Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: gegenwart

Ins Netz gegangen (11.2.)

Ins Netz gegan­gen am 11.2.:

  • Lit­er­atur­blogs: Dieses Buch wird Ihr Leben verän­dern! | Zeit — ana maria michel schreibt am mythos der guten, objek­tiv­en lit­er­aturkri­tiken in (zeitungs)feuilletons und der schlecht­en, sub­jek­tiv­en wer­ben­den besprechun­gen in blogs und youtube-kanälen fort. eines der kri­te­rien ihres ziem­lich unzulänglichen textes: in blogs gäbe es nur pos­i­tive, lobende besprechun­gen — als ob das in feuil­leton anders wäre!
  • Stradi­vari: Frau Gen­er­al lässt bit­ten | ZEIT ONLINE — wol­fram goertz kann sich nicht einkriegen vor begeis­terung, dass frank peter zim­mer­mann für drei jahre eine neue geige hat.
  • Der Online-Freud — alle 17 bände der “gesam­melten werke” von freud gibt es hier online: zum lesen im brows­er oder als pdf- bzw. epub-down­load.
  • Open Access zer­stört die Wis­senschaft. Meint Urs Heftrich in der FAZ. | LIBREAS.Library Ideas — ben kaden set­zt der ver­lagspro­pa­gan­da der faz ent­ge­gen

    fak­tisch ist die Bedro­hung des wis­senschaftlichen Ver­lagswe­sens durch Open Access und Zweitveröf­fentlichungsrechte keines­falls so akut, wie sie ihren Lesern glauben machen wollen. Zum Diskurs gehört also auch, darauf hinzuweisen. Ursäch­lich für einen Rück­gang bei den Erwer­bun­gen sind sich­er nicht vor­rangig die Repos­i­to­rien und Open-Access-Ver­lage, son­dern vielmehr die grotesken Preis­steigerung der STEM-Monop­o­lis­ten sowie Kürzun­gen in den Bib­lio­thek­se­tats. Wie sehr würde man sich über regelmäßige, gern auch scharfe Feuil­leton-Beiträge aus Hei­del­berg gegen die Preis­poli­tik von Else­vi­er und für die bessere finanzielle Ausstat­tung von deutschen Hochschul­bib­lio­theken freuen.

  • Deutsch­land: Off Duty | NEO MAGAZIN ROYALE mit Jan Böh­mer­mann — ZDF­neo — YouTube — so bescheuert, dass es schon wieder gut ist: jan böh­mer­manns neuestes video “Deutsch­land: Off Duty”
  • Geschichte der Gegen­wart — “eine Gruppe von Geistes- und Kultur­wis­sen­schaft­le­rInnen” v.a. aus zürich startete ger­ade die “Geschichte der Gegen­wart” als plat­tform, um sich in die öffentliche diskus­sion einzu­mis­chen.

    Texte, in denen die Gegen­wart nicht verneint wird durch das, was man immer schon zu wis­sen glaubt, son­dern zugäng­lich wird durch das, was man erschließen und rekon­stru­ieren, erörtern und analy­sieren, begreifen und ein­schätzen ler­nen kann.

    Gegen­wart liegt nicht ein­fach vor, son­dern sie passiert, wobei sie sich unser­er Aufmerk­sam­keit laufend wieder entzieht… Hal­ten wir sie fest! Dabei gilt: Wie sie passiert und was in ihr passiert, fol­gt aus all ihren Vergan­gen­heiten, die nicht abgeschlossen sind.

    Geschichte der Gegen­wart bietet bewusst keine Möglich­keit, Artikel unmit­telbar zu kommen­tieren. Diese heute so verbrei­tete Form der medi­alen Öffent­lich­keit hat u. E. den Nach­weis ihrer publi­zis­ti­schen Unabding­bar­keit und politi­schen Produk­ti­vität bis­lang nicht erbrin­gen kön­nen, son­dern öffnete das Feld nicht zulet­zt dem ungefil­terten Vorur­teil, der Ranküne und der blossen Mutmas­sung, die sich um Argu­mente nicht zu küm­mern braucht.

    kön­nte inter­es­sant wer­den …

  • Stel­lung­nahme zu “Siegerkun­st” | ideen­frei­heit — wolf­gang ull­rich berichtet per­ver­sitäten des urhe­ber­rechts: künstler_innen nutzen das zunehmend, um abbil­dun­gen ihrer (öffentlich aus­gestell­ten) werke in pub­lika­tio­nen, die ihnen nicht gefall­en, zu ver­hin­dern und somit eine wis­senschaftliche auseinan­der­set­zung (fast) unmöglich machen. und das spiel kann man bis zu 70 jahre nach dem tod der urhe­berin­nen weit­er­spie­len …

Ins Netz gegangen (9.12.)

Ins Netz gegan­gen am 9.12.:

  • 30. Neo­histofloxikon oder Neue Floskeln braucht das Land | Geschichte wird gemacht — achim landwehr wird grund­sät­zlich:

    Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Ver­gan­gen­heit und Geschichte mal etwas durchzuschüt­teln und auf den grund­sät­zlichen Prüf­s­tand zu stellen.

