so deutlich als die einfachste Möglichkeit erkennbar wir, alle Seiten, Positionen und Beteiligten des Konflikts in der Pseudo-Tiefe darzustellen.
„[E]ine weitreichende Weltbetrachtung, einen Gesellschaftsroman mit einer bestechenden Vielfalt literarischer Tonlagen, voller Esprit und Tragik, Ironie und Drastik“, die Klaus Zeyringer im „Standard“ beobachtet hat, kann ich da beim besten Willen nicht erkennen. (Jörg Magenau hat die „Qualitäten“ des Romans in der “Süddeutschen Zeitung” besser und deutlicher gesehen.) Letztlich bleibt Unterleuten ein eher unspannender Dorfkrimi, der sich flott wegliest, (mich) aber weder inhaltlich noch künstlerisch besonders bereichern konnte. Schade eigentlich.
Auch :nachkommen nacktkommen ist wieder so ein Zufallsfund, bei dem ich dem Verlag — hochroth — vertraut habe … Sophie Reyers Gedichte sind knapp konzentrierte Kurzzeiler, die oft abgründig leicht sind, aber immer sehr auf den Punkt gedacht und formuliert sind — beziehungsweise auf den Doppelpunkt als Grenze und Übergang, der den Beginn aller Gedichte zeichenhaft markiert. Immer wieder fallen mir die kühnen, wilden, ja geradezu überbordenden und überschießenden Bilder auf, die jeglicher sprachlicher Ökonomie Hohne sprechen und die, so scheint es mir, manchmal auch einfach nur um ihrer selbst willen da sind. Außerdem scheint Reyer eine große Freude am Spiel mit Assonanzen und Alliterationen zu haben. Überhaupt ist vielleicht das Spiel, der spielerische Umgang mit Sprache und Einfällen trotz der Themen, die einen gewissen Hang zum Dunkeln aufweisen, besonders bezeichnend für ihre Lyrik.
Manches wirkt in :nachkommen nacktkommen auch eher wie das spontane Notat einer Idee, wie eine Einfallsskizze im Notizbuch der Autorin und noch nicht wie ein fertiges Gedicht. Zweizeiler wie der auf S. 27 zum Beispiel:
die kursivschrift des kornfelds sonnen strahlen stenographie
Interessant fand ich bei der Lektüre auch, dass Takt und Rhythmus der Lyrik wiederholt (im Text selbst) anzitiert werden, durch die Texte aber nur sehr bedingt (wenn überhaupt) umgesetzt werden. Vielleicht kommt daher auch der Eindruck der Spontanität, des augenblicklichen Einfalls …
:nachkommen nacktkommen ist dabei ein typisches kleines hochroth-Bändchen — ich mag das ja, ich brauche nicht immer gleich 80–100 Seiten Lyrik von einer Autorin, es reichen oft auch 20, 30 (kleinere) Texte. Und die Kaufhürde ist auch nicht so hoch, wenn das nur 8 Euro statt 25 sind … Zudem sind die hochroth-Publikationen eigentlich immer schön gemacht, liebevoll und umsichtig gestaltet. Die hier ist die erste, bei der mir typographische Fehler aufgefallen sind — ein nach unten „fallendes“ l, das ich auf sechs Seiten ziemlich wahllos verstreut gefunden habe (aber wer weiß, vielleicht ist das ja auch ein geheimes feature der Texte, das sie auch ganz geschickt mit dem Paratext verbindet?).
Wolf von Kalckreuth: schlummerschwarze Nächte. Gedichte. Leipzig: hochroth 2015. 26 Seiten. ISBN 978–3‑902871–67‑1. Wolf Graf von Kalckreuth: Gedichte und Übertragungen. Herausgegeben von Hellmut Kruse. Heidelberg: Lambert Schneider 1962. 190 Seiten.
Über die schmale Auswahl beim feinen hochroth-Verlag bin ich eher zufällig auf die Lyrik Wolf von Kalckreuths gestoßen. Kalckreuth ist gewissermaßen eine tragische Figur: 1887 in eine Militär- und Künstlerfamilie geboren, setzt er seinem Leben bereits 1906 ein Ende. Bis dahin war er in der Schule, hat sein Abitur gemacht, ist etwas gereist und dann — trotz eigentlicher Nicht-Eignung — im Oktober 1906 auf eigenen Wunsch ins Militär eingetreten, wo er es keine zehn Tage bis zu seinem Freitod aushielt. In dieser kurzen Lebenszeit entstanden aber nicht nur eigene Gedichte, sondern auch diverse (wichtige) Übersetzungen der Lyrik Verlaines und Baudelaires.
