Ich glaube, das ist nur etwas für ausgesprochene Bernhard-Fans. Auf jeden Fall ist es interessant, solche Überreste aus der Werkstatt des Schriftstellers zur Kenntnis nehmen zu können. Als erstes aufgefallen ist mir allerdings das feine Papier, das sich Suhrkamp hier geleistet hat ;-). Und sehr schön auch, dass die fast 30 Seiten Typoskript von “Leichtlebig” als Faksimile hinzugefügt wurden — auch wenn sie so verkleinert sind, dass sie wirklich gerade noch so zu lesen sind. Während “Argumente eines Winterspaziergängers” mir noch recht unfertig vorkommt, wie eine frühe/erste Version erscheint, ist “Leichtlebig” schon recht weit ausgearbeitet — und in gewisser Weise schon ein typischer Bernhard-Text.
Willi Jasper schrieb hier eine Literaturgeschichte der eigenen Art: Die Geschichte der Literatur und der Literaten eines Ortes — eines realen (Riva am Gardasee) und eines imaginären/symbolischen (das Sanatorium). Das ist stellenweise eine faszinierende Mischung aus Literatur- und allgemeiner Kulturgeschichte der ersten beiden Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, weil es Stränge der Geschichte zusammenführt, die sonst eher fern voneinander bleiben: Zum Beispiel vereint dieser Ort Zauberberg Riva neben Thomas und Heinrich Mann auch Franz Kafka, Sigmund Freud, Hermann Sudermann, Christian Morgenstern und andere. Manchmal hängt Jasper aber auch einfach in einer Beschreibung (überhaupt ist das eher deskriptiv als analysierend) bestimmter Lebensabschnitte bestimmter Autoren fest — z.B. Heinrich Mann, mit dem er sich sehr gut auskennt.
Natürlich spielt auch die Neurasthenie eine entsprechend große Rolle — dafür, für diese “Mode”-Krankheit des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der nervlichen Erschöpfung angesichts der rasenden Zeit und der rasenden Umstände der Moderne, waren die Sanatorien unter anderem ja gerade “zuständig” — als eine Art Erholungsheim, eine Aufhebung des gewöhnlichen Lebens mit seinen moralischen und gesellschafltichen Pflichten und Zwängen, eine Zeit der (temporären) Befreiung und Aufhebung. Schade nur, dass er gerade dies, den eigentlichen Ort, immer wieder über längere Strecken etwas aus den Augen verliert und dann nur noch “normale” Literaturgeschichte ist. Ein beeindruckendes Panorama, das eben über die eigentliche Literatur hinausgeht, aber doch nicht nur bloße Kulturgeschichte ist, ist Zauberberg Riva dennoch — und gerade darin, in seinem eigenen Blick, ausgesprochen anregend.
Crazy, was der Belgier Bogaert da geschaffen hat — das liegt ja nahe, wenn man den Übersetzer als Lyriker schon kennt …
Der Soft-Slalom ist eine Art erzählender Gedichtzyklus in nummerierten Kapiteln und Einzelgedichten, die sehr nahe an der Prosa sind/bleiben (zumindest in der deutschen Version, die flämische kann ich nun leider nicht beurteilen, auch wenn das roughbook beide Sprachen bietet), in sprachlicher Hinsicht spielerisch und verspielt. Inhaltlich bleibt mir das meiste kryptisch — was vielleicht nur teilweise an den Texten selbst liegt:
Heute müssen Namen erdacht werden,
damit wir später einen übrig haben.
[…] Später erst, viel später, als all das neutralisiert ist,
der Soft-Slalom, na, ist das was,
da umfasst mich, tauber inzwischen
und blinder, supersacht
eine Umarmung von hinten
“Hast du diesen Satz verstanden?”, heißt es einmal, und: “Kommt das gut? Ergreift es dich?” Das ist tatsächlich die Frage, die sich mir bei der Lektüre dieser Gedichte besonders deutlich stellt: Habe ich das verstanden? Bedeutet (mir) das etwas? Doch mittendrin verstecken sich auch einfach schöne Momente hier drin (zumindest verstecken sie sich für mich oder vor mir .…):
Es herrscht Trubel
und mittendrin bemerkst du
eine Manifestation. Fühlst du, wie
die Situation
sich zu bewegen beginnt?
Alexander Kluge erklärt im Gespräch mit Rainer Stollmann die Geschichten aus seinem Band “Die Lücke, die der Teufel läßt” (2003) — und zugleich sich selbst und vor allem die ganze Welt. Wie immer bei Kluge-Gespräche ist das klug und meist einleuchtend, nicht selten überraschend, weil Kluge Fakten aus allen Wissensgebieten auf ungewohnte Verbindungen abklopft und auch noch Verbindungen sieht oder zieht, wo ich beim besten Willen keine (mehr) sehen kann. Manchmal ist das in dem etwas besserwisserischen Gestus des Alles-Durchschauers aber durchaus auch etwas nervend. Doch das Gefühl habe ich bei Kluge öfters …
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