Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: elke naters

Aus-Lese #29

Dieses Mal eine lange, lange Liste, weil ich etwas nach­läs­sig war und deshalb einiges nach­tra­gen muss:

Hen­drik Rost: Licht für andere Augen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2013. 80 Seit­en.

Rost, LichtSchon die Wid­mung hat mich für diesen Lyrik­band ein­genom­men: „Ein Wort hin, zwei Wörter her — viel mehr ist es oft nicht, aber das ist die Kun­st. Jamas!“ (4) heißt es dort. Genau, so ist es.

Und Rost gelingt es, die Kun­st der Dich­tung. Seine rhyth­misch freien, ungereimten Gedichte, alle einzeln und von über­schaubar­er Länge, haben eine leichte Anmut, eine schwebende Wehmut ist ihnen eigen — so unge­fähr lässt sich ihr Ton wohl fassen, vielle­icht auch als Ele­ganz des Flusses der Sprache und der Bilder. Leere Räume (d.h. frei von Men­schen, ver­lassen, aber nicht tot) scheinen ihn zu faszinieren, meint man am Anfang des Ban­des. Aber das täuscht, die Men­schen tauchen doch immer wieder auf, als Kind, auf Bildern, als Dialog­part­ner und als Tote/Geister aus der Ver­gan­gen­heit (Brecht, Celan, Kling und viele andere wer­den auch namentlich her­beigerufen).

Über­haupt der Tod und die Ver­gan­gen­heit: die ster­bende Klarheit, aber auch die Trauer der Dinger behaupten immer wieder ihren Platz. So heißt es zum Beispiel in “Platzver­weis”:

Manch­mal ist die Trau­rigkeit eines Stuhls / nicht die Trau­rigkeit, die der Stuhl / ausstrahlt, son­dern die / der­jeni­gen, die auf ihm gesessen haben / vor Tagen, Jahren oder länger. (21)/

Das Schöne an Ros­ts Gedichte ist immer wieder das Sehen und Schreiben mit anderen Augen. Der Ein­fall des All­t­ags in die Kun­st (und die (Lebens-)Philosophie), zugle­ich aber auch ganz deut­lich die Gegen­wart der — nicht nur lit­er­arischen — Vergangenheit(en): Das zeich­net sein Werk beson­ders aus.

Flo­ri­an Voß: Daten­schat­ten Daten­ströme Staub. Berlin: J. Frank 2011 (Quar­theft 28). 80 Seit­en.

Voß, DatenschattenDer Auf­takt ist gle­ich eine schöne Kon­trafak­tur oder Wieder­auf­nahme der Celan­schen „Todesfuge“ in “Verfugtes Meis­ter­stück”: Die Re-Grundierung im All­t­ag, die Ent­mys­ti­fizierung und Entza­uberung der total­en Meta­pher — das klappt hier ganz gut. Über­haupt find­et sich das in vie­len Gedicht­en von Voß: Die unter­schied­slose Gle­ich­w­er­tigkeit von All­t­ag mit seinen Banal­itäten und absoluter Phan­tasie. Manch­mal wen­det sich das etwas arg ins punkige und trashige (für meinen Geschmack). Aber die Dop­pel­gesichtigkeit — auf der einen Seite die hohe Sprache mit aus­ge­sucht phan­tasievollen Meta­phern und wilden Bildern, auf der anderen Seite aber auch (bewusste — nehme ich an) Plattheit­en und flache Wörter und Sätze — ste­hen nebeneinan­der oder wer­den einan­der kon­fron­tiert. Oft klingt das in meinen Ohren dann groß und leer zugle­ich, also etwas prä­ten­tiös. Manch­mal scheint das aber auch großar­tig — aber eher sel­ten, oft lässt mich das ein­fach kalt. Diese Gegen­sätze bilden oft schroffe, schar­fkantige Unfälle, aus denen ich aber keine Funken schla­gen kann und die mich — wie das meiste in diesem Band — rat­los und unbeteiligt lassen. (Und an die binär codierten Seit­en-/Buchteil-/Gedichtzahlen kann ich mich gar nicht gewöh­nen …)

Nur keine Panik, es ist nur / ein Vulkan der da raucht / nicht der Kopf, der ist leer (Über­all Kuscheltiere)

Dou­glas Cou­p­land: PlayerOne. What Is to Become of Us. A Nov­el in Five Hours. Lon­don: Heine­mann 2010. 248 Seit­en.

