Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: essay

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Ins Netz gegangen (25.9.)

Ins Netz gegan­gen am 25.9.:

Aus-Lese #46

Hans Jür­gen von der Wense: Über das Ste­hen. Hrsg. von Rein­er Niehoff. Berlin: blauw­erke 2014 (split­ter 02). 76 Seit­en. ISBN 978–3‑945002–01‑8.
Hans Jür­gen von der Wense: Die Schaukel. Her­aus­gegeben und mit einem Vor­wort verse­hen von Rein­er Niehoff. Mit ein­er Lek­türe von Vales­ka Bertonci­ni. Berlin: blauw­erke 2016 (split­ter 08). 52 Seit­en. ISBN 9783945002087.

wense, die schaukel (cover)Das sind zwei (sehr) kleine Texte — Essays wohl am besten zu nen­nen — die sich auf den ersten Blick ganz unter­schiedlichen The­men wid­men: Über das Ste­hen wid­met sich der Sta­tik (des Men­schen), Die Schaukel dage­gen einem Ding, das wie kaum ein anderes Bewe­gung verge­gen­ständlicht.

Natür­lich stimmt der Gegen­satz bei Hans Jür­gen von der Wense so eigentlich gar nicht. Das merkt man schon, wenn man den ersten Satz in Über das Ste­hen liest:

Ste­hen ist eine bewe­gung; es ist schwanken und wanken, um sich im gle­ichgewichte zu hal­ten, aufrecht.. Ste­hen ist eine lage. (13)

Dem fol­gt ein manch­mal meines Eracht­ens etwas aus­fasern­der Essay über das Ste­hen, der mich vor allem in seinen wel­te­t­y­mol­o­gis­chen Abschnit­ten nicht immer gle­icher­maßen faszinieren kon­nte. Trotz­dem ein schönes “Groschen­heft des Welt­geistes” — so nen­nt der kleine, rührige blauw­erke-Ver­lag seine split­ter-Rei­he, die im kleinen Notizheft­for­mat kleine Texte mit viel zusät­zlichem (Archiv-)Material vor­bildlich ediert und zu wohlfeilen Preisen (näm­lich jew­eils 1 Euro) zugänglich macht. Auch diese bei­den Wense-Essays haben jew­eils ein ein­führen­des Vor­wort von Rein­er Niehoff, das unter anderem über Entste­hungszusam­men­hänge und Pub­lika­tions- bzw. Über­liefer­ungs­geschichte berichtet, und ein einord­nen­des, erk­lären­des “Nach­wort” von Vales­ka Bertonci­ni, das als “Lek­türe” fungiert.

Das ger­ade erst erschienen Heft Die Schaukel bietet einen recht kurzen Wense-Text von weni­gen Seit­en, der sich — qua­si kul­turgeschichtlich avant la let­tre — mit dem Gegen­stand, dem Ding “Schaukel” und vor allem seinen Bedeu­tun­gen und Imp­lika­tio­nen für den Men­schen (ob er nun schaukelt, anstößt oder zuschaut …) befasst. Auch eine sehr vergnügliche, kluge und bere­ich­ernde Lek­türe. Denn an der Schaukel fasziniert Wense offen­bar die Gle­ichzeit­igkeit bzw. dingliche Iden­tität von Bewe­gung und Ruhe, von der Möglichkeit, bei sich selb­st zu sein und zugle­ich über sich hin­aus zu gelan­gen:

Schaukeln ist Mut-Wille. Es ist Ent­fer­nen, Abwe­ichen von der Mitte, dem Ruhe-Punk­te, Ab-Fall. (23)

Michael Star­cke: Das Meer ist ein alter Bekan­nter, der warten kann. Net­te­tal: Elif 2016. 74 Seit­en. ISBN 9783981750928.

starcke, das meer ist ein alter bekannter, der warten kann (cover)

Das Meer ist ein alter Bekan­nter, der warten kann ist ein inter­es­san­ter Gedicht­band. Nicht nur des schö­nen Titels wegen. Und auch nicht nur der graphis­chen Ausstat­tung wegen. Son­dern vor allem wegen der schöpferischen Kraft, die Star­cke aus let­ztlich einem The­man, einem Gegen­stand entwick­elt: Dem Meer. Denn darum geht es in fast allen Gedicht­en. Und trotz der monothe­ma­tis­chen Anlage des Ban­des — neben dem Meer spie­len Sand, Wolken und der hohe Baum vor dem Haus noch eine gewisse Rolle –, der erstaunlich engen Fix­ierung auf einen Ort und eine Posi­tion des Betra­chters und Schreiben­den ist das alles andere als lang­weilig. Eine Rolle spielt dabei sicher­lich die verge­hende Zeit, deren Lauf man beim Lesen des Ban­des gewis­ser­maßen nachvol­lziehend miter­leben kann.