  • Who is afraid of jazz? | JazzZeitung — “Wer hätte gedacht, dass ich sog­ar Bruck­n­er ein­mal span­nen­der und frenetis­ch­er find­en würde als neuen Jazz!”
  • Essay: Schläfrig gewor­den — DIE WELT — er osteu­ropa-his­torik­er karl schlögel wider­spricht in der “welt” den ver­fassern & unterze­ich­n­ern des aufrufes “wieder krieg in europa?” — meines eracht­ens mit wichti­gen argu­menten:

    Denn in dem Aufruf ist neben vie­len All­ge­mein­plätzen, die die Eigen­schaft haben, wahr zu sein, von erstaunlichen Din­gen die Rede. So lautet der erste Satz: “Nie­mand will Krieg” – so als gäbe es noch gar keinen Krieg. Den gibt es aber. Rus­sis­che Trup­pen haben die Krim beset­zt
    […] Aber­mals ist vom “Nach­barn Rus­s­land” die Rede: Wie muss die Karte Europas im Kopf der­er ausse­hen, die so etwas von sich geben oder mit ihrer Unter­schrift in Kauf nehmen! Pein­lich – und wahrschein­lich in der Eile von den viel beschäftigten, ern­sthaften Unterze­ich­n­ern nicht zur Ken­nt­nis genom­men – die Behaup­tung, Rus­s­land sei seit dem Wiener Kongress Mit­gestal­ter der europäis­chen Staaten­welt. Das geht viel weit­er zurück, wie auch Laien wis­sen, die schon von Peter dem Großen gehört haben. Und aus­gerech­net die Heilige Allianz zu zitieren, mit der die Teilung Polens zemen­tiert, die pol­nis­chen Auf­stände niederge­wor­fen und die 1848er-Rev­o­lu­tion bekämpft wor­den ist – das passt nicht gut zur Ern­sthaftigkeit eines um den Dia­log bemüht­en Unternehmens. Vom Molo­tow-Ribben­trop-Pakt – eine zen­trale Erfahrung aller Völk­er “dazwis­chen” und im 75. Jahr der Wiederkehr des Ver­trages, der den Zweit­en Weltkrieg möglich gemacht hat – ist im Text gar nicht die Rede, ein­fach zur Seite geschoben, “ver­drängt”.

  • Was bewegt Yvan Sag­net?: Hoff­nung der Sklaven | ZEIT ONLINE -

    Arbeit­er aus dem Sudan, aus Burk­i­na Faso, aus Mali, aus fast jedem Land Afrikas. In dreck­i­gen Män­teln suchen sie vor den Müll­haufen nach Ver­w­ert­barem. Es ist, als würde man durch einen düsteren, apoka­lyp­tis­chen Roman von Cor­mac McCarthy fahren. An den Feld­we­gen, die von den Land­straßen abge­hen, ste­hen Pros­ti­tu­ierte. Rumänin­nen und Bul­gar­in­nen. So sieht es aus, das Herz der ital­ienis­chen Tomaten­pro­duk­tion.

    — fritz schaap in der zeit über den ver­such des gew­erkschafters yvan sag­net, die mis­er­ablen bedin­gun­gen der arbeit­er in ital­ien, v.a. der ern­te­helfer, zu verbessern. der sagt u.a.

    “Der Käufer muss wis­sen: Wenn er in den Super­markt geht und ein Kilo­gramm ital­ienis­che Tomat­en für achtzig Cent kauft, dann wur­den diese Tomat­en von mis­er­abel ent­lohn­ten Arbeit­ern geern­tet, die man ohne Weit­eres als mod­erne Sklaven beze­ich­nen kann.”

  • Eine wichtige Infor­ma­tion der Vere­inigten Geheim­di­en­ste — YouTube — Bet­ter no Let­ter: Eine wichtige Infor­ma­tion der Vere­inigten Geheim­di­en­ste (siehe auch: The U.S.S.A. says: BETTER NO LETTER!)
  • Union kri­tisiert Ramelow-Wahl in Thürin­gen: Ver­lo­gene Heul­susen | tagesschau.de — wow, bei der ARD & der Tagess­chau ist jemand genau­so angewidert vom Ver­hal­ten der CDU in Thürin­gen wie ich
  • Forschung: So will doch kein­er arbeit­en! | ZEIT ONLINE — Forschung: So will doch kein­er an Unis arbeit­en! — Dieses Mal mit ein­er His­torik­erin
  • Zer­schla­gen, aber im Samm­lungskon­text erschließbar: In der Bay­erischen Staats­bib­lio­thek wurde über den Ankauf des Schott-Archivs informiert | nmz — neue musikzeitung — Zer­schla­gen, aber im Samm­lungskon­text erschließbar: Die Bestände des Archivs des Schott-Ver­lages teilen sich kün­ftig auf die Staats­bib­lio­theken München und Berlin sowie sechs Forschung­sein­rich­tun­gen auf. Über den Kauf­preis wurde Stillschweigen vere­in­bart.
  • So ent­stand der Mythos der “Trüm­mer­frauen” — Poli­tik — Süddeutsche.de — die sz lässt sich von der his­torik­erin leonie tre­ber noch ein­mal erk­lären, woher die “trüm­mer­frauen” kom­men:

    Es wurde ein äußerst pos­i­tives Bild dieser Frauen ver­mit­telt: Dass sie sich frei­willig und mit Freude in die harte Arbeit stürzen und den Schutt wegräu­men, um den Wieder­auf­bau voranzutreiben. Die PR war auch enorm wichtig, weil die Trüm­mer­räumer — wie zuvor erwäh­nt — stig­ma­tisiert waren und solche schw­eren Jobs bis dahin eigentlich nicht von Frauen erledigt wer­den soll­ten. Deshalb wurde das Bild der “Trüm­mer­frau” pos­i­tiv aufge­laden mit den Stereo­typen, die wir noch heute mit dem Begriff verbinden.