Erstaunlich ist in seinen Gedichten immer wieder die ausgesprochen sichere (handwerkliche) Sprach- und Formbeherrschung trotz des jungen Alters. Nicht immer und nicht alles ist wahnsinnig originell, vieles ist sehr deutlich einer späten Spätromantik verhaftet, die aber durch die mal mehr, mal weniger zaghaften Einflüsse des Expressionismus interessant wird. Viele seiner Gedichte pendeln sich gewissermaßen in der Dialektik von Verfall und Sehnsucht ein. Und aus ihnen spricht auch immer wieder das Bewusstsein um die eigene (Ver-)Spätung, um Endzeit, Untergang, vor allem aber Sterbenswunsch und Todessehnsucht etc. — nicht ohne Grund spielen die Dämmerung (und natürlich die Nacht), der Abend und der Herbst eine große Rolle in diesen Gedichten.
Aber was mich wirklich am meisten fasziniert hat, war doch die sorgsame Fügung der Gedichte, gerade der Sonette, die nahe an perfekte Gedichte heranreichen. Die hochroth-typisch sehr kleine Auswahl — 26 Seiten inkl. Nachwort! — hat mich dann immerhin neugierig gemacht und mich zu der deutlich umfangreicheren Auswahl von 1962 greifen lassen. Da finden sich natürlich auch wieder viele faszinierende Sonette, aber auch interessante und anregende Gedichte, eigentlich ja Elogen, auf Napoleon, den Kalckreuth wohl sehr bewunderte. Und schließlich enthält der Band auch noch eine umfangreiche Abteilung mit Übersetzungen der Lyrik Verlaines und Baudelaires, beide auch wesentliche Vorbilder und Einflüsse Kalckreuths.
Das Leben eilt zum Ziele wie eines Weltstroms Flut Die uns ins Meer entführt mit dunklen Wogenmassen, In schwindelhafter Hast, die nie entschlummernd ruht, Bis wir das eigne Herz erkennen und erfassen. (72)
Annette Pehnt: Hier kommt Michelle. Ein Campusroman. München: Piper 2012. 140 Seiten. ISBN 9783492300827.
Eine nette kleine Satire — das heißt, ein scharfer und bissiger Text, der das deutsche Universitätssystem und ‑leben, insbesondere aber die zeitgenössische Studierendengeneration gekonnt aufspießt. Nur notdürftig fiktionalisiert, bekommen so ziemlich alle ihr Fett weg: Die Studierenden, die Lehrenden vom akademischen “Unterbau” über den Mittelbau bis zu den vertrottelten Emeriti, von der Verwaltung bis zur Presse und Politik. Selbst die Hauptfigur, Michelle, ist so überhaupt nicht liebenswert, sondern — natürlich als Zerrbild — eher ein abschreckendes Beispiel der Ziel- und Vernunftlosigkeit als ein Identifikationsangebot für den Lesen. Sehr schön fand ich den erzählerischen Kunstgriff, dass sich die Erzählerin selbst mit ihrer eigenen Stimme wiederholt einmischt und sich und ihren (?) Text im Text selbst gleich mitkommentiert (auf die eher unwitzige Herausgeberfiktion hätte ich dafür gerne verzichten können).
Hier ist die Erzählerin. Sie reibt sich die Hände, weil sie dieses harmlose Mädchen mit groben Strichen entworfen hat und sich jetzt schon, wo die Erfindung doch gerade erst zu leben begonnen hat, darauf freut, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. (13)
Trotz einiger handwerklicher Mängel wie etwa einem schlecht gearbeiteten Zeitsprung oder einer etwas ungefügen Makrostruktur ist Hier kommt Michelle einfach nett zu lesen, aber halt auch — der Umfang verrät es ja schon — recht dünn. Der Witz ist eben schnell verbraucht, die Unterhaltung trägt auch nicht viel länger. Zum Glück hat Annette Pehnt das nicht übermäßig ausgewalzt, denn viel mehr als diesen kleinen Text gibt die Grundidee alleine wohl nicht her.