Man ist dabei, sozusagen, alleine mit dem Meer. Men­schen kom­men näm­lich recht sel­ten (wenn über­haupt vor). Das Meer selb­st ist in diesen Gedicht­en vor allem als insta­bile Sta­bil­ität, als dauer­hafter Wan­del, als vergehende/bewegte/bewegende/fortschreitende Zeit präsent. Auch wenn oft ein recht pro­sais­ch­er Duk­tus vorherrscht, kaum Sprach­spiele oder aus­ge­fal­l­ene, gesuchte Bilder zu ent­deck­en und entschlüs­seln sind, ist das den­noch ger­ade in den Details oft sehr span­nend, in den kleinen Abwe­ichun­gen, den min­i­malen Störun­gen und poet­is­chen Sig­nalen (etwa bei der Wort­stel­lung, der Kom­maset­zung, der (unter­broch­enen) Rei­hung). Fast jedes Gedicht hat einen Moment, einen (Teil-)Satz, der beson­ders berührt, der beson­ders die Inten­sität (des Erlebens vor allem) ausstrahlt. Als „wegzehrung der erin­nerung“ (56) sind die Gedichte aber immer auch ein Ver­such, die Vergänglichkeit festzuhal­ten.

Viele dieser Meer-Gedichte funk­tion­ieren dabei wie ein „inneres fer­n­glas“ (56): der Blick auf die Land­schaft der Küste (ich glaube, das Wort “Küste” kommt dabei gar nicht vor, nur Meer, Sand, Wolken und Him­mel als Ele­mente des Über­gangsraums) ermöglicht und fördert den Blick nach innen, mit dem gle­ichen Instru­men­tar­i­um, das zugle­ich das große, weite Panora­ma erfasst und das kleine, maßge­bliche Detail. Und obwohl es oft um Vergänglichkeit und Abschied geht, um Ort- und Heimat­losigkeit, bleibt den Gedicht­en eine auf­fäl­lige Leichtigkeit eigen: Die Sprache bleibt lock­er, die Bilder beweglich, das Syn­taxge­füge flex­i­bel, die Begriffe immer konkret: „sie [d.i. die geschicht­en vom meer] lieben das offene / im ver­bor­ge­nen.“ (47) heißt es ein­mal — und damit ist Meth­ode Star­ck­es in Das Meer ist ein alter Bekan­nter, der warten kann als Mot­to ziem­lich genau beschrieben.

vielle­icht, dass sich
unterm meer ein
weit­eres meer ver­steckt
wie erin­nerun­gen im
sand der gedanken, die,
für geheimnisse offen,
momente von stille verkör­pern.
an seinen geräuschen, schlussverse (72)

Juli Zeh: Unter­leuten. München: Luchter­hand 2016. 508 Seit­en.

zeh, unterleuten (cover)

Juli Zehs Unter­leuten hält sich zwar hart­nächkig auf der Best­seller-Liste, ist aber eigentlich ein eher lang­weiliges, unbe­merkenswertes Buch. Das ist rou­tiniert erzählt und kann entsprechend mit unbeteiligter Neugi­er ohne nach­halti­gen Ein­dr­cuk gele­sen wer­den. Vieles in dem Plot — den ich jet­zt nicht nacherzäh­le — ist ein­fach zu abse­hbar. Dazu kommt noch ein erzäh­lerisches Prob­lem: Der Text wird mir per­ma­nent erhoben­em Zeigefin­ger erzählt, bei jed­er Fig­ur ist immer (und meist sofort) klar, was von ihr zu denken ist — das wird erzäh­lerich überdeut­lich gemacht. Dazu eignet sich der wech­sel­nde erzäh­lerischere Fokus der auk­to­ri­alen Erzäh­lerin natür­lich beson­ders gut. Das Schlusskapi­tel, in dem sie (bzw. eine ihrer Instanzen) als Jour­nal­istin, die Unter­leuten recher­chiert hat, auftritt und die Fäden sehr unel­e­gant zum Ende führt, zeigt sehr schön die fehlende künstlerische/poetische Imag­i­na­tion der Autorin: Das ist so ziem­lich die bil­lig­ste Lösung, einen Schluss zu find­en — und zugle­ich auch so über­aus unnötig … Ander­er­seits hat mich die erzäh­lerische Anlage schnell gen­ervt, weil das so deut­lich als die ein­fach­ste Möglichkeit erkennbar wir, alle Seit­en, Posi­tio­nen und Beteiligten des Kon­flik­ts in der Pseu­do-Tiefe darzustellen.

„[E]ine weitre­ichende Welt­be­tra­ch­tung, einen Gesellschaft­sro­man mit ein­er bestechen­den Vielfalt lit­er­arisch­er Ton­la­gen, voller Esprit und Tragik, Ironie und Drastik“, die Klaus Zeyringer im „Stan­dard“ beobachtet hat, kann ich da beim besten Willen nicht erken­nen. (Jörg Mage­nau hat die „Qual­itäten“ des Romans in der “Süd­deutschen Zeitung” bess­er und deut­lich­er gese­hen.) Let­ztlich bleibt Unter­leuten ein eher unspan­nen­der Dor­fkri­mi, der sich flott wegli­est, (mich) aber wed­er inhaltlich noch kün­st­lerisch beson­ders bere­ich­ern kon­nte. Schade eigentlich.

Sophie Rey­er: :nachkom­men nack­tkom­men. Wien: hochroth 2015. 34 Seit­en. ISBN 9783902871664.