  • Mainz­er Schott-Musikver­lag: His­torisches Archiv wird öffentlich zugänglich — Rhein­land-Pfalz | SWR.de — “opti­male Erschließung” = Zer­störung des Zusam­men­hangs. Schott-Musikver­lag: Archiv wird öffentlich zugänglich
  • Hat die Jugend keinen Ehrgeiz mehr? | Blog Mag­a­zin — philipp tin­gler über die gegen­wart, die kul­tur und den ehrgeiz zum glück:

    Gegen­wär­tig leben wir in ein­er Gesellschaft, die Selb­st­per­fek­tion­ierung, die Arbeit am Ich, als Selb­st­genuss pos­tuliert; ein­er der let­zten Leitwerte in der irre­duz­i­blen Vielfalt der uns allen­thal­ten umgebe­nen Kontin­gen­zkul­tur ist: Authen­tiz­ität. Dafür ste­ht auch Diane von Fürsten­berg. Die Biografie als Pro­jekt. Wenn jet­zt also plöt­zlich alle aus ihrem Leben ein Kunst­werk machen wollen, dann ist das nicht nur ein ethis­ch­er, son­dern auch ein sehr ehrgeiziger Imper­a­tiv: Lebenswel­ten und ‑for­men wer­den ambi­tion­iert durchäs­thetisiert, und das Pathos der Selb­ster­schaf­fung richtet sich auf die bei­den grossen Ziele der Post­wach­s­tums­ge­sellschaft: Spass und Glück.
    […] Wir sehen also, dass Ehrgeiz dur­chaus nicht ver­schwun­den ist, son­dern sich nur verir­rt hat.

    seine ther­a­pie ist übri­gens ziem­lich ein­fach (und wahrschein­lich gar nicht so verkehrt): selb­stironie als die “schön­ste Form der Eigen­liebe”

  • Duden | Kon­rad-Duden-Preis 2014 geht an Damaris Nübling | — Der Kon­rad-Duden-Preis 2014 geht an @DFDmainz-Projektleiterin Damaris Nübling
  • E‑Books: Wir sind die Fährten­leser der neuen Lit­er­atur — Büch­er — FAZ — elke heine­mann über die vielfalt der neuen (kleine) e‑book-ver­lage:

    Dich­tung ist längst auch dig­i­tal: Auf der Suche nach E‑Books abseits des Main­streams führt der Weg in Deutsch­land vor allem nach Berlin. Doch die engagierten Spezialver­lage haben auch spezielle Prob­leme.

  • Gen­der-Debat­te: Anschwellen­der Ekelfak­tor | ZEIT ONLINE — wun­der­bar: robin det­je rech­net gnaden­los mit den kolum­nen­het­zern #ulfhar­ald­jan­matthias aber (schade nur, dass das bei der @Zeit wieder nie­mand lesen wird und har­ald deshalb weit­er die leser­schaft vergiften darf):

    Heute tobt die Schlussstrichde­bat­te Fem­i­nis­mus. Ende: nicht abzuse­hen. Alternde Män­ner an vorder­ster Front. Hoher Unter­hal­tungswert, aber auch anschwellen­der Ekelfak­tor. Die Argu­men­ta­tion wieder faszinierend: Fem­i­nis­mus gibt es inzwis­chen doch schon so lange, das nervt, Frauen ner­ven ja immer, und die Frauen wollen offen­bar tat­säch­lich, dass wir Män­ner unser Ver­hal­ten ändern, weshalb jet­zt wir die eigentlichen Opfer sind.
    […] Und deshalb husch, husch, ihr allmän­ner­mächti­gen Diskurs­be­herrsch­er, zurück in eure Eck­kneipe. Die jet­zt lei­der von einem Gen­der-Stud­ies-Les­ben‑, Transen- und X‑trupp über­nom­men wird, und ihr schiebt für eine Weile in der Küche Abwasch­di­enst.

    Entschuldigung, aber das wird man sich als aufgek­lärter, älter­er deutsch­er Mann doch noch wün­schen dür­fen.

