Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: elke naters

Aus-Lese #29

Die­ses Mal eine lan­ge, lan­ge Lis­te, weil ich etwas nach­läs­sig war und des­halb eini­ges nach­tra­gen muss:

Hen­drik Rost: Licht für ande­re Augen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2013. 80 Sei­ten.

Rost, LichtSchon die Wid­mung hat mich für die­sen Lyrik­band ein­ge­nom­men: „Ein Wort hin, zwei Wör­ter her – viel mehr ist es oft nicht, aber das ist die Kunst. Jamas!“ (4) heißt es dort. Genau, so ist es.

Und Rost gelingt es, die Kunst der Dich­tung. Sei­ne rhyth­misch frei­en, unge­reim­ten Gedich­te, alle ein­zeln und von über­schau­ba­rer Län­ge, haben eine leich­te Anmut, eine schwe­ben­de Weh­mut ist ihnen eigen – so unge­fähr lässt sich ihr Ton wohl fas­sen, viel­leicht auch als Ele­ganz des Flus­ses der Spra­che und der Bil­der. Lee­re Räu­me (d.h. frei von Men­schen, ver­las­sen, aber nicht tot) schei­nen ihn zu fas­zi­nie­ren, meint man am Anfang des Ban­des. Aber das täuscht, die Men­schen tau­chen doch immer wie­der auf, als Kind, auf Bil­dern, als Dia­log­part­ner und als Tote/​Geister aus der Ver­gan­gen­heit (Brecht, Celan, Kling und vie­le ande­re wer­den auch nament­lich her­bei­ge­ru­fen).

Über­haupt der Tod und die Ver­gan­gen­heit: die ster­ben­de Klar­heit, aber auch die Trau­er der Din­ger behaup­ten immer wie­der ihren Platz. So heißt es zum Bei­spiel in „Platz­ver­weis“:

Manch­mal ist die Trau­rig­keit eines Stuhls /​nicht die Trau­rig­keit, die der Stuhl /​aus­strahlt, son­dern die /​der­je­ni­gen, die auf ihm geses­sen haben /​vor Tagen, Jah­ren oder län­ger. (21)/

Das Schö­ne an Rosts Gedich­te ist immer wie­der das Sehen und Schrei­ben mit ande­ren Augen. Der Ein­fall des All­tags in die Kunst (und die (Lebens-)Philosophie), zugleich aber auch ganz deut­lich die Gegen­wart der – nicht nur lite­ra­ri­schen – Vergangenheit(en): Das zeich­net sein Werk beson­ders aus.

Flo­ri­an Voß: Daten­schat­ten Daten­strö­me Staub. Ber­lin: J. Frank 2011 (Quart­heft 28). 80 Sei­ten.

Voß, DatenschattenDer Auf­takt ist gleich eine schö­ne Kon­tra­fak­tur oder Wie­der­auf­nah­me der Cel­an­schen „Todes­fu­ge“ in „Ver­fug­tes Meis­ter­stück“: Die Re-Grun­die­rung im All­tag, die Ent­mys­ti­fi­zie­rung und Ent­zau­be­rung der tota­len Meta­pher – das klappt hier ganz gut. Über­haupt fin­det sich das in vie­len Gedich­ten von Voß: Die unter­schieds­lo­se Gleich­wer­tig­keit von All­tag mit sei­nen Bana­li­tä­ten und abso­lu­ter Phan­ta­sie. Manch­mal wen­det sich das etwas arg ins pun­ki­ge und tra­shi­ge (für mei­nen Geschmack). Aber die Dop­pel­ge­sich­tig­keit – auf der einen Sei­te die hohe Spra­che mit aus­ge­sucht phan­ta­sie­vol­len Meta­phern und wil­den Bil­dern, auf der ande­ren Sei­te aber auch (bewuss­te – neh­me ich an) Platt­hei­ten und fla­che Wör­ter und Sät­ze – ste­hen neben­ein­an­der oder wer­den ein­an­der kon­fron­tiert. Oft klingt das in mei­nen Ohren dann groß und leer zugleich, also etwas prä­ten­ti­ös. Manch­mal scheint das aber auch groß­ar­tig – aber eher sel­ten, oft lässt mich das ein­fach kalt. Die­se Gegen­sät­ze bil­den oft schrof­fe, scharf­kan­ti­ge Unfäl­le, aus denen ich aber kei­ne Fun­ken schla­gen kann und die mich – wie das meis­te in die­sem Band – rat­los und unbe­tei­ligt las­sen. (Und an die binär codier­ten Sei­ten-/Buch­teil-/Ge­dicht­zah­len kann ich mich gar nicht gewöh­nen …)

Nur kei­ne Panik, es ist nur /​ein Vul­kan der da raucht /​nicht der Kopf, der ist leer (Über­all Kuschel­tie­re)

Dou­glas Cou­p­land: Play­e­rO­ne. What Is to Beco­me of Us. A Novel in Five Hours. Lon­don: Hei­ne­mann 2010. 248 Sei­ten.