Auch :nachkom­men nack­tkom­men ist wieder so ein Zufalls­fund, bei dem ich dem Ver­lag — hochroth — ver­traut habe … Sophie Rey­ers Gedichte sind knapp konzen­tri­erte Kurzzeil­er, die oft abgründig leicht sind, aber immer sehr auf den Punkt gedacht und for­muliert sind — beziehungsweise auf den Dop­pelpunkt als Gren­ze und Über­gang, der den Beginn aller Gedichte zeichen­haft markiert. Immer wieder fall­en mir die küh­nen, wilden, ja ger­adezu über­bor­den­den und über­schießen­den Bilder auf, die jeglich­er sprach­lich­er Ökonomie Hohne sprechen und die, so scheint es mir, manch­mal auch ein­fach nur um ihrer selb­st willen da sind. Außer­dem scheint Rey­er eine große Freude am Spiel mit Asso­nanzen und Allit­er­a­tio­nen zu haben. Über­haupt ist vielle­icht das Spiel, der spielerische Umgang mit Sprache und Ein­fällen trotz der The­men, die einen gewis­sen Hang zum Dunkeln aufweisen, beson­ders beze­ich­nend für ihre Lyrik.

Manch­es wirkt in :nachkom­men nack­tkom­men auch eher wie das spon­tane Notat ein­er Idee, wie eine Ein­fallsskizze im Notizbuch der Autorin und noch nicht wie ein fer­tiges Gedicht. Zweizeil­er wie der auf S. 27 zum Beispiel:

die kur­sivschrift des korn­felds
son­nen strahlen stenogra­phie

Inter­es­sant fand ich bei der Lek­türe auch, dass Takt und Rhyth­mus der Lyrik wieder­holt (im Text selb­st) anz­i­tiert wer­den, durch die Texte aber nur sehr bed­ingt (wenn über­haupt) umge­set­zt wer­den. Vielle­icht kommt daher auch der Ein­druck der Spon­tan­ität, des augen­blick­lichen Ein­falls …

:nachkom­men nack­tkom­men ist dabei ein typ­is­ches kleines hochroth-Bänd­chen — ich mag das ja, ich brauche nicht immer gle­ich 80–100 Seit­en Lyrik von ein­er Autorin, es reichen oft auch 20, 30 (kleinere) Texte. Und die Kaufhürde ist auch nicht so hoch, wenn das nur 8 Euro statt 25 sind … Zudem sind die hochroth-Pub­lika­tio­nen eigentlich immer schön gemacht, liebevoll und umsichtig gestal­tet. Die hier ist die erste, bei der mir typographis­che Fehler aufge­fall­en sind — ein nach unten „fal­l­en­des“ l, das ich auf sechs Seit­en ziem­lich wahl­los ver­streut gefun­den habe (aber wer weiß, vielle­icht ist das ja auch ein geheimes fea­ture der Texte, das sie auch ganz geschickt mit dem Para­text verbindet?).

Wolf von Kalck­reuth: schlum­mer­schwarze Nächte. Gedichte. Leipzig: hochroth 2015. 26 Seit­en. ISBN 978–3‑902871–67‑1.
Wolf Graf von Kalck­reuth: Gedichte und Über­tra­gun­gen. Her­aus­gegeben von Hell­mut Kruse. Hei­del­berg: Lam­bert Schnei­der 1962. 190 Seit­en.

kalckreuth, gedichte (cover)Über die schmale Auswahl beim feinen hochroth-Ver­lag bin ich eher zufäl­lig auf die Lyrik Wolf von Kalck­reuths gestoßen. Kalck­reuth ist gewis­ser­maßen eine tragis­che Fig­ur: 1887 in eine Mil­itär- und Kün­stler­fam­i­lie geboren, set­zt er seinem Leben bere­its 1906 ein Ende. Bis dahin war er in der Schule, hat sein Abitur gemacht, ist etwas gereist und dann — trotz eigentlich­er Nicht-Eig­nung — im Okto­ber 1906 auf eige­nen Wun­sch ins Mil­itär einge­treten, wo er es keine zehn Tage bis zu seinem Fre­itod aushielt. In dieser kurzen Leben­szeit ent­standen aber nicht nur eigene Gedichte, son­dern auch diverse (wichtige) Über­set­zun­gen der Lyrik Ver­laines und Baude­laires.

Erstaunlich ist in seinen Gedicht­en immer wieder die aus­ge­sprochen sichere (handw­erk­liche) Sprach- und Form­be­herrschung trotz des jun­gen Alters. Nicht immer und nicht alles ist wahnsin­nig orig­inell, vieles ist sehr deut­lich ein­er späten Spätro­man­tik ver­haftet, die aber durch die mal mehr, mal weniger zaghaften Ein­flüsse des Expres­sion­is­mus inter­es­sant wird. Viele sein­er Gedichte pen­deln sich gewis­ser­maßen in der Dialek­tik von Ver­fall und Sehn­sucht ein. Und aus ihnen spricht auch immer wieder das Bewusst­sein um die eigene (Ver-)Spätung, um Endzeit, Unter­gang, vor allem aber Ster­benswun­sch und Todessehn­sucht etc. — nicht ohne Grund spie­len die Däm­merung (und natür­lich die Nacht), der Abend und der Herb­st eine große Rolle in diesen Gedicht­en.

Aber was mich wirk­lich am meis­ten fasziniert hat, war doch die sorgsame Fügung der Gedichte, ger­ade der Sonette, die nahe an per­fek­te Gedichte her­an­re­ichen. Die hochroth-typ­isch sehr kleine Auswahl — 26 Seit­en inkl. Nach­wort! — hat mich dann immer­hin neugierig gemacht und mich zu der deut­lich umfan­gre­icheren Auswahl von 1962 greifen lassen. Da find­en sich natür­lich auch wieder viele faszinierende Sonette, aber auch inter­es­sante und anre­gende Gedichte, eigentlich ja Elo­gen, auf Napoleon, den Kalck­reuth wohl sehr bewun­derte. Und schließlich enthält der Band auch noch eine umfan­gre­iche Abteilung mit Über­set­zun­gen der Lyrik Ver­laines und Baude­laires, bei­de auch wesentliche Vor­bilder und Ein­flüsse Kalck­reuths.