  • “Fem­i­nis­mus kann niemals Lifestyle sein” • Denkw­erk­statt — gabriele michal­itsch im inter­view mit eini­gen sehr richti­gen beobach­tun­gen:

    Fem­i­nis­mus kann niemals Lifestyle sein, Fem­i­nis­mus ist immer poli­tisch. Wenn die Medi­en eine solche Diskus­sion befeuern, ist das eine Form von Antifem­i­nis­mus und der Ver­such, den Begriff Fem­i­nis­mus zu vere­in­nah­men, ihm seine poli­tis­che Rel­e­vanz abzus­prechen. Fem­i­nis­mus war zudem nie män­ner­feindlich, er wurde immer auch von Män­nern mit­ge­tra­gen. Wenn, dann wen­det er sich gegen bes­timmte Konzep­tio­nen von Männlichkeit – wie auch Weib­lichkeit. Wäre dieser ange­blich neue Fem­i­nis­mus nicht Gegen­stand öffentlich­er Debat­ten, müssten wir uns erst gar nicht damit auseinan­der­set­zen – in meinen Augen ist das eine antifem­i­nis­tis­che Strate­gie.

    und später auf den punkt gebracht:

    Wenn Fem­i­nis­mus auf Kar­riere mit Kindern reduziert wird, ist das das Ende des Fem­i­nis­mus.

"Eine neue Version ist verfügbar" - Frontcover

Die neueste Version der neuen Version

So sieht sie also aus, meine per­son­al­isierte Neue Ver­sion, die jet­zt ver­füg­bar ist — aber das hat­te ich ja schon getwit­tert.

Schön ist das Buch gewor­den, mit den far­bigen Seit­en der ver­schiede­nen Kapiteln (nur eine bessere und flex­i­blere Kle­be­bindung hätte ich mir gewün­scht …). Wobei ver­füg­bar schon falsch ist: Der Text hätte mir schon lange bekan­nt sein kön­nen und war es teil­weise auch, weil der Autor Dirk von Gehlen (dessen Mashup ich auch schon mit Gewinn gele­sen habe) seine Unter­stützer am Entste­hung­sprozess hat teil­haben lassen (was ich aber nicht alles gele­sen und ange­hört habe). Jet­zt also die neue Ver­sion von Eine neue Ver­sion ist ver­füg­bar, die auch nur eine vor­läu­fig let­zte ist: Im Herb­st erscheint es als über­ar­beit­ete Ver­sion noch ein­mal bei einem Ver­lag.

Worum geht es in Eine neue Ver­sion ist ver­füg­bar? Um Ver­flüs­si­gung. Von Gehlen beobachtet und beschreibt eine Verän­derung, die durch die Dig­i­tal­isierung vielle­icht nicht her­vorge­bracht, aber zumin­d­est beschle­u­nigt wurde: Gesellschaft und ihre “Pro­duk­te” verän­dert sich. Sie wird beweglich­er, eben flüs­siger, über­windet also die Starre des Fest­stoffes. Das heißt auch: Sie existiert immer in ver­schiede­nen Ver­sio­nen: Alles — z.B. auch die Kul­tur — wird zur Soft­ware.

Auch ein schöner Rücken kann entzücken ...

Auch ein schön­er Rück­en kann entzück­en …

Meta­phern spie­len dabei — die Vorstel­lung der “Ver­flüs­si­gung” macht es ja schon deut­lich — eine große Rolle. Vielle­icht manch­mal eine zu große: Hin und wieder hätte ich mir (auch) noch etwas mehr Konkretisierung gewün­scht. Sich­er, dass ist nicht das primäre Ziel von Gehlens. Aber geschadet hätte es dem Text und sein­er ana­lytis­chen Schärfe vielle­icht nicht ;-). Und für meinen unmaßge­blichen Geschmack wird der Fußball­spielver­gle­ich etwas über­stra­paziert. Aber das sind Kleinigkeit­en, im Großen und Ganzen bin ich — glaube ich zumin­d­est — auf ein­er Lin­ie mit der Neuen Ver­sion.

Ver­flüs­si­gung heißt also: Der Kün­stler — denn obwohl von Gehlen immer mit dem Blick auf die gesamte Gesellschaft schreibt, bleibt die Kün­st­lerin und ihr Kul­turschaf­fen doch im Fokus — ste­ht “nicht mehr am Anfang, son­dern in der Mitte eines kreativ­en Prozess­es […], dessen Aus­gang offen ist” (S. 149f.) Und deshalb heißt es ganz fol­gerichtig ein­mal: “Wir müssen schwim­men ler­nen!” Und das ist also von Gehlens Forderung für alle. Er schlägt dazu einen Weg in fünf Schrit­ten vor:

  1. Das Pro­dukt als Prozess denken (führt zu größer­er Nähe zw. Pro­duzent und Kon­sument)
  2. Das Gespräch führen (der soziale Aspekt der Kul­tur — dazu gehört auch, die “Meta­dat­en” offen­zule­gen, also den Prozess zu zeigen und auch nachvol­lziehbar zu machen)
  3. Ein Net­zw­erk erstellen (Kün­stler als (Ver-)Mittler)
  4. Einen Salon eröff­nen (Gemein­samkeit spez­i­fisch definiert­er (virtueller) Öffentlichkeit(en))
  5. Erleb­nisse schaf­fen (auch der Entste­hung­sprozess ist ein Erleb­nis)

Zusam­mengenom­men heißt das dann:

Schwim­men ler­nen bedeutet deshalb vor allem: die neuen Bedin­gun­gen im verän­derten Ver­hält­nis zwis­chen Autor und Pub­likum zu erspüren. Denn hier liegt eine der zen­tralen Fol­gen der dig­i­tal­en Kopie für die zu Soft­ware gewor­dene Kul­tur. (S. 150)

