Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Aus-Lese #28

Elke Naters: König­in­nen. Köln: Kiepen­heuer & Witsch 1998. 151 Seit­en.

Ein ganz inter­es­san­ter klein­er Roman, auch wenn er zunächst ganz unspek­takulär und unauf­fäl­lig daherkommt: Ohne Anfang und Ende erzählt Elke Naters einen ein­fachen Auss­chnitt aus dem “Leben” zweier Frauen. Fre­und­schaft ist das eigentliche The­ma dahin­ter. Erzählt wird das in dop­pel­ter Per­spek­tive in kurzen, wech­sel­nden Abschnit­ten — teil­weise über­lap­pend — aus der Per­spek­tive zweier Frauen, Glo­ria & Marie, in schlichter, ein­fach­er, sozusagen alltäglich­er Sprache. Auf­fäl­lige Motive bzw. (Stimmungs-)Indikatoren sind — etwas klis­chee­haft fast — das Einkaufen, ins­beson­dere der Klei­dung, und Frisuren (vor allem neue, andere). Natür­lich ste­ht das in der Beto­nung der Mode und ander­er “Äußer­lichkeit­en” in per­fek­ter Tra­di­tion des Popro­mans. Die Banal­ität des Lebens, der Fre­und­schaften und Beziehun­gen, kurz: das „kleine Leben“ sind der Mit­telpunkt der bei­den (miteinan­der ver­wobe­nen) alltäglichen Frauengeschicht­en.

Das ist ein viel anstren­gen­deres Leben, das ich führe, näm­lich ein glück­lich­es, als ein unglück­lich­es. (72)

Dou­glas Cou­p­land: Gen­er­a­tion A. Stuttgart: Tropen (Klett-Cot­ta) 2010. 333 Seit­en.

Cou­p­lands zweit­er “Gen­er­a­tio­nen-Roman” basiert auf ein­er schö­nen Idee: Die Welt nach dem Ver­schwinden der Bienen in naher Zukun­ft wird über­rascht von fünf über die Welt verteil­ten Bienen­stichen. Die gestoch­enen wer­den aus­giebig unter­sucht und getestet (offen­bar ohne Ergeb­nis), dann zusam­menge­bracht, um sich Geschicht­en zu erzählen — die auch apoka­lyp­tis­che Ele­mente erhal­ten und bes­timmte Prozesse in den Gehir­nen anre­gen sollen — alles im Namen der Wis­senschaft, ange­blich. Manch­mal blöd fand ich, wie wenig Wis­sen voraus­ge­set­zt wird, wie viel erk­lärt wird (unter dem Deck­man­tel, dass es die Charak­tere auch nicht wis­sen …). Dafür ist Gen­er­a­tion A wie für Cou­p­land typ­isch auf den Punkt geschrieben, pack­end und forsch — und natür­lich mit der üblichen Por­tion Coupland’scher Zeit- und Gesellschaft­skri­tik, auch Sprach­wan­del und ‑ver­lust spie­len — als Symp­tome — eine große Rolle. Und schließlich taucht noch ein schön­er Sto­ry­twist kurz vor Schluss auf, der zum etwas kitschi­gen Hap­pyend mit Friede, Freude und Eierkuchen führt (sog­ar die Bienen kom­men wieder zurück …). Das ist alles sehr nett, aber nicht so her­aus­ra­gend wie anderes von Cou­p­land.

Car­olin Emcke: Wie wir begehren. Bonn: Bun­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung 2013 (Schriften­rei­he 1370). 254 Seit­en.