Coupland, PlayerEine “real-time nov­el” hat Cou­p­land PlayerOne genan­nt, das als eine Art Vor­lesung in fünf Stun­den ent­standen ist und dementsprechend auch fünf Teile aufweist. Es geht, wenig über­raschend bei Cou­p­land, um die Zukun­ft der Men­schheit: Eine Gruppe zufäl­lig zusam­mengewür­fel­ter Men­schen gerät in ein­er Flughafen­bar in ein apoka­lyp­tis­ches Szenario, hier der Zusam­men­bruch der Ölver­sorgung (und damit der gesamten Energie) von einem Moment auf den anderen, mit den entsprechen­den anar­chis­chen und gewalt­täti­gen Fol­gen, die noch durch ein paar andere Erzählstränge, die ihre eigene Dynamik und teil­weise Gewalt bergen, über­lagert wer­den. Das dient Cou­p­land dann dazu, sich seinen Lieblings­the­men zu wid­men: Wie sieht die Zukun­ft der Men­schheit aus, wie die der Gesellschaft? Er erzählt das hier mit per­spek­tivis­chem Fokus auf den einzel­nen Per­so­n­en, dek­lin­iert also immer, in jed­er “Stunde”, das vorhan­dene Per­son­al durch — erweit­ert um den “Play­er One”, so etwas wie eine tech­nisch-pro­gram­mierte Iden­tität ein­er der Charak­tere. Außer­dem ver­han­delt wer­den: Lebenswege, psy­ch­an­a­lytis­che Deu­tun­gen und ganz stark das Prob­lem der Zeit, ihr Tem­po, ihre Lin­ear­ität, ihr Fortschre­it­en und Anhal­ten …

Luke once thought time was like a riv­er, and that it always flowed at the same speed, no mat­ter what. But now he believes that time has floods, too — it sim­ply isn’t a con­stant any­more. (70)
Those bod­ies bind us to the future. They’re time-frozen. Tomor­row = yes­ter­day = today = the same thing, always. (110)

Wal­ter Höllerer: Sys­teme. Neue Gedichte. Berlin: Lit­er­arisches Col­lo­qui­um 1969. 56 Seit­en.

Höllerer, SystemeÜber einen Beitrag von Dieter M. Gräf (Erkun­dun­gen inner­halb und außer­halb der Mas­chine ja und nein. Neue und neu gebliebene Gedichte Wal­ter Höllerers aus der Zeit der “Sys­teme”. In: Sprache im tech­nis­chen Zeital­ter, H. 203 (2012), S. 264–269) bin ich auf diesen Gedicht­band Höllerers aufmerk­sam gewor­den — den ich als Lyrik­er bish­er noch kaum kan­nte, son­dern vor allem als The­o­retik­er, Inter­pret und Ver­mit­tler von Gedichtetem. Und das ist eine Schande, denn hier ver­sam­meln sich einige, sog­ar ziem­lich viele aus­ge­sprochen gute Gedichte — auch wenn man ihnen ihre Entste­hungszeit, die 1960er Jahre, (inzwis­chen) in manchen Gedanken und For­mulierun­gen sehr deut­lich anmerkt. Aber das muss ja auch gar nicht schlecht sein …

Schon beim titel­geben­den Gedicht “Sys­teme” kann man wun­der­bar das Moment sehen und erfahren, das ich an Gedicht­en so schätze: wie die Sig­nifikan­ten ins Tanzen kom­men. Höllerer erre­icht das hier oft durch das Mit­tel der extremen syn­tak­tis­chen Verkürzung: Tei­weise nur Wort­brock­en, einzelne Worte ohne unmit­tel­baren syn­tak­tis­chen Zusam­men­hang, die — auch in der räum­lichen Anord­nung auf dem Papi­er — miteinan­der in Beziehung treten und Sinn her­vor­brin­gen.