Coupland, PlayerEine „real-time novel“ hat Cou­p­land Play­e­rO­ne genannt, das als eine Art Vor­le­sung in fünf Stun­den ent­stan­den ist und dem­entspre­chend auch fünf Tei­le auf­weist. Es geht, wenig über­ra­schend bei Cou­p­land, um die Zukunft der Mensch­heit: Eine Grup­pe zufäl­lig zusam­men­ge­wür­fel­ter Men­schen gerät in einer Flug­ha­fen­bar in ein apo­ka­lyp­ti­sches Sze­na­rio, hier der Zusam­men­bruch der Ölver­sor­gung (und damit der gesam­ten Ener­gie) von einem Moment auf den ande­ren, mit den ent­spre­chen­den anar­chi­schen und gewalt­tä­ti­gen Fol­gen, die noch durch ein paar ande­re Erzähl­strän­ge, die ihre eige­ne Dyna­mik und teil­wei­se Gewalt ber­gen, über­la­gert wer­den. Das dient Cou­p­land dann dazu, sich sei­nen Lieb­lings­the­men zu wid­men: Wie sieht die Zukunft der Mensch­heit aus, wie die der Gesell­schaft? Er erzählt das hier mit per­spek­ti­vi­schem Fokus auf den ein­zel­nen Per­so­nen, dekli­niert also immer, in jeder „Stun­de“, das vor­han­de­ne Per­so­nal durch – erwei­tert um den „Play­er One“, so etwas wie eine tech­nisch-pro­gram­mier­te Iden­ti­tät einer der Cha­rak­te­re. Außer­dem ver­han­delt wer­den: Lebens­we­ge, psy­ch­ana­ly­ti­sche Deu­tun­gen und ganz stark das Pro­blem der Zeit, ihr Tem­po, ihre Linea­ri­tät, ihr Fort­schrei­ten und Anhal­ten …

Luke once thought time was like a river, and that it always flowed at the same speed, no mat­ter what. But now he belie­ves that time has floods, too – it sim­ply isn’t a con­stant any­mo­re. (70)
Tho­se bodies bind us to the future. They’re time-fro­zen. Tomor­row = yes­ter­day = today = the same thing, always. (110)

Wal­ter Höl­le­rer: Sys­te­me. Neue Gedich­te. Ber­lin: Lite­ra­ri­sches Col­lo­qui­um 1969. 56 Sei­ten.

Höllerer, SystemeÜber einen Bei­trag von Die­ter M. Gräf (Erkun­dun­gen inner­halb und außer­halb der Maschi­ne ja und nein. Neue und neu geblie­be­ne Gedich­te Wal­ter Höl­le­rers aus der Zeit der „Sys­te­me“. In: Spra­che im tech­ni­schen Zeit­al­ter, H. 203 (2012), S. 264–269) bin ich auf die­sen Gedicht­band Höl­le­rers auf­merk­sam gewor­den – den ich als Lyri­ker bis­her noch kaum kann­te, son­dern vor allem als Theo­re­ti­ker, Inter­pret und Ver­mitt­ler von Gedich­te­tem. Und das ist eine Schan­de, denn hier ver­sam­meln sich eini­ge, sogar ziem­lich vie­le aus­ge­spro­chen gute Gedich­te – auch wenn man ihnen ihre Ent­ste­hungs­zeit, die 1960er Jah­re, (inzwi­schen) in man­chen Gedan­ken und For­mu­lie­run­gen sehr deut­lich anmerkt. Aber das muss ja auch gar nicht schlecht sein …

Schon beim titel­ge­ben­den Gedicht „Sys­te­me“ kann man wun­der­bar das Moment sehen und erfah­ren, das ich an Gedich­ten so schät­ze: wie die Signi­fi­kan­ten ins Tan­zen kom­men. Höl­le­rer erreicht das hier oft durch das Mit­tel der extre­men syn­tak­ti­schen Ver­kür­zung: Tei­wei­se nur Wort­bro­cken, ein­zel­ne Wor­te ohne unmit­tel­ba­ren syn­tak­ti­schen Zusam­men­hang, die – auch in der räum­li­chen Anord­nung auf dem Papier – mit­ein­an­der in Bezie­hung tre­ten und Sinn her­vor­brin­gen.