Das war auch eine wichtige Lektion: Nicht alles geht sie etwas an, es ist gut, allzu fremden oder schwierigen Zusammenhängen nicht auf den Grund zu gehen, man muss sich zurückhalten und sich auf das beschränken, was man kennt und kann, und das gilt auf jeden Fall auch für das Studium in Sommerstadt, das Michelle nun mit neuem Elan, aber auch einer Reife angeht, die sie schon am zweiten Tag befähigt, zum Junganglisten zu gehen und zu fragen, ob er sie brauchen kann. (120)
außerdem gelesen:
Philipp Tingler: Juwelen des Schicksals. Kurze Prosa. Zürich: Kein und Aber 2005.
Georges Bataille: Der große Zeh. Hrsg. & übers. von Valeska Bertoncini. Berlin: blauwerke 2015 (splitter 01). 80 Seiten.
Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Vergangenheit und Geschichte mal etwas durchzuschütteln und auf den grundsätzlichen Prüfstand zu stellen.
Who is afraid of jazz? | JazzZeitung — “Wer hätte gedacht, dass ich sogar Bruckner einmal spannender und frenetischer finden würde als neuen Jazz!”
Essay: Schläfrig geworden — DIE WELT — er osteuropa-historiker karl schlögel widerspricht in der “welt” den verfassern & unterzeichnern des aufrufes “wieder krieg in europa?” — meines erachtens mit wichtigen argumenten:
Denn in dem Aufruf ist neben vielen Allgemeinplätzen, die die Eigenschaft haben, wahr zu sein, von erstaunlichen Dingen die Rede. So lautet der erste Satz: “Niemand will Krieg” – so als gäbe es noch gar keinen Krieg. Den gibt es aber. Russische Truppen haben die Krim besetzt […]
Abermals ist vom “Nachbarn Russland” die Rede: Wie muss die Karte Europas im Kopf derer aussehen, die so etwas von sich geben oder mit ihrer Unterschrift in Kauf nehmen! Peinlich – und wahrscheinlich in der Eile von den viel beschäftigten, ernsthaften Unterzeichnern nicht zur Kenntnis genommen – die Behauptung, Russland sei seit dem Wiener Kongress Mitgestalter der europäischen Staatenwelt. Das geht viel weiter zurück, wie auch Laien wissen, die schon von Peter dem Großen gehört haben. Und ausgerechnet die Heilige Allianz zu zitieren, mit der die Teilung Polens zementiert, die polnischen Aufstände niedergeworfen und die 1848er-Revolution bekämpft worden ist – das passt nicht gut zur Ernsthaftigkeit eines um den Dialog bemühten Unternehmens. Vom Molotow-Ribbentrop-Pakt – eine zentrale Erfahrung aller Völker “dazwischen” und im 75. Jahr der Wiederkehr des Vertrages, der den Zweiten Weltkrieg möglich gemacht hat – ist im Text gar nicht die Rede, einfach zur Seite geschoben, “verdrängt”.
Arbeiter aus dem Sudan, aus Burkina Faso, aus Mali, aus fast jedem Land Afrikas. In dreckigen Mänteln suchen sie vor den Müllhaufen nach Verwertbarem. Es ist, als würde man durch einen düsteren, apokalyptischen Roman von Cormac McCarthy fahren. An den Feldwegen, die von den Landstraßen abgehen, stehen Prostituierte. Rumäninnen und Bulgarinnen. So sieht es aus, das Herz der italienischen Tomatenproduktion.
— fritz schaap in der zeit über den versuch des gewerkschafters yvan sagnet, die miserablen bedingungen der arbeiter in italien, v.a. der erntehelfer, zu verbessern. der sagt u.a.
“Der Käufer muss wissen: Wenn er in den Supermarkt geht und ein Kilogramm italienische Tomaten für achtzig Cent kauft, dann wurden diese Tomaten von miserabel entlohnten Arbeitern geerntet, die man ohne Weiteres als moderne Sklaven bezeichnen kann.”
Es wurde ein äußerst positives Bild dieser Frauen vermittelt: Dass sie sich freiwillig und mit Freude in die harte Arbeit stürzen und den Schutt wegräumen, um den Wiederaufbau voranzutreiben. Die PR war auch enorm wichtig, weil die Trümmerräumer — wie zuvor erwähnt — stigmatisiert waren und solche schweren Jobs bis dahin eigentlich nicht von Frauen erledigt werden sollten. Deshalb wurde das Bild der “Trümmerfrau” positiv aufgeladen mit den Stereotypen, die wir noch heute mit dem Begriff verbinden.