Da steckt auch viel Technik(kritik) und Tech­niz­ität drin, nicht nur im Inhalt, son­dern auch in der Sprache und der Form (das ist wohl wenig über­raschend beim Grün­der der Sprache im tech­nis­chen Zeital­ter …). Manch­es scheint aber auch — aus heutiger Sicht — sehr zeit­ge­bun­den bzw. typ­isch für die Sit­u­a­tion und Stim­mung der Bun­desre­pub­lik am Ende der Sechziger. Etwa die poli­tis­chen Ele­mente, das Moment der poli­tisch-gesellschaftlichen Sys­temkri­tik aus/in der Mitte der Gesellschaft (na gut, vielle­icht nicht ganz die dama­lige Mitte). Heute scheint mir das nur noch im Bere­ich der Kap­i­tal­is­muskri­tik gängig zu sein — oder in kleineren, extremeren Rand­bere­ichen, die dann aber eher sel­ten in so „elitären“ For­men wie dieser Lyrik (und ihrer Veror­tung durch das Erscheinen als „LCB-Edi­tio­nen“ im (Literatur-)Betrieb) sich zeigen.

Volk­er Braun: Trotzde­stonichts oder Der Wen­de­hals. Frank­furt: Suhrkamp 2000. 147 Seit­en.

Ich mag Volk­er Brauns Prosa eigentlich sehr gerne. Dieser schmale Band hat mich allerd­ings nicht wirk­lich überzeu­gen oder begeis­tern kön­nen. Der titel­gebende Dia­log (der auch den meis­ten Umfang beansprucht) ist ziem­lich schnell ziem­lich lahm und lang­weilig. Vor allem lese ich da haupt­säch­lich Banal­itäten und Phrasen aus Brauns BRD- und Wende-Kri­tik-Reper­toire. Dafür sind die die kurzen Anek­doten, Erzäh­lun­gen aus Teil III inter­es­san­ter. In typ­is­ch­er Braun-Manier zeigen sie mit ihrer Konzen­tra­tion auf eine Begeben­heit, eine charak­ter­is­tis­che Beobach­tung noch ein­mal sein stilis­tis­ches Kön­nen. Aber auch hier bleibt mir das inhaltlich etwas arg rückschauend, verangen­heit­sori­en­tiert: In/an der Gegen­wart — der Wende/dem Umbruch (wie es bei Braun heißt) — wer­den nur die neg­a­tiv­en Seit­en gezeigt und dargestellt, es weht immer etwas Wehmut über das Scheit­ern des Exper­i­mentes DDR durch die Sätze, ohne dass sich pos­i­ti­vere Ziele oder Utopi­en zeigen wür­den.

Nach der soge­nan­nten Wende sah ich nur die Wen­dun­gen, und zwar der willfährig­sten Leute, die sich also gle­ich blieben. (135)

Bernd Cail­loux: Gut­geschriebene Ver­luste. Roman mémoire. Berlin: Suhrkamp 2012. 271 Seit­en.

Bernd Cailloux, Gutgeschriebene VerlusteIch habe hier am Anfang einen Moment gebraucht, bis mir klar wurde, warum mir einiges bekan­nt vorkam: Weil es in Fig­uren und Geschehen gewisse Ähn­lichkeit­en mit Das Geschäft­s­jahr 1968/69 von Cail­loux gibt. Unab­hängig von der Frage, ob hier ein altern­der Autor auto­bi­ographisch erzählt (das scheint aber eines der Haupt­in­ter­essen der Rezensen­ten zu sein, die Decodierung, Entschlüs­selung der auf­tauchen­den Charak­tere und Ereignisse) geht es in dieser rück­blick­ender Verge­gen­wär­ti­gung eines alte(rnde)n 68er (der damit aber auch wieder nur am Rande zusam­men­hängt, weil ihn an der Bewe­gung vor allem die Dro­gen, der Sex und die Geschäfte inter­essierten) vor allem um das Prob­lem der frag­men­tierten Erin­nerung, die sich auch im Text so nieder­schlägt. Manch­mal fand ich das etwas müh­sam, manch­mal ist es span­nend, manch­mal aber auch etwas bemüht, doch meist aber lock­er und humorig par­lierend erzählt. Altern und Erin­nern — an bessere/beste Zeit­en — sind also das The­ma, angere­ichert mit Pop-/lit­er­aturhis­torischen Arte­fak­ten. Aber so richtig reinge­fun­den habe ich nicht, mir schien, das Cail­loux hier doch arg viel Leer­lauf pro­duziert.