Das Leben eilt zum Ziele wie eines Welt­stroms Flut
Die uns ins Meer ent­führt mit dun­klen Wogen­massen,
In schwindel­hafter Hast, die nie entschlum­mernd ruht,
Bis wir das eigne Herz erken­nen und erfassen. (72)

Annette Pehnt: Hier kommt Michelle. Ein Cam­pus­ro­man. München: Piper 2012. 140 Seit­en. ISBN 9783492300827.

pehnt, hier kommt michelle (cover)Eine nette kleine Satire — das heißt, ein schar­fer und bis­siger Text, der das deutsche Uni­ver­sitätssys­tem und ‑leben, ins­beson­dere aber die zeit­genös­sis­che Studieren­den­gener­a­tion gekon­nt auf­spießt. Nur not­dürftig fik­tion­al­isiert, bekom­men so ziem­lich alle ihr Fett weg: Die Studieren­den, die Lehren­den vom akademis­chen “Unter­bau” über den Mit­tel­bau bis zu den vertrot­tel­ten Emer­i­ti, von der Ver­wal­tung bis zur Presse und Poli­tik. Selb­st die Haupt­fig­ur, Michelle, ist so über­haupt nicht liebenswert, son­dern — natür­lich als Zer­rbild — eher ein abschreck­endes Beispiel der Ziel- und Ver­nun­ft­losigkeit als ein Iden­ti­fika­tion­sange­bot für den Lesen. Sehr schön fand ich den erzäh­lerischen Kun­st­griff, dass sich die Erzäh­lerin selb­st mit ihrer eige­nen Stimme wieder­holt ein­mis­cht und sich und ihren (?) Text im Text selb­st gle­ich mitkom­men­tiert (auf die eher unwitzige Her­aus­ge­ber­fik­tion hätte ich dafür gerne verzicht­en kön­nen).

Hier ist die Erzäh­lerin. Sie reibt sich die Hände, weil sie dieses harm­lose Mäd­chen mit groben Strichen ent­wor­fen hat und sich jet­zt schon, wo die Erfind­ung doch ger­ade erst zu leben begonnen hat, darauf freut, ihr Knüp­pel zwis­chen die Beine zu wer­fen. (13)

Trotz einiger handw­erk­lich­er Män­gel wie etwa einem schlecht gear­beit­eten Zeit­sprung oder ein­er etwas unge­fü­gen Makrostruk­tur ist Hier kommt Michelle ein­fach nett zu lesen, aber halt auch — der Umfang ver­rät es ja schon — recht dünn. Der Witz ist eben schnell ver­braucht, die Unter­hal­tung trägt auch nicht viel länger. Zum Glück hat Annette Pehnt das nicht über­mäßig aus­ge­walzt, denn viel mehr als diesen kleinen Text gibt die Grun­didee alleine wohl nicht her.

Das war auch eine wichtige Lek­tion: Nicht alles geht sie etwas an, es ist gut, allzu frem­den oder schwieri­gen Zusam­men­hän­gen nicht auf den Grund zu gehen, man muss sich zurück­hal­ten und sich auf das beschränken, was man ken­nt und kann, und das gilt auf jeden Fall auch für das Studi­um in Som­mer­stadt, das Michelle nun mit neuem Elan, aber auch ein­er Reife ange­ht, die sie schon am zweit­en Tag befähigt, zum Jun­gan­glis­ten zu gehen und zu fra­gen, ob er sie brauchen kann. (120)

außer­dem gele­sen:

  • Philipp Tin­gler: Juwe­len des Schick­sals. Kurze Prosa. Zürich: Kein und Aber 2005.
  • Georges Bataille: Der große Zeh. Hrsg. & übers. von Vales­ka Bertonci­ni. Berlin: blauw­erke 2015 (split­ter 01). 80 Seit­en.
  • Rain­er Hoff­mann: Abduk­tio­nen, Aber­ra­tio­nen I. Bern: edi­tion taber­na kri­ti­ka 2011. 57 Seit­en.

Ins Netz gegangen (9.12.)

Ins Netz gegan­gen am 9.12.:

  • 30. Neo­histofloxikon oder Neue Floskeln braucht das Land | Geschichte wird gemacht — achim landwehr wird grund­sät­zlich:

    Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Ver­gan­gen­heit und Geschichte mal etwas durchzuschüt­teln und auf den grund­sät­zlichen Prüf­s­tand zu stellen.