Gegenwärtig leben wir in einer Gesellschaft, die Selbstperfektionierung, die Arbeit am Ich, als Selbstgenuss postuliert; einer der letzten Leitwerte in der irreduziblen Vielfalt der uns allenthalten umgebenen Kontingenzkultur ist: Authentizität. Dafür steht auch Diane von Fürstenberg. Die Biografie als Projekt. Wenn jetzt also plötzlich alle aus ihrem Leben ein Kunstwerk machen wollen, dann ist das nicht nur ein ethischer, sondern auch ein sehr ehrgeiziger Imperativ: Lebenswelten und ‑formen werden ambitioniert durchästhetisiert, und das Pathos der Selbsterschaffung richtet sich auf die beiden grossen Ziele der Postwachstumsgesellschaft: Spass und Glück. […]
Wir sehen also, dass Ehrgeiz durchaus nicht verschwunden ist, sondern sich nur verirrt hat.
seine therapie ist übrigens ziemlich einfach (und wahrscheinlich gar nicht so verkehrt): selbstironie als die “schönste Form der Eigenliebe”
Dichtung ist längst auch digital: Auf der Suche nach E‑Books abseits des Mainstreams führt der Weg in Deutschland vor allem nach Berlin. Doch die engagierten Spezialverlage haben auch spezielle Probleme.
Gender-Debatte: Anschwellender Ekelfaktor | ZEIT ONLINE — wunderbar: robin detje rechnet gnadenlos mit den kolumnenhetzern #ulfharaldjanmatthias aber (schade nur, dass das bei der @Zeit wieder niemand lesen wird und harald deshalb weiter die leserschaft vergiften darf):
Heute tobt die Schlussstrichdebatte Feminismus. Ende: nicht abzusehen. Alternde Männer an vorderster Front. Hoher Unterhaltungswert, aber auch anschwellender Ekelfaktor. Die Argumentation wieder faszinierend: Feminismus gibt es inzwischen doch schon so lange, das nervt, Frauen nerven ja immer, und die Frauen wollen offenbar tatsächlich, dass wir Männer unser Verhalten ändern, weshalb jetzt wir die eigentlichen Opfer sind. […]
Und deshalb husch, husch, ihr allmännermächtigen Diskursbeherrscher, zurück in eure Eckkneipe. Die jetzt leider von einem Gender-Studies-Lesben‑, Transen- und X‑trupp übernommen wird, und ihr schiebt für eine Weile in der Küche Abwaschdienst.
Entschuldigung, aber das wird man sich als aufgeklärter, älterer deutscher Mann doch noch wünschen dürfen.
Feminismus kann niemals Lifestyle sein, Feminismus ist immer politisch. Wenn die Medien eine solche Diskussion befeuern, ist das eine Form von Antifeminismus und der Versuch, den Begriff Feminismus zu vereinnahmen, ihm seine politische Relevanz abzusprechen. Feminismus war zudem nie männerfeindlich, er wurde immer auch von Männern mitgetragen. Wenn, dann wendet er sich gegen bestimmte Konzeptionen von Männlichkeit – wie auch Weiblichkeit. Wäre dieser angeblich neue Feminismus nicht Gegenstand öffentlicher Debatten, müssten wir uns erst gar nicht damit auseinandersetzen – in meinen Augen ist das eine antifeministische Strategie.
und später auf den punkt gebracht:
Wenn Feminismus auf Karriere mit Kindern reduziert wird, ist das das Ende des Feminismus.
Über die Liebe des Lesens und der Bücher hat Charles Dantzig ein nettes, unterhaltsames Buch geschrieben. Eigentlich ist es gar kein Buch, sondern die Sammlung von kleinen Texten, die der französische Schriftsteller schon woanders publiziert hatte. Unter dem Titel Wozu Lesen? hat der Steidl-Verlag das als ein schönes Buch herausgebracht.