Was in er im Eigenbe­darf ver­braucht­en Zeit passierte, war nur bed­ingt erzäh­lenswert — in Filme reinkuck­en, Tabellen studieren, im Netz rumk­lichen, mal was lesen, denken, ins­beson­dere denken, eine Primär­tu­gend. (145)

Elke Naters: Lügen. München: List 1999. 192 Seit­en.

Naters, LügenNaters zweit­er Roman ist im Grunde eine Vari­a­tion des ersten (König­in­nen), aber ohne dessen for­male Stärken. Wieder geht es um Fre­und­schaft zwis­chen Frauen und um Beziehungs­dra­men. Das wird nun aber hier deut­lich eindi­men­sion­aler erzählt. Die absichtlich beschränk­te Sprache, der schlichte Stil — das bringt hier kaum mehr Schön­heit oder Wahrheit her­vor. Vorherrschend ist dage­gen das Plätsch­ern: Harm­lose Ober­flächen wer­den erzählt — natür­lich absichtlich, das schlägt sich ja auch deut­lich in Sprache und Form nieder -, die aber auch auf nichts (mehr) zu ver­weisen zu wollen scheinen und nur noch dem reinen Selb­stzweck dienen. Das ist wenig, vor allem weil die Fig­uren blass bleiben und eigentlich — so weit ich das wahrnehme — lang­weilig sind. Man kann dem natür­lich zugute hal­ten, dass genau das gezeigt wer­den sollte: Dass es keine indi­vidu­ellen, “span­nen­den” Lebensen­twürfe mehr gibt und dass sie sich auch nicht mehr nach den klas­sis­chen Kri­te­rien schön oder span­nend erzählen lassen. Aber das ist eine zwar wahre, aber sehr trock­ene Ein­sicht, die hier irgend­wie den Text nicht mehr trägt und recht­fer­tigt.

Das Leben ist banal. Mein Leben ist banal. Ich bin banal.
Das gibt mir noch eine Weile zu denken, obwohl mir gar nicht danach ist. (180)

Ange­li­ka Meier: Eng­land. Zürich: Diaphanes 2010. 329 Seit­en.

Meier, EnglandAnge­li­ka Meiers erster Roman ist nicht ganz so großar­tig wie Heim­lich heim­lich mich ver­giss, aber trotz­dem ein sehr gutes Buch. Es geht in ein­er reich­lich ver­rück­ten Geschichte um eine Philosophin, der Wittgen­stein erschienen ist und die dadurch auf die vergesse­nen und ver­schol­lenen Manuskripte eines Philosophen des 17. Jahrhun­derts namens Man­zanil­la stößt, die in der Folge ihre Leben­sauf­gabe und ihr Lebenswerk wer­den — allerd­ings mit dem Prob­lem, dass sie natür­lich eine vol­lkom­men offenkundi­ge Fälschung sind.

Wahnsinn und Real­ität ver­schwim­men in dieser Fabel vol­lkom­men, die Fra­gen, was ist wirk­lich, was ist eing­bildet? braucht man sich kaum mehr zu stellen — beant­worten lassen sie sich sowieso nicht mehr. Schlaf, Geheim­nis, Traum/Alptraum — alles geht durcheinander/ineinander und überkreuzt sich ständig in den Bee­in­flus­sun­gen udn Hand­lun­gen der Per­so­n­en. Vor allem ist diese Geschichte zwis­chen Wittgen­stein und Man­zanil­la, zwis­chen Vergangenheit(en) und Gegen­warten aber sehr unter­halt­sam, vor allem wegen der skuril, aber sehr genau und liebevolle geze­ich­neten Fig­uren und Charak­teren.
Über­haupt ist Meiers Roman sehr geistre­ich und oft mit schwarzem Humor gespickt, die Absur­ditäten und Ver­rück­theit­en des (insti­tu­tion­al­isierten) Denkens (und ins­beson­dere des Denkens über Sprache) gewitzt und geschickt auf­spießend: Wun­der­bar unter­hal­tend dabei, wahrschein­lich ger­ade wegen der Häu­fung der Skuril­itäten, die sich selb­st so abso­lut ernst nehmen kön­nen.