Da steckt auch viel Technik(kritik) und Tech­ni­zi­tät drin, nicht nur im Inhalt, son­dern auch in der Spra­che und der Form (das ist wohl wenig über­ra­schend beim Grün­der der Spra­che im tech­ni­schen Zeit­al­ter …). Man­ches scheint aber auch – aus heu­ti­ger Sicht – sehr zeit­ge­bun­den bzw. typisch für die Situa­ti­on und Stim­mung der Bun­des­re­pu­blik am Ende der Sech­zi­ger. Etwa die poli­ti­schen Ele­men­te, das Moment der poli­tisch-gesell­schaft­li­chen Sys­tem­kri­tik aus/​in der Mit­te der Gesell­schaft (na gut, viel­leicht nicht ganz die dama­li­ge Mit­te). Heu­te scheint mir das nur noch im Bereich der Kapi­ta­lis­mus­kri­tik gän­gig zu sein – oder in klei­ne­ren, extre­me­ren Rand­be­rei­chen, die dann aber eher sel­ten in so „eli­tä­ren“ For­men wie die­ser Lyrik (und ihrer Ver­or­tung durch das Erschei­nen als „LCB-Edi­tio­nen“ im (Literatur-)Betrieb) sich zei­gen.

Vol­ker Braun: Trotz­des­to­nichts oder Der Wen­de­hals. Frank­furt: Suhr­kamp 2000. 147 Sei­ten.

Ich mag Vol­ker Brauns Pro­sa eigent­lich sehr ger­ne. Die­ser schma­le Band hat mich aller­dings nicht wirk­lich über­zeu­gen oder begeis­tern kön­nen. Der titel­ge­ben­de Dia­log (der auch den meis­ten Umfang bean­sprucht) ist ziem­lich schnell ziem­lich lahm und lang­wei­lig. Vor allem lese ich da haupt­säch­lich Bana­li­tä­ten und Phra­sen aus Brauns BRD- und Wen­de-Kri­tik-Reper­toire. Dafür sind die die kur­zen Anek­do­ten, Erzäh­lun­gen aus Teil III inter­es­san­ter. In typi­scher Braun-Manier zei­gen sie mit ihrer Kon­zen­tra­ti­on auf eine Bege­ben­heit, eine cha­rak­te­ris­ti­sche Beob­ach­tung noch ein­mal sein sti­lis­ti­sches Kön­nen. Aber auch hier bleibt mir das inhalt­lich etwas arg rück­schau­end, ver­an­gen­heits­ori­en­tiert: In/​an der Gegen­wart – der Wende/​dem Umbruch (wie es bei Braun heißt) – wer­den nur die nega­ti­ven Sei­ten gezeigt und dar­ge­stellt, es weht immer etwas Weh­mut über das Schei­tern des Expe­ri­men­tes DDR durch die Sät­ze, ohne dass sich posi­ti­ve­re Zie­le oder Uto­pien zei­gen wür­den.

Nach der soge­nann­ten Wen­de sah ich nur die Wen­dun­gen, und zwar der will­fäh­rigs­ten Leu­te, die sich also gleich blie­ben. (135)

Bernd Caill­oux: Gut­ge­schrie­be­ne Ver­lus­te. Roman mémoi­re. Ber­lin: Suhr­kamp 2012. 271 Sei­ten.