Wozu Lesen? ist in aller erster Linie ein absolutes, unbedingtes Glaubensbekenntnis zum Lesen, ein Lobpreis, eine Seligsprechung: Gott ist nicht nur lesend, “Gott ist auf der Bibliotheksleiter” (28) — der Gott der Lektüre nämlich. Die Lektüre ist es, die den lesenden Menschen verändert, begeistert und fasziniert: Immer wieder denkt Dantzig (sich und alle ernsthaften) den Leser als ein empathisch-denkenden Leser, einen empfänglichen Leser: Empfänglich in dem Sinne, das er offen für die Schönheit eines Textes, eines einzelnen Satzes oder eines bloßen Wortes ist …
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass er zu dem Schluss kommt:
Wir lesen aus purem Egoismus, bewirken damit jedoch ungewollt etwas Altruistisches. Denn durch unsere Lektüre hauchen wir einem schlafenden Gedanken neues Leben ein. (32)
Das Vergnügen am Lesen selbst, am Vorgang des Entziffern, Aufnehmen, Absorbieren, Verwandeln, zu-eigen-machen — also am mitlebenden Lesen bestimmt seine Kaskade möglicher Antworten auf die zentrale Frage des Bandes, nämlich: Wozu ist das Lesen gut? Und was macht es mit uns? Zum Beispiel das hier:
Man liest ein Buch nicht um der Geschichte willen, man liest ein Buch, um mit seinem Autor ein Tänzchen zu wagen. (41)
Dantzig sammelt hier lauter kleine und kleinste Miniatur-Essays, die meist von eigenen Lektüre-Erlebnissen Dantzigs (die er ungeheuer präsent zu haben scheint) ausgehen und oft nur ein etwas ausgeführter Gedanke oder Einfall sind, verpackt in einer griffigen Sentenz oder Formulierung. Zum Beispiel klingt das so:
Die Leute bestehen auf ihre Gedankenlosigkeit. Dabei sind wir nur,[sic] während wir lesen, vor der Pädagogik sicher. (43)1
Immer wieder manifestiert sich in diesen Notaten (die mich in manchem an Henning Ritters Notizhefte erinnerten) die Ideee, gegen sich selbst zu lesen, sich selbst beim Lesen, durch das Lesen, mit dem Lesen in Frage zu stellen — also Neues zu probieren, Argumente auszutesten, Bücher/Autoren wiederholt zu lesen, um eine Abneigung zu überwinden … Im Grund ist das also das klassische Lektüre-Argument schlechthin: Lesen ermöglicht es, Alternativen zum Leben und der Welt zu erfahren und kennen zu lernen, sich selbst auszuprobieren in der Phantasie : “Stellen Sie sich selbst in Frage. Stellen Sie das in Frage, was SIe in diesem Moment lesen.” (66), — ja, genau, das gilt natürlich auch für diese Sentenzen, die Dantzigschen Schluss-Moralitäten seiner Kurztexte selbst:
Die einzige Fage, die man sich im Hinblick auf einen Chef stellen sollte, lautet: Würde er die Bibliothek von Alexandria anzünden? […] Man möge lieber meine Bücher verbrennen als Menschen. (50)
Egal, welche der vielen Modi des Lesens Dantzigs reflektiert und preisend betrachtet — leichtes und schweres Lesen, spielerisches und ernstes, unterhaltendes und forschendes: Immer ist das Lesen und Sein Leser begeisterungs- und liebesfähig. Selbst in der Ablehnung schlechter Bücher (es ist wohl kein Zufall, dass ein Leser (und Schriftsteller) wie Dantzig, dem es so sehr (fast ausschließlich) auf die empathische Lektüre ankommt, von Büchern und nicht von Texten spricht).
Wozu Lesen? selbst ist übrigens ein schönes Buch, bei dem Innen und Außen in gewisser Weise zur Deckung kommen — da merkt man die Hand des Verlegers … Und es ist ein Buch, wie es vielleicht wirklich nur ein Franzose schreiben kann (um dieses nationatlistische Klischee auch einmal zu bedienen=: leicht und elegant, mit Tiefgang, aber unaufgeregt, nie überheblich, dafür immer lustvoll — voller Lust an den Lektüren, die zu diesen Texten führten und voller Lust am Schreiben — und damit sprühend vor Lust am Verführen zum Lesen. Denn das ist ja das große, hehre und einzige Ziel dieses Buches: Nicht nur über das Lesen, seine vielerlei Vor- und Nachteile, zu sinnieren, sondern vor allem zum lustvollen, erfüllten Lesen anregen: “Leben ist Prosa, keine Poesie.” (63) — Vielleicht, vielleicht aber auch nicht — wenn man nur genug liest …
Charles Dantzig: Wozu Lesen? Göttingen: Steidl 2011. 205 Seiten. 16 Euro. ISBN 9783869303666.