  • Who is afraid of jazz? | JazzZeitung — “Wer hätte gedacht, dass ich sog­ar Bruck­n­er ein­mal span­nen­der und frenetis­ch­er find­en würde als neuen Jazz!”
  • Essay: Schläfrig gewor­den — DIE WELT — er osteu­ropa-his­torik­er karl schlögel wider­spricht in der “welt” den ver­fassern & unterze­ich­n­ern des aufrufes “wieder krieg in europa?” — meines eracht­ens mit wichti­gen argu­menten:

    Denn in dem Aufruf ist neben vie­len All­ge­mein­plätzen, die die Eigen­schaft haben, wahr zu sein, von erstaunlichen Din­gen die Rede. So lautet der erste Satz: “Nie­mand will Krieg” – so als gäbe es noch gar keinen Krieg. Den gibt es aber. Rus­sis­che Trup­pen haben die Krim beset­zt
    […] Aber­mals ist vom “Nach­barn Rus­s­land” die Rede: Wie muss die Karte Europas im Kopf der­er ausse­hen, die so etwas von sich geben oder mit ihrer Unter­schrift in Kauf nehmen! Pein­lich – und wahrschein­lich in der Eile von den viel beschäftigten, ern­sthaften Unterze­ich­n­ern nicht zur Ken­nt­nis genom­men – die Behaup­tung, Rus­s­land sei seit dem Wiener Kongress Mit­gestal­ter der europäis­chen Staaten­welt. Das geht viel weit­er zurück, wie auch Laien wis­sen, die schon von Peter dem Großen gehört haben. Und aus­gerech­net die Heilige Allianz zu zitieren, mit der die Teilung Polens zemen­tiert, die pol­nis­chen Auf­stände niederge­wor­fen und die 1848er-Rev­o­lu­tion bekämpft wor­den ist – das passt nicht gut zur Ern­sthaftigkeit eines um den Dia­log bemüht­en Unternehmens. Vom Molo­tow-Ribben­trop-Pakt – eine zen­trale Erfahrung aller Völk­er “dazwis­chen” und im 75. Jahr der Wiederkehr des Ver­trages, der den Zweit­en Weltkrieg möglich gemacht hat – ist im Text gar nicht die Rede, ein­fach zur Seite geschoben, “ver­drängt”.

  • Was bewegt Yvan Sag­net?: Hoff­nung der Sklaven | ZEIT ONLINE -

    Arbeit­er aus dem Sudan, aus Burk­i­na Faso, aus Mali, aus fast jedem Land Afrikas. In dreck­i­gen Män­teln suchen sie vor den Müll­haufen nach Ver­w­ert­barem. Es ist, als würde man durch einen düsteren, apoka­lyp­tis­chen Roman von Cor­mac McCarthy fahren. An den Feld­we­gen, die von den Land­straßen abge­hen, ste­hen Pros­ti­tu­ierte. Rumänin­nen und Bul­gar­in­nen. So sieht es aus, das Herz der ital­ienis­chen Tomaten­pro­duk­tion.

    — fritz schaap in der zeit über den ver­such des gew­erkschafters yvan sag­net, die mis­er­ablen bedin­gun­gen der arbeit­er in ital­ien, v.a. der ern­te­helfer, zu verbessern. der sagt u.a.

    “Der Käufer muss wis­sen: Wenn er in den Super­markt geht und ein Kilo­gramm ital­ienis­che Tomat­en für achtzig Cent kauft, dann wur­den diese Tomat­en von mis­er­abel ent­lohn­ten Arbeit­ern geern­tet, die man ohne Weit­eres als mod­erne Sklaven beze­ich­nen kann.”

  • Eine wichtige Infor­ma­tion der Vere­inigten Geheim­di­en­ste — YouTube — Bet­ter no Let­ter: Eine wichtige Infor­ma­tion der Vere­inigten Geheim­di­en­ste (siehe auch: The U.S.S.A. says: BETTER NO LETTER!)
  • Union kri­tisiert Ramelow-Wahl in Thürin­gen: Ver­lo­gene Heul­susen | tagesschau.de — wow, bei der ARD & der Tagess­chau ist jemand genau­so angewidert vom Ver­hal­ten der CDU in Thürin­gen wie ich
  • Forschung: So will doch kein­er arbeit­en! | ZEIT ONLINE — Forschung: So will doch kein­er an Unis arbeit­en! — Dieses Mal mit ein­er His­torik­erin
  • Zer­schla­gen, aber im Samm­lungskon­text erschließbar: In der Bay­erischen Staats­bib­lio­thek wurde über den Ankauf des Schott-Archivs informiert | nmz — neue musikzeitung — Zer­schla­gen, aber im Samm­lungskon­text erschließbar: Die Bestände des Archivs des Schott-Ver­lages teilen sich kün­ftig auf die Staats­bib­lio­theken München und Berlin sowie sechs Forschung­sein­rich­tun­gen auf. Über den Kauf­preis wurde Stillschweigen vere­in­bart.
  • So ent­stand der Mythos der “Trüm­mer­frauen” — Poli­tik — Süddeutsche.de — die sz lässt sich von der his­torik­erin leonie tre­ber noch ein­mal erk­lären, woher die “trüm­mer­frauen” kom­men:

    Es wurde ein äußerst pos­i­tives Bild dieser Frauen ver­mit­telt: Dass sie sich frei­willig und mit Freude in die harte Arbeit stürzen und den Schutt wegräu­men, um den Wieder­auf­bau voranzutreiben. Die PR war auch enorm wichtig, weil die Trüm­mer­räumer — wie zuvor erwäh­nt — stig­ma­tisiert waren und solche schw­eren Jobs bis dahin eigentlich nicht von Frauen erledigt wer­den soll­ten. Deshalb wurde das Bild der “Trüm­mer­frau” pos­i­tiv aufge­laden mit den Stereo­typen, die wir noch heute mit dem Begriff verbinden.