Bernd Cailloux, Gutgeschriebene VerlusteIch habe hier am Anfang einen Moment gebraucht, bis mir klar wur­de, war­um mir eini­ges bekannt vor­kam: Weil es in Figu­ren und Gesche­hen gewis­se Ähn­lich­kei­ten mit Das Geschäfts­jahr 1968/​69 von Caill­oux gibt. Unab­hän­gig von der Fra­ge, ob hier ein altern­der Autor auto­bio­gra­phisch erzählt (das scheint aber eines der Haupt­in­ter­es­sen der Rezen­sen­ten zu sein, die Deco­die­rung, Ent­schlüs­se­lung der auf­tau­chen­den Cha­rak­te­re und Ereig­nis­se) geht es in die­ser rück­bli­cken­der Ver­ge­gen­wär­ti­gung eines alte(rnde)n 68er (der damit aber auch wie­der nur am Ran­de zusam­men­hängt, weil ihn an der Bewe­gung vor allem die Dro­gen, der Sex und die Geschäf­te inter­es­sier­ten) vor allem um das Pro­blem der frag­men­tier­ten Erin­ne­rung, die sich auch im Text so nie­der­schlägt. Manch­mal fand ich das etwas müh­sam, manch­mal ist es span­nend, manch­mal aber auch etwas bemüht, doch meist aber locker und humo­rig par­lie­rend erzählt. Altern und Erin­nern – an bessere/​beste Zei­ten – sind also das The­ma, ange­rei­chert mit Pop-/li­te­ra­tur­his­to­ri­schen Arte­fak­ten. Aber so rich­tig rein­ge­fun­den habe ich nicht, mir schien, das Caill­oux hier doch arg viel Leer­lauf pro­du­ziert.

Was in er im Eigen­be­darf ver­brauch­ten Zeit pas­sier­te, war nur bedingt erzäh­lens­wert – in Fil­me rein­ku­cken, Tabel­len stu­die­ren, im Netz rumkli­chen, mal was lesen, den­ken, ins­be­son­de­re den­ken, eine Pri­mär­tu­gend. (145)

Elke Naters: Lügen. Mün­chen: List 1999. 192 Sei­ten.

Naters, LügenNaters zwei­ter Roman ist im Grun­de eine Varia­ti­on des ers­ten (Köni­gin­nen), aber ohne des­sen for­ma­le Stär­ken. Wie­der geht es um Freund­schaft zwi­schen Frau­en und um Bezie­hungs­dra­men. Das wird nun aber hier deut­lich ein­di­men­sio­na­ler erzählt. Die absicht­lich beschränk­te Spra­che, der schlich­te Stil – das bringt hier kaum mehr Schön­heit oder Wahr­heit her­vor. Vor­herr­schend ist dage­gen das Plät­schern: Harm­lo­se Ober­flä­chen wer­den erzählt – natür­lich absicht­lich, das schlägt sich ja auch deut­lich in Spra­che und Form nie­der -, die aber auch auf nichts (mehr) zu ver­wei­sen zu wol­len schei­nen und nur noch dem rei­nen Selbst­zweck die­nen. Das ist wenig, vor allem weil die Figu­ren blass blei­ben und eigent­lich – so weit ich das wahr­neh­me – lang­wei­lig sind. Man kann dem natür­lich zugu­te hal­ten, dass genau das gezeigt wer­den soll­te: Dass es kei­ne indi­vi­du­el­len, „span­nen­den“ Lebens­ent­wür­fe mehr gibt und dass sie sich auch nicht mehr nach den klas­si­schen Kri­te­ri­en schön oder span­nend erzäh­len las­sen. Aber das ist eine zwar wah­re, aber sehr tro­cke­ne Ein­sicht, die hier irgend­wie den Text nicht mehr trägt und recht­fer­tigt.

Das Leben ist banal. Mein Leben ist banal. Ich bin banal.
Das gibt mir noch eine Wei­le zu den­ken, obwohl mir gar nicht danach ist. (180)

Ange­li­ka Mei­er: Eng­land. Zürich: Dia­pha­nes 2010. 329 Sei­ten.

Meier, EnglandAnge­li­ka Mei­ers ers­ter Roman ist nicht ganz so groß­ar­tig wie Heim­lich heim­lich mich ver­giss, aber trotz­dem ein sehr gutes Buch. Es geht in einer reich­lich ver­rück­ten Geschich­te um eine Phi­lo­so­phin, der Witt­gen­stein erschie­nen ist und die dadurch auf die ver­ges­se­nen und ver­schol­le­nen Manu­skrip­te eines Phi­lo­so­phen des 17. Jahr­hun­derts namens Man­z­a­nil­la stößt, die in der Fol­ge ihre Lebens­auf­ga­be und ihr Lebens­werk wer­den – aller­dings mit dem Pro­blem, dass sie natür­lich eine voll­kom­men offen­kun­di­ge Fäl­schung sind.