Sehen Sie, manche Philosophen — oder wie man sie nen­nen soll — lei­den an dem, was man Prob­lemver­lust nen­nen kann. Es scheint Ihnen dann alles ganz ein­fach, und es scheinen keine tief­er­en Prob­leme mehr zu existieren, die Welt wird weit und flach und ver­liert jede Tiefe; und was sie schreiben, wird unendlich seicht und triv­ial. (91)

Aus-Lese #28

Elke Naters: König­in­nen. Köln: Kiepen­heuer & Witsch 1998. 151 Seit­en.

Ein ganz inter­es­san­ter klein­er Roman, auch wenn er zunächst ganz unspek­takulär und unauf­fäl­lig daherkommt: Ohne Anfang und Ende erzählt Elke Naters einen ein­fachen Auss­chnitt aus dem “Leben” zweier Frauen. Fre­und­schaft ist das eigentliche The­ma dahin­ter. Erzählt wird das in dop­pel­ter Per­spek­tive in kurzen, wech­sel­nden Abschnit­ten — teil­weise über­lap­pend — aus der Per­spek­tive zweier Frauen, Glo­ria & Marie, in schlichter, ein­fach­er, sozusagen alltäglich­er Sprache. Auf­fäl­lige Motive bzw. (Stimmungs-)Indikatoren sind — etwas klis­chee­haft fast — das Einkaufen, ins­beson­dere der Klei­dung, und Frisuren (vor allem neue, andere). Natür­lich ste­ht das in der Beto­nung der Mode und ander­er “Äußer­lichkeit­en” in per­fek­ter Tra­di­tion des Popro­mans. Die Banal­ität des Lebens, der Fre­und­schaften und Beziehun­gen, kurz: das „kleine Leben“ sind der Mit­telpunkt der bei­den (miteinan­der ver­wobe­nen) alltäglichen Frauengeschicht­en.

Das ist ein viel anstren­gen­deres Leben, das ich führe, näm­lich ein glück­lich­es, als ein unglück­lich­es. (72)

Dou­glas Cou­p­land: Gen­er­a­tion A. Stuttgart: Tropen (Klett-Cot­ta) 2010. 333 Seit­en.

Cou­p­lands zweit­er “Gen­er­a­tio­nen-Roman” basiert auf ein­er schö­nen Idee: Die Welt nach dem Ver­schwinden der Bienen in naher Zukun­ft wird über­rascht von fünf über die Welt verteil­ten Bienen­stichen. Die gestoch­enen wer­den aus­giebig unter­sucht und getestet (offen­bar ohne Ergeb­nis), dann zusam­menge­bracht, um sich Geschicht­en zu erzählen — die auch apoka­lyp­tis­che Ele­mente erhal­ten und bes­timmte Prozesse in den Gehir­nen anre­gen sollen — alles im Namen der Wis­senschaft, ange­blich. Manch­mal blöd fand ich, wie wenig Wis­sen voraus­ge­set­zt wird, wie viel erk­lärt wird (unter dem Deck­man­tel, dass es die Charak­tere auch nicht wis­sen …). Dafür ist Gen­er­a­tion A wie für Cou­p­land typ­isch auf den Punkt geschrieben, pack­end und forsch — und natür­lich mit der üblichen Por­tion Coupland’scher Zeit- und Gesellschaft­skri­tik, auch Sprach­wan­del und ‑ver­lust spie­len — als Symp­tome — eine große Rolle. Und schließlich taucht noch ein schön­er Sto­ry­twist kurz vor Schluss auf, der zum etwas kitschi­gen Hap­pyend mit Friede, Freude und Eierkuchen führt (sog­ar die Bienen kom­men wieder zurück …). Das ist alles sehr nett, aber nicht so her­aus­ra­gend wie anderes von Cou­p­land.