  • Mainz­er Schott-Musikver­lag: His­torisches Archiv wird öffentlich zugänglich — Rhein­land-Pfalz | SWR.de — “opti­male Erschließung” = Zer­störung des Zusam­men­hangs. Schott-Musikver­lag: Archiv wird öffentlich zugänglich
  • Hat die Jugend keinen Ehrgeiz mehr? | Blog Mag­a­zin — philipp tin­gler über die gegen­wart, die kul­tur und den ehrgeiz zum glück:

    Gegen­wär­tig leben wir in ein­er Gesellschaft, die Selb­st­per­fek­tion­ierung, die Arbeit am Ich, als Selb­st­genuss pos­tuliert; ein­er der let­zten Leitwerte in der irre­duz­i­blen Vielfalt der uns allen­thal­ten umgebe­nen Kontin­gen­zkul­tur ist: Authen­tiz­ität. Dafür ste­ht auch Diane von Fürsten­berg. Die Biografie als Pro­jekt. Wenn jet­zt also plöt­zlich alle aus ihrem Leben ein Kunst­werk machen wollen, dann ist das nicht nur ein ethis­ch­er, son­dern auch ein sehr ehrgeiziger Imper­a­tiv: Lebenswel­ten und ‑for­men wer­den ambi­tion­iert durchäs­thetisiert, und das Pathos der Selb­ster­schaf­fung richtet sich auf die bei­den grossen Ziele der Post­wach­s­tums­ge­sellschaft: Spass und Glück.
    […] Wir sehen also, dass Ehrgeiz dur­chaus nicht ver­schwun­den ist, son­dern sich nur verir­rt hat.

    seine ther­a­pie ist übri­gens ziem­lich ein­fach (und wahrschein­lich gar nicht so verkehrt): selb­stironie als die “schön­ste Form der Eigen­liebe”

  • Duden | Kon­rad-Duden-Preis 2014 geht an Damaris Nübling | — Der Kon­rad-Duden-Preis 2014 geht an @DFDmainz-Projektleiterin Damaris Nübling
  • E‑Books: Wir sind die Fährten­leser der neuen Lit­er­atur — Büch­er — FAZ — elke heine­mann über die vielfalt der neuen (kleine) e‑book-ver­lage:

    Dich­tung ist längst auch dig­i­tal: Auf der Suche nach E‑Books abseits des Main­streams führt der Weg in Deutsch­land vor allem nach Berlin. Doch die engagierten Spezialver­lage haben auch spezielle Prob­leme.

  • Gen­der-Debat­te: Anschwellen­der Ekelfak­tor | ZEIT ONLINE — wun­der­bar: robin det­je rech­net gnaden­los mit den kolum­nen­het­zern #ulfhar­ald­jan­matthias aber (schade nur, dass das bei der @Zeit wieder nie­mand lesen wird und har­ald deshalb weit­er die leser­schaft vergiften darf):

    Heute tobt die Schlussstrichde­bat­te Fem­i­nis­mus. Ende: nicht abzuse­hen. Alternde Män­ner an vorder­ster Front. Hoher Unter­hal­tungswert, aber auch anschwellen­der Ekelfak­tor. Die Argu­men­ta­tion wieder faszinierend: Fem­i­nis­mus gibt es inzwis­chen doch schon so lange, das nervt, Frauen ner­ven ja immer, und die Frauen wollen offen­bar tat­säch­lich, dass wir Män­ner unser Ver­hal­ten ändern, weshalb jet­zt wir die eigentlichen Opfer sind.
    […] Und deshalb husch, husch, ihr allmän­ner­mächti­gen Diskurs­be­herrsch­er, zurück in eure Eck­kneipe. Die jet­zt lei­der von einem Gen­der-Stud­ies-Les­ben‑, Transen- und X‑trupp über­nom­men wird, und ihr schiebt für eine Weile in der Küche Abwasch­di­enst.

    Entschuldigung, aber das wird man sich als aufgek­lärter, älter­er deutsch­er Mann doch noch wün­schen dür­fen.

  • “Fem­i­nis­mus kann niemals Lifestyle sein” • Denkw­erk­statt — gabriele michal­itsch im inter­view mit eini­gen sehr richti­gen beobach­tun­gen:

    Fem­i­nis­mus kann niemals Lifestyle sein, Fem­i­nis­mus ist immer poli­tisch. Wenn die Medi­en eine solche Diskus­sion befeuern, ist das eine Form von Antifem­i­nis­mus und der Ver­such, den Begriff Fem­i­nis­mus zu vere­in­nah­men, ihm seine poli­tis­che Rel­e­vanz abzus­prechen. Fem­i­nis­mus war zudem nie män­ner­feindlich, er wurde immer auch von Män­nern mit­ge­tra­gen. Wenn, dann wen­det er sich gegen bes­timmte Konzep­tio­nen von Männlichkeit – wie auch Weib­lichkeit. Wäre dieser ange­blich neue Fem­i­nis­mus nicht Gegen­stand öffentlich­er Debat­ten, müssten wir uns erst gar nicht damit auseinan­der­set­zen – in meinen Augen ist das eine antifem­i­nis­tis­che Strate­gie.

    und später auf den punkt gebracht:

    Wenn Fem­i­nis­mus auf Kar­riere mit Kindern reduziert wird, ist das das Ende des Fem­i­nis­mus.