soviel gleich vorweg: eine theorie der unbildung hat konrad paul liessmann nicht geschrieben — auch wenn er seinen groß-essay so übertitel hat. was er aber sehr schön und pointiert macht: mit dem mythos, eine wissensgesellschaft zeichne sich durch viel und hohe bildung aus, gründlich aufzuräumen. er tut dies durchaus sehr pointiert. wenn auch nicht außergewöhnlich originell.
am hervorstechendsten ist schon seine analyse der augenblicklichen misere (auch er muss natürlich anerkennen, dass sich das system der (aus-)bildung permanent in der krise befindet) als eine erscheinung der unbildung, die — im gegensatz zu den reformversuchen der nachkriegszeit — vollkommen auf den anschluss an den begriff der bildung verzichtet, auch in der negation nicht mehr auf ihn rekurriert (und damit unterschieden ist von dem, was liessmann in anschluss an adorno als halbbildung klassifiziert).
von dort aus ist es liessmann dann ein leichtes, einige der gröberen missstände anzuprangern und vorzuführen: das unentwegte schielen nach ranglistenpositionen etwa, dass mit bildung nie etwas zu tun haben kann, da diese als qualität prinzipiell nicht quantifizierbar sei und damit auch nicht in ranglisten oder ähnlich ordnungen überführt werden könne. oder die krankheit der evaluation, die auf dem gleichen missverständnis beruht, zusätzlich allerdings besonders deutlich auch noch geheime normative vorgaben (schon durch die art der fragen) entwickelt und etabliert. und immer wieder: der gegensatz von wissen als verfügbarkeit von informationspartikeln und bildung (im klassischen, humanistischen sinn, unter direktem rückgriff auf wilhelm von humboldts ideen und ideale).
der mangel an diesem versuch wie bei allen ähnlichen unternehmungen: sie kommen immer zu spät (ein vorwurf, der liessmann unbedingt treffen muss — er ist schließlich teil des missstandes), sie sind immer zu gebildet und speziell, um gehört zu finden. und hat durchaus auch einige lose enden (zum beispiel bei seinem angriff auf die rechtschreibreform — warum die neue rechtschreibung unbedingt weniger ästhetisch sein soll als die alte erschließt sich mir überhaupt nicht — vielleicht bin ich dafür aber auch zu sehr pragmatiker). alles in allem: eine lesenwerte streitschrift für bildung und gegen die verdummungsbemühungen der informierten wissensgesellschaft.
konrad paul liessmann: theorie der unbildung. wien: zsolnay 2006.
bei der taz gibt es online ein interview von robert misik mit liessmann.
und noch ein p.s.: wie fragil und flüchtig wissen auch in der sogenannten wissensgesellschaft (oder gerade hier) ist, lässt sich an liessmanns büchlein exzellent beobachten: das ist nämlich grottenschlecht gesetzt — unter missachtung der eigentlich immer noch gültigen satzregeln. zum beispiel habe ich selten ein buch eines immerhin renommierten verlags gelesen, in dem es dermaßen auffällig von schusterjungen wimmelt. und in dem es nicht nur einmal vorkommt, dass fußnoten nicht nur auf der falschen seite, sondern tatsächlich auf der falschen doppelseite platziert sind (also zwischen dem fußnotenzeichen und der fußnote ein zwangsweises umblättern liegt) — so ein mist sollte doch eigentlich jedem lehrling in der ersten woche abgewöhnt worden sein …
p.p.s.: ganz passend habe ich gerade auf telepolis ein artikel gefunden, der hier perfekt passt (vor allem zu liessmanns viertem kapitel, der wahn der rangliste): „die welt in zahlen — Rankings gehören zu den wirkmächtigsten Mythen des neoliberalen Alltags”. dort heißt es unter anderem: „Rankings formen die Wirklichkeit, die sie zu messen vorgeben”. ansonsten steht da (wie so oft) kaum etwas bemerkenswertes drin. aber die koinzidenz mit meiner lektüre war doch wieder einmal bemerkenswert …