Wie wir begehren ist keine wis­senschaftliche Unter­suchung, son­dern ein Essay. Und zwar ein sehr guter (trotz einiger Bedenken, die man inhaltlich haben kann): Emcke erzählt sehr per­sön­lich, bleibt dabei aber nie ste­hen, son­dern reflek­tiert vom eige­nen Erleben aus: Die Entwick­lung von Sex­u­al­ität, Lust und Begehren im Laufe eines Lebens und — ganz wichtig — der Umgang der Gesellschaft mit diesen The­men, der auch einem ständi­gen Wan­del unter­liegt. Die Par­al­lelität oder die Ver­schränkung von eigen­em Leben, der Erin­nerung und dem Nach­denken in allgemeinen/soziologischen, auch sprach­lichen Kat­e­gorien (z.B. über das “Erwach­sen wer­den”, das “Com­ing of Age”) eignet sich sehr gut, um die Vielschichtigkeit des The­mas in allen Belan­gen auch for­mal erfassen zu kön­nen.

Emcke gelingt es immer wieder (nicht nur in diesem Buch) auf­fäl­lig gut, genau die richti­gen Fra­gen zu stellen. Das kann schon mal ein ein­fach­es “Ist das wirk­lich so?” sein. Das dient, wie auch die vie­len Beispiel-Erzäh­lun­gen, der Per­spek­tivierung: Das, was wir heute als “nor­males” Begehren empfind­en, ist es nicht über­all und immer (gewe­sen). Begehren kann immer auch die Möglichkeit der Not des Begehrens enthal­ten (weil die jew­eilige Art des Begehrens sozial/juristisch/theologisch unter­sagt ist etwa). Eine beson­dere Rolle nimmt deshalb der Umgang mit Homo­sex­u­al­ität ein — wiederum sowohl auf persönlicher/individueller und gesellschaftlich­er Ebene.

Es ist ein Kat­e­gorien­fehler, Sex­u­al­ität über­haupt in moralis­chen Begrif­f­en zu ver­han­deln. (171)

Flann O’Brien: Aus Dalkeys Archiv­en. Zürich: Kein und Aber 2003. 256 Seit­en.

Die Fabel hat dur­chaus Poten­zial: Ein “Wis­senschaftler” erfind­et eine Sub­stanz, die die Atmo­sphäre so ändert, dass Leben nicht mehr möglich ist. Und die hat die Neben­funk­tion, die Zeit aufzuheben. Und Kon­takt zu Fig­uren aus dem Him­mel herzustellen. Aber das ist eigentlich nur eine Rand-/Rah­men­hand­lung, die den Pro­tag­o­nis­ten zu seinen verzwick­ten Aktiv­itäten treibt (und ihn einige Biere und Whiskeys trinken lässt) sowie Anlass zu den krud­esten Welt­the­o­rien bietet. Auch James Joyce taucht per­sön­lich Jahrzehnte nach seinem ver­meintlichen Tod noch auf, als Autor, der seine eige­nen Werke nicht geschrieben haben will und sie auch für den größten Mist hält. Und dann ist da noch die katholis­che Kirche und ihre Orden …

Wenn man von der “Konkur­renz” O’Briens zu Joyce — die sich auch hier nieder­schlägt (und nicht zum Besten des Buch­es …) — absieht, ist das ein sehr net­ter, humoriger klein­er Roman, sehr irisch im Per­son­al, der Hand­lung und dem Witz (sowie den Trinkge­wohn­heit­en) noch dazu.

Joseph Jurt: Bour­dieu. Stuttgart: Reclam 2008. 129 Seit­en.

Jurt liefert hier eine sehr gedrängte und dichte, manch­mal für mich auch etwas arg verk­nappte Darstel­lung der Philosophie/Soziologie Bour­dieus. Der Anfang etwa, wo er die Sit­u­a­tion der Philoso­phie in Frankre­ich, in die Bour­dieu stößt beschreibt, und auch die Schilderung sein­er philosophis­chen Entwick­lung darin, die Kristal­la­tion sein­er Grund­pos­tio­nen war für mich deshalb kaum les­bar. Das Prob­lem scheint mir auch zu sein, dass Jurt immer gle­ich den ganzen Bour­dieu im Blick hat, also nicht einzelne Sta­tio­nen oder (Haupt-)Werke vorstellt, son­dern immer auch die Verän­derun­gen der Konzepte im Lauf der Zeit mitbe­denkt — und das ist halt viel.