Die Liebe des Lesens und der Bücher

Über die Liebe des Lesens und der Büch­er hat Charles Dantzig ein nettes, unter­halt­sames Buch geschrieben. Eigentlich ist es gar kein Buch, son­dern die Samm­lung von kleinen Tex­ten, die der franzö­sis­che Schrift­steller schon woan­ders pub­liziert hat­te. Unter dem Titel Wozu Lesen? hat der Stei­dl-Ver­lag das als ein schönes Buch her­aus­ge­bracht.

Wozu Lesen? ist in aller erster Lin­ie ein absolutes, unbe­d­ingtes Glaubens­beken­nt­nis zum Lesen, ein Lobpreis, eine Seligsprechung: Gott ist nicht nur lesend, “Gott ist auf der Bib­lio­thek­sleit­er” (28) — der Gott der Lek­türe näm­lich. Die Lek­türe ist es, die den lesenden Men­schen verän­dert, begeis­tert und fasziniert: Immer wieder denkt Dantzig (sich und alle ern­sthaften) den Leser als ein empathisch-denk­enden Leser, einen empfänglichen Leser: Empfänglich in dem Sinne, das er offen für die Schön­heit eines Textes, eines einzel­nen Satzes oder eines bloßen Wortes ist …

Deshalb ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass er zu dem Schluss kommt:

Wir lesen aus purem Ego­is­mus, bewirken damit jedoch unge­wollt etwas Altru­is­tis­ches. Denn durch unsere Lek­türe hauchen wir einem schlafend­en Gedanken neues Leben ein. (32)

Das Vergnü­gen am Lesen selb­st, am Vor­gang des Entz­if­fern, Aufnehmen, Absorbieren, Ver­wan­deln, zu-eigen-machen — also am mitleben­den Lesen bes­timmt seine Kaskade möglich­er Antworten auf die zen­trale Frage des Ban­des, näm­lich: Wozu ist das Lesen gut? Und was macht es mit uns? Zum Beispiel das hier:

Man liest ein Buch nicht um der Geschichte willen, man liest ein Buch, um mit seinem Autor ein Tänzchen zu wagen. (41)

Dantzig sam­melt hier lauter kleine und kle­in­ste Miniatur-Essays, die meist von eige­nen Lek­türe-Erleb­nis­sen Dantzigs (die er unge­heuer präsent zu haben scheint) aus­ge­hen und oft nur ein etwas aus­ge­führter Gedanke oder Ein­fall sind, ver­packt in ein­er grif­fi­gen Sen­tenz oder For­mulierung. Zum Beispiel klingt das so:

Die Leute beste­hen auf ihre Gedanken­losigkeit. Dabei sind wir nur,[sic] während wir lesen, vor der Päd­a­gogik sich­er. (43)1

Immer wieder man­i­festiert sich in diesen Notat­en (die mich in manchem an Hen­ning Rit­ters Notizhefte erin­nerten) die Ideee, gegen sich selb­st zu lesen, sich selb­st beim Lesen, durch das Lesen, mit dem Lesen in Frage zu stellen — also Neues zu pro­bieren, Argu­mente auszutesten, Bücher/Autoren wieder­holt zu lesen, um eine Abnei­gung zu über­winden … Im Grund ist das also das klas­sis­che Lek­türe-Argu­ment schlechthin: Lesen ermöglicht es, Alter­na­tiv­en zum Leben und der Welt zu erfahren und ken­nen zu ler­nen, sich selb­st auszupro­bieren in der Phan­tasie : “Stellen Sie sich selb­st in Frage. Stellen Sie das in Frage, was SIe in diesem Moment lesen.” (66), — ja, genau, das gilt natür­lich auch für diese Sen­ten­zen, die Dantzigschen Schluss-Moral­itäten sein­er Kurz­texte selb­st:

Die einzige Fage, die man sich im Hin­blick auf einen Chef stellen sollte, lautet: Würde er die Bib­lio­thek von Alexan­dria anzün­den? […] Man möge lieber meine Büch­er ver­bren­nen als Men­schen. (50)

Egal, welche der vie­len Modi des Lesens Dantzigs reflek­tiert und preisend betra­chtet — leicht­es und schw­eres Lesen, spielerisches und ern­stes, unter­hal­tendes und forschen­des: Immer ist das Lesen und Sein Leser begeis­terungs- und liebesfähig. Selb­st in der Ablehnung schlechter Büch­er (es ist wohl kein Zufall, dass ein Leser (und Schrift­steller) wie Dantzig, dem es so sehr (fast auss­chließlich) auf die empathis­che Lek­türe ankommt, von Büch­ern und nicht von Tex­ten spricht).

Wozu Lesen? selb­st ist übri­gens ein schönes Buch, bei dem Innen und Außen in gewiss­er Weise zur Deck­ung kom­men — da merkt man die Hand des Ver­legers … Und es ist ein Buch, wie es vielle­icht wirk­lich nur ein Fran­zose schreiben kann (um dieses nation­atlis­tis­che Klis­chee auch ein­mal zu bedi­enen=: leicht und ele­gant, mit Tief­gang, aber unaufgeregt, nie über­he­blich, dafür immer lustvoll — voller Lust an den Lek­türen, die zu diesen Tex­ten führten und voller Lust am Schreiben — und damit sprühend vor Lust am Ver­führen zum Lesen. Denn das ist ja das große, hehre und einzige Ziel dieses Buch­es: Nicht nur über das Lesen, seine viel­er­lei Vor- und Nachteile, zu sin­nieren, son­dern vor allem zum lustvollen, erfüll­ten Lesen anre­gen: “Leben ist Prosa, keine Poe­sie.” (63) — Vielle­icht, vielle­icht aber auch nicht — wenn man nur genug liest …

Charles Dantzig: Wozu Lesen? Göt­tin­gen: Stei­dl 2011. 205 Seit­en. 16 Euro. ISBN 9783869303666.