Und damit hat er wohl ziem­lich recht. Es wird also span­nend, davon bin ich überzeugt: Noch gibt es ja erst wenige Ver­suche, diesen Weg (in der Kun­st) zu gehen. Das wer­den in den näch­sten Jahren sicher­lich viel mehr wer­den — und darauf freue ich mich. Und so gelassen und fre­undlich-pos­i­tiv, wie von Gehlen diesen ja dur­chaus radikalen Verän­derung­sprozess beschreibt, freut er sich genau­so darauf …

Dirk von Gehlen: Eine neue Ver­sion ist ver­füg­bar. Exk­lu­sive Erstau­flage, indi­vid­u­al­isierte Pre­mi­um-Edi­tion. München 2013. 224 Seit­en.
Individualisierte Premium-Edition

Indi­vid­u­al­isierte Pre­mi­um-Edi­tion

Ins Netz gegangen (18.5.)

Ins Netz gegan­gen (18.5.):

  • Ein Gespräch mit dem Diri­gen­ten Thomas Hen­gel­brock: Anders gespielt, neu gehört — Richard Wag­n­er Nachricht­en — NZZ.ch -

    Let­ztlich ist Harnon­court der Diri­gent, der im 20. Jahrhun­dert die grössten Impulse geset­zt hat.

    Schön­er Schlusssatz im Inter­view mit Thomas Hen­gel­brock, in dem es eigentlich um etwas ganz anderes geht: um Instru­men­ta­tiona, Tem­po und Klang bei Wag­n­er, v.a. im “Par­si­fal”:

    Ich habe Wag­n­ers Anweisun­gen befol­gt. Wenn Sie lesen, was er zur Auf­führung sein­er Werke geschrieben hat, kön­nen Sie gar nicht anders als zur Erken­nt­nis kom­men, dass der Text deut­lich und klar zu hören sein muss, son­st ver­fehlt man ein­fach den Sinn. […] Ich finde die Klanggestalt beim «Par­si­fal» ganz entschei­dend. Sie macht das Werk ger­adezu aus, sie hat sym­bol­is­chen, ja meta­ph­ysis­chen Charak­ter. Wenn zum Beispiel die alten Holzflöten mit ihrem azur­blauen Klang ver­wen­det wer­den, dann ergibt sich für mich diese meta­ph­ysis­che Verbindung zum Him­mel; mit der mod­er­nen Met­all­flöte geht das nicht. Auch diese dun­kle, warme, san­fte Farbe der Blech­bläs­er – das war auch für mich eine Über­raschung.

  • Prof. Dr. Dunkel­munkel: Ist die Zeit reif für Grufti-Profs? — cspan­nagel, dunkel­munkel & friends (via Pub­lished arti­cles)
  • Lyrik als Form für die Gegen­wart — Digital/Pausen — Hans Ulrich Gum­brecht erk­lärt die Fasz­i­na­tion der Gegen­wart an der Lyrik bzw. lyrischen For­men — und fängt dafür, wie immer weit aus­holend, in der Antike an. Aber entschei­dend ist dann doch nur der let­zte Absatz:

    Wer die Zeit auf­bringt, sich auf einen — sprach­lich ja meist kom­plex­en – lyrischen Text zu konzen­tri­eren, der unter­bricht die heute eben­so end­los wie ziel­los ver­laufende Zeitlichkeit des All­t­ags. Und ein solch­er Ansatz zur Aufmerk­samkeit wird beim Lesen oder Rez­i­tieren eines Gedichts zu jen­er anderen, sozusagen archais­chen Aufmerk­samkeit, welche zum Aus­set­zen der fließen­den Zeit führt und zum Her­auf­beschwören von vorher abwe­senden Din­gen und Stim­mungen. Lyrik als Form ist eine Sig­natur unser­er Gegen­wart, weii sie für Momente das erhält und an das erin­nert, was dieser Gegen­wart am meis­ten fehlt, näm­lich Form, Ruhe, Konzen­tra­tion und wohl auch Gelassen­heit

  • Schnäp­pchen­reise in die Türkei: Lan­destyp­is­che Getränke sind im Preis inbe­grif­f­en — FAZ — Thomas Stein­mark war für die FAZ eine Woche in der Türkei für den Preis von 199 Euro — und kommt mit einem schö­nen Faz­it zurück:

    … wer sich die ökonomis­chen Bed­ingth­eit­en dieser Art von Reisen bewusst macht und diese zu akzep­tieren bere­it ist, wer sich stark genug fühlt, den oft­mals mas­siv vor­ge­tra­ge­nen Verkauf­sange­boten erfol­gre­ich Wider­stand zu leis­ten, der wird am Ende nicht ent­täuscht sein.

  • Das Rät­sel Merkel — Da hat Michael Spreng lei­der recht:

    Merkel ist eine Macht­tech­nikerin mit schwachem ide­al­is­tis­chen Hin­ter­grund. Sie ist keine Gestal­terin, außer der Gestal­tung ihrer poli­tis­chen Kar­riere und ihrer Macht. Sie macht sich – zumin­d­est öffentlich – keine Gedanken über Deutsch­land in zehn Jahren.