Car­olin Emcke: Wie wir begehren. Bonn: Bun­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung 2013 (Schriften­rei­he 1370). 254 Seit­en.

Wie wir begehren ist keine wis­senschaftliche Unter­suchung, son­dern ein Essay. Und zwar ein sehr guter (trotz einiger Bedenken, die man inhaltlich haben kann): Emcke erzählt sehr per­sön­lich, bleibt dabei aber nie ste­hen, son­dern reflek­tiert vom eige­nen Erleben aus: Die Entwick­lung von Sex­u­al­ität, Lust und Begehren im Laufe eines Lebens und — ganz wichtig — der Umgang der Gesellschaft mit diesen The­men, der auch einem ständi­gen Wan­del unter­liegt. Die Par­al­lelität oder die Ver­schränkung von eigen­em Leben, der Erin­nerung und dem Nach­denken in allgemeinen/soziologischen, auch sprach­lichen Kat­e­gorien (z.B. über das “Erwach­sen wer­den”, das “Com­ing of Age”) eignet sich sehr gut, um die Vielschichtigkeit des The­mas in allen Belan­gen auch for­mal erfassen zu kön­nen.

Emcke gelingt es immer wieder (nicht nur in diesem Buch) auf­fäl­lig gut, genau die richti­gen Fra­gen zu stellen. Das kann schon mal ein ein­fach­es “Ist das wirk­lich so?” sein. Das dient, wie auch die vie­len Beispiel-Erzäh­lun­gen, der Per­spek­tivierung: Das, was wir heute als “nor­males” Begehren empfind­en, ist es nicht über­all und immer (gewe­sen). Begehren kann immer auch die Möglichkeit der Not des Begehrens enthal­ten (weil die jew­eilige Art des Begehrens sozial/juristisch/theologisch unter­sagt ist etwa). Eine beson­dere Rolle nimmt deshalb der Umgang mit Homo­sex­u­al­ität ein — wiederum sowohl auf persönlicher/individueller und gesellschaftlich­er Ebene.

Es ist ein Kat­e­gorien­fehler, Sex­u­al­ität über­haupt in moralis­chen Begrif­f­en zu ver­han­deln. (171)

Flann O’Brien: Aus Dalkeys Archiv­en. Zürich: Kein und Aber 2003. 256 Seit­en.

Die Fabel hat dur­chaus Poten­zial: Ein “Wis­senschaftler” erfind­et eine Sub­stanz, die die Atmo­sphäre so ändert, dass Leben nicht mehr möglich ist. Und die hat die Neben­funk­tion, die Zeit aufzuheben. Und Kon­takt zu Fig­uren aus dem Him­mel herzustellen. Aber das ist eigentlich nur eine Rand-/Rah­men­hand­lung, die den Pro­tag­o­nis­ten zu seinen verzwick­ten Aktiv­itäten treibt (und ihn einige Biere und Whiskeys trinken lässt) sowie Anlass zu den krud­esten Welt­the­o­rien bietet. Auch James Joyce taucht per­sön­lich Jahrzehnte nach seinem ver­meintlichen Tod noch auf, als Autor, der seine eige­nen Werke nicht geschrieben haben will und sie auch für den größten Mist hält. Und dann ist da noch die katholis­che Kirche und ihre Orden …

Wenn man von der “Konkur­renz” O’Briens zu Joyce — die sich auch hier nieder­schlägt (und nicht zum Besten des Buch­es …) — absieht, ist das ein sehr net­ter, humoriger klein­er Roman, sehr irisch im Per­son­al, der Hand­lung und dem Witz (sowie den Trinkge­wohn­heit­en) noch dazu.

Joseph Jurt: Bour­dieu. Stuttgart: Reclam 2008. 129 Seit­en.