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  1. Die Kom­maset­zung ist hier ein echt­es Ver­brechen am Text, das ich aber der Über­set­zerin und nicht dem Autor anlaste …

eine “theorie der unbildung”?

soviel gle­ich vor­weg: eine the­o­rie der unbil­dung hat kon­rad paul liess­mann nicht geschrieben — auch wenn er seinen groß-essay so über­ti­tel hat. was er aber sehr schön und pointiert macht: mit dem mythos, eine wis­sens­ge­sellschaft zeichne sich durch viel und hohe bil­dung aus, gründlich aufzuräu­men. er tut dies dur­chaus sehr pointiert. wenn auch nicht außergewöhn­lich orig­inell.

am her­vorstechend­sten ist schon seine analyse der augen­blick­lichen mis­ere (auch er muss natür­lich anerken­nen, dass sich das sys­tem der (aus-)bildung per­ma­nent in der krise befind­et) als eine erschei­n­ung der unbil­dung, die — im gegen­satz zu den refor­mver­suchen der nachkriegszeit — vol­lkom­men auf den anschluss an den begriff der bil­dung verzichtet, auch in der nega­tion nicht mehr auf ihn rekur­ri­ert (und damit unter­schieden ist von dem, was liess­mann in anschluss an adorno als halb­bil­dung klas­si­fiziert).

von dort aus ist es liess­mann dann ein leicht­es, einige der gröberen missstände anzuprangern und vorzuführen: das unen­twegte schie­len nach ran­glis­ten­po­si­tio­nen etwa, dass mit bil­dung nie etwas zu tun haben kann, da diese als qual­ität prinzip­iell nicht quan­tifizier­bar sei und damit auch nicht in ran­glis­ten oder ähn­lich ord­nun­gen über­führt wer­den könne. oder die krankheit der eval­u­a­tion, die auf dem gle­ichen missver­ständ­nis beruht, zusät­zlich allerd­ings beson­ders deut­lich auch noch geheime nor­ma­tive vor­gaben (schon durch die art der fra­gen) entwick­elt und etabliert. und immer wieder: der gegen­satz von wis­sen als ver­füg­barkeit von infor­ma­tion­spar­tikeln und bil­dung (im klas­sis­chen, human­is­tis­chen sinn, unter direk­tem rück­griff auf wil­helm von hum­boldts ideen und ide­ale).

der man­gel an diesem ver­such wie bei allen ähn­lichen unternehmungen: sie kom­men immer zu spät (ein vor­wurf, der liess­mann unbe­d­ingt tre­f­fen muss — er ist schließlich teil des miss­standes), sie sind immer zu gebildet und speziell, um gehört zu find­en. und hat dur­chaus auch einige lose enden (zum beispiel bei seinem angriff auf die rechtschreibre­form — warum die neue rechtschrei­bung unbe­d­ingt weniger ästhetisch sein soll als die alte erschließt sich mir über­haupt nicht — vielle­icht bin ich dafür aber auch zu sehr prag­matik­er). alles in allem: eine lesen­werte stre­itschrift für bil­dung und gegen die ver­dum­mungs­be­mühun­gen der informierten wis­sens­ge­sellschaft.

kon­rad paul liess­mann: the­o­rie der unbil­dung. wien: zsol­nay 2006.

bei der taz gibt es online ein inter­view von robert misik mit liess­mann.

und noch ein p.s.: wie frag­il und flüchtig wis­sen auch in der soge­nan­nten wis­sens­ge­sellschaft (oder ger­ade hier) ist, lässt sich an liess­man­ns büch­lein exzel­lent beobacht­en: das ist näm­lich grot­ten­schlecht geset­zt — unter mis­sach­tung der eigentlich immer noch gülti­gen satzregeln. zum beispiel habe ich sel­ten ein buch eines immer­hin renom­mierten ver­lags gele­sen, in dem es der­maßen auf­fäl­lig von schus­ter­jun­gen wim­melt. und in dem es nicht nur ein­mal vorkommt, dass fußnoten nicht nur auf der falschen seite, son­dern tat­säch­lich auf der falschen dop­pel­seite platziert sind (also zwis­chen dem fußnoten­ze­ichen und der fußnote ein zwangsweis­es umblät­tern liegt) — so ein mist sollte doch eigentlich jedem lehrling in der ersten woche abgewöh­nt wor­den sein …

p.p.s.: ganz passend habe ich ger­ade auf tele­po­lis ein artikel gefun­den, der hier per­fekt passt (vor allem zu liess­man­ns viertem kapi­tel, der wahn der ran­gliste): „die welt in zahlen — Rank­ings gehören zu den wirk­mächtig­sten Mythen des neolib­eralen All­t­ags”. dort heißt es unter anderem: „Rank­ings for­men die Wirk­lichkeit, die sie zu messen vorgeben”. anson­sten ste­ht da (wie so oft) kaum etwas bemerkenswertes drin. aber die koinzi­denz mit mein­er lek­türe war doch wieder ein­mal bemerkenswert …

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