    Ihm selb­st scheint wie mir auch eher unbe­grei­flich, warum sie deshalb/trotzdem so beliebt ist und immer wieder gewählt wird …

  • Flur­na­me­nat­las-Blog — Der Flur­na­me­nat­las Baden-Würt­tem­bergs (?) blog­gt auf tum­blr

Überall nur Blau

Auch wenn der Ein­band ganz gelb ist: “Blue­screen” von Mark Greif ist ein fan­tastis­ches Buch. Mir war Greif ja noch unbekan­nt — eine echte Lücke. Die Essays, die er “Ein Argu­ment vor sechs Hin­ter­grün­den” unter­titelte und die in der — von Greif mither­aus­gegebe­nen — Zeitschrift n+1 erschienen sind, drehen sich um Erschei­n­un­gen des mod­er­nen Lebens der Gegen­wart, um den sex­uelle Fetisch der Jugendlichkeit, um Über- und Unter­sex­u­aliserung, um YouTube oder um die Geschichte des HipHop (ein­er der besten Essays über­haupt: “Rap­pen ler­nen”, der aus­ge­hend von ein­er ganz per­sön­lichen Erfahrung einen bre­it­en Abriss des HipHops und sein­er Bedeu­tun­gen entwick­elt).

Die Ästhetisierung des ganzen Lebens ist die zen­trale These Greifs. Aber darum spin­nt sich ein wun­der­bar­er Kos­mos der Beobach­tun­gen und Erk­lärun­gen des All­t­ags der Gegen­wart und sein­er medi­alen, ästhetis­chen und kul­turellen Erschei­n­un­gen — so etwas wie eine Zeit­di­ag­nose in Schlaglichtern. Da geht es dann auch nicht mehr nur um die eigentliche Ästhetisierung, son­dern etwas all­ge­mein­er um das Prob­lem der medi­ale Ver­mit­tlung unser­er Erfahrun­gen und im Beson­deren um das Leben in Nar­ra­tio­nen: Greif sieht die Men­schen der Gegen­wart umstellt von Erzäh­lun­gen, die den Blick auf die “Wirk­lichkeit” behin­dern. Da kann man freilich auch ander­er Mei­n­ung sein: Die nar­ra­tive und medi­ale Erfahrung muss nicht unbe­d­ingt schlecht sein. Greif neigt sich da manch­mal etwas der kul­turpes­simistis­chen Sicht zu, die die medi­ale Ver­mit­tlung als Hin­der­nis ansieht, als Abkehr von einem — von Greif selb­st dur­chaus als solchen in sein­er Prob­lematik erkan­nten — ide­alen Zus­tand der Unmit­tel­barkeit.

Aber Essays wie “Rap­pen ler­nen” oder auch der “Hochsom­mer der Sexkinder” sind trotz­dem große Kul­turkri­tik: Erk­lärend, aber dur­chaus von einem Stand­punkt aus kri­tisch hin­ter­fra­gend, ohne besser­wis­serischen Ges­tus des Alleswis­sers und alle­serk­lär­ers allerd­ings, der sowieso schon weiß, was er von allem hält. In dieser Hin­sicht sind das eben Essays im besten Sinne: Ver­suche, Erk­lärun­gen zu find­en — Erk­lärun­gen z.B. für Phänomene wie das Real­i­ty-Fernse­hen. Und davon aus­ge­hend immer die Über­legung: Was macht das mit uns? Wie verän­dert das uns, unsere Hal­tung, unsere Wahrnehmungen, unsere Ein­stel­lun­gen, unser Ver­hält­nis zur Welt und zu unseren Mit­men­schen. In bester Essay-Tra­di­tion nimmt Greif sich da als Zwei­fler und Such­er auch nicht zu sehr zurück, son­dern bleibt als Per­son, als Erleben­der und Fra­gen­steller, immer präsent. Dass das außer­dem klar for­muliert, überzeu­gend argu­men­tiert und luzide geschrieben ist, gehört unbe­d­ingt zum pos­i­tiv­en Ein­druck dieses empfehlenswerten Ban­des.

Mark Greif: Blue­screen. Ein Argu­ment vor sechs Hin­ter­grün­den. Berlin: Suhrkamp 2011. 231 Seit­en. ISBN 978–3‑518–12629‑5.

Die Gegenwart, das Glück und die Literatur

Irgend­wie, so habe ich manch­mal den Ein­druck, gibt es über die deutschsprachige Gegen­wart­slit­er­atur zu viel und zu wenig Unter­suchun­gen. Geschrieben wird viel und viel geschrieben über das Geschriebene. Aber nur ganz, ganz wenig davon gelingt überzeu­gend. Richard Käm­mer­lings Buch über “Das kurze Glück der Gegen­wart”, in dem er sich der duetschsprachi­gen Lit­er­atur sein 1989 wid­met, ist so ein Fall: Schön, dass ein Kri­tik­er ver­sucht, mehr zu tun als einzelne Büch­er beim Erscheinen zu besprechen und in der Rückschau noch ein­mal zu ord­nen. Schade, dass er es so tut.