Jurt liefert hier eine sehr gedrängte und dichte, manch­mal für mich auch etwas arg verk­nappte Darstel­lung der Philosophie/Soziologie Bour­dieus. Der Anfang etwa, wo er die Sit­u­a­tion der Philoso­phie in Frankre­ich, in die Bour­dieu stößt beschreibt, und auch die Schilderung sein­er philosophis­chen Entwick­lung darin, die Kristal­la­tion sein­er Grund­pos­tio­nen war für mich deshalb kaum les­bar. Das Prob­lem scheint mir auch zu sein, dass Jurt immer gle­ich den ganzen Bour­dieu im Blick hat, also nicht einzelne Sta­tio­nen oder (Haupt-)Werke vorstellt, son­dern immer auch die Verän­derun­gen der Konzepte im Lauf der Zeit mitbe­denkt — und das ist halt viel.

Ab dem drit­ten Kapi­tel, den “Grund­po­si­tio­nen Bour­dieus” wird das aber klar­er und deut­lich­er. Vor allem der Haupt­teil, das vierte Kapi­tel, in dem Jurt die “zen­tralen Kat­e­gorien” Bour­dieus vorstellt, ist aus­führlich (und gut) erk­lärt — da wer­den natür­lich zuvörder­st das Konzept des „Habi­tus“ (das Bour­dieu von Panof­sky über­nom­men und mod­i­fiziert hat) und die Idee der “Felder” geschildert.

John Dos Pas­sos: Man­hat­tan Trans­fer. Rein­bek: Rowohlt 2008 [1925]. 333 Seit­en.

Das Schreck­liche, wenn einem New York zuwider ist, das Schreck­liche ist, daß man nir­gends anders hin kann. Hier sitzen wir auf dem Gipfel der Welt.“ (183)

… das ist so etwas wie der Leit­satz für Man­hat­tan Trans­fer: New York als Zen­trum und Bren­npunkt der Welt, in dem sich alle möglichen Schick­sale tre­f­fen. Entsprechend erzählt Dos Pas­sos das — und das ist der lit­er­aturgeschichtlich wohl bedeut­sam­ste Punkt an diesem Roman — in ein­er Poly­phonie der Stim­men, Orte und Geschicht­en. Beson­ders die prekären Sit­u­a­tio­nen und Schick­sale der “ein­fachen” Men­schen inter­essieren ihn: die Armen, (fast) Mit­tel­losen, die Arbei­t­en­den und Arbeitssuchen­den. Immer wieder tauchen auch große Ideen und Ver­suche auf, Pro­jekt, Ansätze und Unternehmungen, die viel (oder gle­ich alles) ver­sprechen) — und doch immer wieder zum Scheit­ern tendieren, im pri­vat­en wie im geschäftlichen Leben. Aber auch eine gewisse Freizügigkeit in sex­uellen Din­gen ist mir beim Lesen aufge­fall­en, vor allem eine sehr flex­i­ble, viels­seit­ige und vielschichtige Moral (nicht: Moral­losigkeit!) der Charak­tere in Man­hat­tan Trans­fer.

Im schrillen Wind der Welt­geschichte klatschen die lan­gen Fah­nen und zer­ren an ihren Schnüren an den knar­ren­den, gold­knau­fi­gen Stan­gen in der V. Avenue. (224)

Peter K. Wehrli: Kat­a­log von allem. 1697 Num­mern vom Anfang bis zum Neube­ginn. Zürich: Ammann 2008 [1925]. 533 Seit­en.

Wehrli hat sein Konzept der min­i­malen Beobach­tun­gen — immer nur ein Satz pro Phänomen — entwick­elt, weil er seinen Fotoap­pa­rat auf ein­er Reise ver­gaß. Daraus sind über Jahrzehnte eine Fülle von “Num­mern” in diesem Kat­a­log erwach­sen (der übri­gens dur­chaus nicht “alles” umfasst, son­dern ger­ade das Beson­dere außer­halb des All­t­ags deut­lich bevorzugt). Die sind span­nend in der Konzen­tra­tion auf Sin­gu­lar­itäten und erhel­lend in der Genauigkeit der Wahrnehmungen und Beobach­tun­gen. Aber manch­mal auch ermü­dend in der Vielfalt und Menge — ich kann das nur in kleinen Dosen mit Gewinn lesen. Aber dann ist der Kat­a­log eben auch immer wieder anre­gend in der Präzi­sion und Kürze sein­er Beschrei­bun­gen — und deshalb eine große Erfahrung.

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