Ab dem drit­ten Kapi­tel, den “Grund­po­si­tio­nen Bour­dieus” wird das aber klar­er und deut­lich­er. Vor allem der Haupt­teil, das vierte Kapi­tel, in dem Jurt die “zen­tralen Kat­e­gorien” Bour­dieus vorstellt, ist aus­führlich (und gut) erk­lärt — da wer­den natür­lich zuvörder­st das Konzept des „Habi­tus“ (das Bour­dieu von Panof­sky über­nom­men und mod­i­fiziert hat) und die Idee der “Felder” geschildert.

John Dos Pas­sos: Man­hat­tan Trans­fer. Rein­bek: Rowohlt 2008 [1925]. 333 Seit­en.

Das Schreck­liche, wenn einem New York zuwider ist, das Schreck­liche ist, daß man nir­gends anders hin kann. Hier sitzen wir auf dem Gipfel der Welt.“ (183)

… das ist so etwas wie der Leit­satz für Man­hat­tan Trans­fer: New York als Zen­trum und Bren­npunkt der Welt, in dem sich alle möglichen Schick­sale tre­f­fen. Entsprechend erzählt Dos Pas­sos das — und das ist der lit­er­aturgeschichtlich wohl bedeut­sam­ste Punkt an diesem Roman — in ein­er Poly­phonie der Stim­men, Orte und Geschicht­en. Beson­ders die prekären Sit­u­a­tio­nen und Schick­sale der “ein­fachen” Men­schen inter­essieren ihn: die Armen, (fast) Mit­tel­losen, die Arbei­t­en­den und Arbeitssuchen­den. Immer wieder tauchen auch große Ideen und Ver­suche auf, Pro­jekt, Ansätze und Unternehmungen, die viel (oder gle­ich alles) ver­sprechen) — und doch immer wieder zum Scheit­ern tendieren, im pri­vat­en wie im geschäftlichen Leben. Aber auch eine gewisse Freizügigkeit in sex­uellen Din­gen ist mir beim Lesen aufge­fall­en, vor allem eine sehr flex­i­ble, viels­seit­ige und vielschichtige Moral (nicht: Moral­losigkeit!) der Charak­tere in Man­hat­tan Trans­fer.

Im schrillen Wind der Welt­geschichte klatschen die lan­gen Fah­nen und zer­ren an ihren Schnüren an den knar­ren­den, gold­knau­fi­gen Stan­gen in der V. Avenue. (224)

Peter K. Wehrli: Kat­a­log von allem. 1697 Num­mern vom Anfang bis zum Neube­ginn. Zürich: Ammann 2008 [1925]. 533 Seit­en.

Wehrli hat sein Konzept der min­i­malen Beobach­tun­gen — immer nur ein Satz pro Phänomen — entwick­elt, weil er seinen Fotoap­pa­rat auf ein­er Reise ver­gaß. Daraus sind über Jahrzehnte eine Fülle von “Num­mern” in diesem Kat­a­log erwach­sen (der übri­gens dur­chaus nicht “alles” umfasst, son­dern ger­ade das Beson­dere außer­halb des All­t­ags deut­lich bevorzugt). Die sind span­nend in der Konzen­tra­tion auf Sin­gu­lar­itäten und erhel­lend in der Genauigkeit der Wahrnehmungen und Beobach­tun­gen. Aber manch­mal auch ermü­dend in der Vielfalt und Menge — ich kann das nur in kleinen Dosen mit Gewinn lesen. Aber dann ist der Kat­a­log eben auch immer wieder anre­gend in der Präzi­sion und Kürze sein­er Beschrei­bun­gen — und deshalb eine große Erfahrung.

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  1. matthias mader (@matthias_mader)

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