Das fängt schon ganz vorne an, mit der  falschen Prämisse — und ist dann lei­der auch noch schlecht durchge­führt. Also: Käm­mer­lings ver­langt, 1 dass die deutschsprachige Lit­er­atur gegen­wartshaltig sei und ihren Leserin­nen und Lesern die Welt der Gegen­wart erk­lärt. Das ist natür­lich irgend­wie ein hehrer Wun­sch, der zunächst ein­mal schlüs­sig scheint, aber doch Unsinn ist: Warum soll die Lit­er­atur das tun? Und warum soll sie es — das ist näm­lich Käm­mer­lings Fol­gerung — unbe­d­ingt und ausss­chließlich mit Stof­fen der ange­blichen Gegen­wart tun? Ist Lit­er­atur nicht etwas mehr als bloße Weltbeschrei­bung? Sollte sie es nicht sein? Ist das die “Auf­gabe” der Kun­st: Uns die Welt zu zeigen und zu erk­lären? Oder sollte sie sich nicht mehr um “uns” küm­mern — wenn sie über­haupt irgend etwas “soll”?

Jeden­falls geht es für Käm­mer­lings darum: Autoren sollen ihre Stoffe aus den Erschei­n­un­gen der Gesellschaft der Gegen­wart übernehmen und entwick­eln, sie sollen die Kriege der let­zten Jahre the­ma­tisieren, soziale Ungle­ich­heit­en, wirtschaftliche Entwick­lun­gen, poli­tis­ches Geschehen. Und sie sollen das offen­bar gefäl­ligst in les­bar­er, nicht zu aus­ge­fal­l­en­er Prosa tun — etwas anderes ken­nt Käm­mer­lings in diesem Buch nicht: Romane sind  — trotz des damit als großsprecherisch sich erweisenden Unter­ti­tels — seine Form, mit eini­gen Aus­flü­gen in kürzere For­men der erzäh­len­den Lit­er­atur. Drama­tis­che Texte haben zur Gegen­wart nichts zu sagen? Und Lyrik auch nicht? — Das sieht wie ein typ­is­ch­er Fehlschluss eines Zeitungs-Kri­tik­ers aus, würde ich sagen, der mit seinen beru­flich bed­ingten (?) Scheuk­lap­pen liest — in der Tat kommt in den deutschen Zeitun­gen die Lyrik schon nur extrem wenig vor, die drama­tis­chen Texte als Texte (abseits der Per­for­manz der (Ur-)Aufführung) eigentlich über­haupt nicht. Begründ­bar ist das in den Kunst­werken nicht, höch­stens in der ver­meintlichen Größe des Inter­ess­es der Leser­schaft — selb­st wenn man Gegen­wartshaltigkeit als Maßstab anlegt, sollte man erken­nen, dass dazu auch Lyrik und Dra­ma einiges zu sagen haben kön­nen.

Lei­der klebt Käm­mer­lings dann auch noch über den aller­größten Teil der zwei­hun­dert Seit­en bloß am Stoff der besproch­enen Büch­er: Über bloße Inhalt­sangaben, knappe Refer­ate des beschriebe­nen Geschehens mit ein paar Beispiel­sätzen geht er so gut wie nie hin­aus. Sowie es um die eigentliche kün­st­lerische Gestal­tung geht, um Stil­fra­gen, um Struk­turen der Texte, ihre For­men und Gestal­ten, wird Käm­mer­lings aus­ge­sprochen unge­nau und neb­ulös — vielmehr als der “Ton” eines Autors bleibt meist nicht übrig von sein­er Analyse. Das ist natür­lich schade und aus­ge­sprochen unbe­friedi­gend. Denn es ist ja nicht so, dass er schlechte Büch­er vorstellt …

Dafür spie­len inter­textuelle Net­ze, die Beziehun­gen — inhaltliche und tem­po­rale — zwis­chen den Texte, also auch so etwas wie “Schulen” des Schreibens, eine ganz große Rolle. Auch echte oder ver­meintliche Vor­bilder sind für Käm­mer­lings sehr wichtig — meist kom­men sie aus der amerikanis­chen Gegen­wart­slit­er­atur. Was dieses Nacheifern, dieses Schreiben auf Anre­gung ander­er Texte, allerd­ings bedeutet, bleibt er wiederum gerne schuldig: Was heißt es denn, das diese Beziehung erkennbar ist? Für Käm­mer­lings scheint das eher ein Vorteil zu sein, ein Ler­nen von den (richti­gen) Meis­tern. Aber warum soll mich das inter­essieren, ob Autor A jet­zt B gekan­nt hat oder nicht? Neben diesen Beziehun­gen der Texte untere­inan­der sucht Kämm­r­lings auch gerne äußere Anlässe für das Entste­hen von lit­er­arischen Werken auszu­machen. Und wieder ist mir nicht ganz klar, was das für das Ver­ste­hen (oder auch nur Erfahren) des Kunst­werkes helfen soll. Für ihn ist das aber wichtig, weil damit ja sein Gebot der Gegen­wart­snähe erfüllt wird (bzw. zu wer­den scheint).

Die abschließende Liste der 10 besten Büch­er der let­zten 20 Jahre ist dann ja, nun ja, ein etwas selt­samer Gag. Irgend­wie habe ich den Ein­druck, das war eine Ver­lagsidee, der sich Käm­mer­lings auch nur etwas wider­willig gebeugt hat. Die Liste selb­st bietet eine etwas merk­würdi­ge Mis­chung, finde ich. Das sind ohne Zweifel gute Büch­er — aber die besten? Rainald Goetz ist zum Beispiel mit “Abfall für alle” vertreten — warum “Klage” oder “Loslabern” schlechter sein sollen, erschließt sich mir nicht. Aber die bei­den Büch­er ken­nt Käm­mer­lings offen­bar nicht, muss man ver­muten — im Text selb­st kom­men sie näm­lich auch nicht vor — und das ist mir völ­lig unver­ständlich. Ingo Schulzes “Sim­ple Sto­ry” halte ich ten­den­ziell ja auch für etwas über­schätzt — das ist, genau wie Mar­cel Bey­ers “Flughunde” etwa so ein Buch, das jed­er irgend­wie gut find­en kann. Warum Thomas Lehr aus­gerech­net mit “Nabokovs Katze” auf der Liste gelandet ist, das ist mir auch wiederum nicht ganz klar — ich halte das nicht für sein bestes Buch.

Was bleibt als von Käm­mer­lings Ver­such, die (?) deutschsprachige Lit­er­atur seit ’89 zu erfassen und zu erk­lären? Eine Menge Büch­er wer­den angeris­sen, kurz vorgestellt, referiert — von denen mir dur­chaus einige wohl durch die Lap­pen gegan­gen sind (und dur­chaus einige sich vielver­sprechend anhören). Aber ganz, ganz vieles — und lei­der eben vieles unheim­lich Gutes — fällt durch das Raster. Unver­ständlich bleibt mir einiges: Warum zum Beispiel Rein­hard Jir­gl nur ein­mal nur neben­bei erwäh­nt wird (die Kun­st des name-drop­ping beherrscht Käm­mer­lings ziem­lich gut …) — ger­ade in das Kapi­tel zum erin­nern­den Roman hätte er wun­der­bar gepasst. Und fraglich bleibt dann doch auch, ob man aus Büch­ern wie denen von Kurzeck (der etwas mehr Gnade find­et als Jir­gl, aber natür­lich vor allem durch das unver­mei­dliche “proustsche” Erzählen charak­ter­isiert wird) nicht genau­so viel oder sog­ar mehr über uns und die Gegen­wart ler­nen kann als aus ver­meintlich aktuellen Büch­ern (was bei Käm­mer­lings ja nur und vor allem aktuelle Stoffe meint), die sich den spez­i­fis­chen Sit­u­a­tio­nen der Gegen­wart, d.h. der let­zten ca. 10 Jahre, wid­men.

Aber das führt mich ja wieder an den Anfang: Die Forderung der Gegen­wartshaltigkeit der Lit­er­atur ist meines Eracht­ens kun­st­fremder Unsinn, der — wie Ina Hartwig in der Süd­deutschen ganz richtig anmerk­te — der Lit­er­atur eine Stel­lvertreter­funk­tion zuweist: Sie soll erleben, was wir selb­st nicht tun. Der Anspruch, Lit­er­atur müsse uns unsere “Gegen­wart”  irgend­wie erk­lären, ist aber ein falsch­er, der den Kunst­werken auch nur sel­ten gut tut. Dafür gibt es Jour­nal­is­ten. Und beze­ich­nen­der­weise ist Käm­mer­lings von jour­nal­is­tis­chen Schreib­weisen wie Moritz von Uslars “Deutsch­bo­den” eben auch sehr ange­tan — logisch, denn sie erfüllen eben seine Bedin­gung der Gegen­wart­snähe und ‑beschrei­bung. Aber Kun­st sollte doch etwas mehr sein. Und ist es ja auch immer wieder — Käm­mer­lings zum Trotz sozusagen.

Richard Käm­mer­lings. Das kurze Glück der Gegen­wart. Deutschsprachige Lit­er­atur seit ’89. Stuttgart: Klett-Cot­ta 2011. 208 Seit­en. ISBN 978–3‑608–94607‑9.

Show 1 foot­note

  1. Ja, er ver­langt das wirk­lich — er will, dass das die Autoren tun, er will ihnen vorschreiben, wie Lit­er­atur zu sein hat. Auch wenn er natür­lich klug genug ist, eine solche präskrip­tive Ästhetik mit genü­gend Caveats zu verse­hen: Im Kern geht es ihm darum, eine bes­timmte Art von Lit­er­atur als die (einzig) richtige zu set­zen.

Gegenwarten

“Die Gegen­wart von einst — nachträglich spukt sie immer noch herum in der Gegen­wart von heute, fremd und ver­traut zugle­ich, wie trau­ma­tisiert.” (Rayk Wieland, Ich schlage vor, dass wir uns küssen, 89)

“Alte Musik, die Kunst …

… des vor­let­zten und vor­vor­let­zten Jahrhun­derts. O je. Wie kam man als gesun­der Men­sch dazu, sich das anzuhören? Man musste doch neueste, neue Musik hören!” (moritz von uslar, wald­stein oder der tod des wal­ter giesek­ing am 6. juni 2005, 69)

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