Wahn­sinn und Rea­li­tät ver­schwim­men in die­ser Fabel voll­kom­men, die Fra­gen, was ist wirk­lich, was ist eing­bil­det? braucht man sich kaum mehr zu stel­len – beant­wor­ten las­sen sie sich sowie­so nicht mehr. Schlaf, Geheim­nis, Traum/​Alptraum – alles geht durcheinander/​ineinander und über­kreuzt sich stän­dig in den Beein­flus­sun­gen udn Hand­lun­gen der Per­so­nen. Vor allem ist die­se Geschich­te zwi­schen Witt­gen­stein und Man­z­a­nil­la, zwi­schen Vergangenheit(en) und Gegen­war­ten aber sehr unter­halt­sam, vor allem wegen der sku­ril, aber sehr genau und lie­be­vol­le gezeich­ne­ten Figu­ren und Cha­rak­te­ren.
Über­haupt ist Mei­ers Roman sehr geist­reich und oft mit schwar­zem Humor gespickt, die Absur­di­tä­ten und Ver­rückt­hei­ten des (insti­tu­tio­na­li­sier­ten) Den­kens (und ins­be­son­de­re des Den­kens über Spra­che) gewitzt und geschickt auf­spie­ßend: Wun­der­bar unter­hal­tend dabei, wahr­schein­lich gera­de wegen der Häu­fung der Sku­ri­li­tä­ten, die sich selbst so abso­lut ernst neh­men kön­nen.

Sehen Sie, man­che Phi­lo­so­phen – oder wie man sie nen­nen soll – lei­den an dem, was man Pro­blem­ver­lust nen­nen kann. Es scheint Ihnen dann alles ganz ein­fach, und es schei­nen kei­ne tie­fe­ren Pro­ble­me mehr zu exis­tie­ren, die Welt wird weit und flach und ver­liert jede Tie­fe; und was sie schrei­ben, wird unend­lich seicht und tri­vi­al. (91)

Aus-Lese #28

Elke Naters: Köni­gin­nen. Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch 1998. 151 Sei­ten.

Ein ganz inter­es­san­ter klei­ner Roman, auch wenn er zunächst ganz unspek­ta­ku­lär und unauf­fäl­lig daher­kommt: Ohne Anfang und Ende erzählt Elke Naters einen ein­fa­chen Aus­schnitt aus dem „Leben“ zwei­er Frau­en. Freund­schaft ist das eigent­li­che The­ma dahin­ter. Erzählt wird das in dop­pel­ter Per­spek­ti­ve in kur­zen, wech­seln­den Abschnit­ten – teil­wei­se über­lap­pend – aus der Per­spek­ti­ve zwei­er Frau­en, Glo­ria & Marie, in schlich­ter, ein­fa­cher, sozu­sa­gen all­täg­li­cher Spra­che. Auf­fäl­li­ge Moti­ve bzw. (Stimmungs-)Indikatoren sind – etwas kli­schee­haft fast – das Ein­kau­fen, ins­be­son­de­re der Klei­dung, und Fri­su­ren (vor allem neue, ande­re). Natür­lich steht das in der Beto­nung der Mode und ande­rer „Äußer­lich­kei­ten“ in per­fek­ter Tra­di­ti­on des Popro­mans. Die Bana­li­tät des Lebens, der Freund­schaf­ten und Bezie­hun­gen, kurz: das „klei­ne Leben“ sind der Mit­tel­punkt der bei­den (mit­ein­an­der ver­wo­be­nen) all­täg­li­chen Frau­en­ge­schich­ten.

Das ist ein viel anstren­gen­de­res Leben, das ich füh­re, näm­lich ein glück­li­ches, als ein unglück­li­ches. (72)

Dou­glas Cou­p­land: Gene­ra­ti­on A. Stutt­gart: Tro­pen (Klett-Cot­ta) 2010. 333 Sei­ten.

Cou­p­lands zwei­ter „Gene­ra­tio­nen-Roman“ basiert auf einer schö­nen Idee: Die Welt nach dem Ver­schwin­den der Bie­nen in naher Zukunft wird über­rascht von fünf über die Welt ver­teil­ten Bie­nen­sti­chen. Die gesto­che­nen wer­den aus­gie­big unter­sucht und getes­tet (offen­bar ohne Ergeb­nis), dann zusam­men­ge­bracht, um sich Geschich­ten zu erzäh­len – die auch apo­ka­lyp­ti­sche Ele­men­te erhal­ten und bestimm­te Pro­zes­se in den Gehir­nen anre­gen sol­len – alles im Namen der Wis­sen­schaft, angeb­lich. Manch­mal blöd fand ich, wie wenig Wis­sen vor­aus­ge­setzt wird, wie viel erklärt wird (unter dem Deck­man­tel, dass es die Cha­rak­te­re auch nicht wis­sen …). Dafür ist Gene­ra­ti­on A wie für Cou­p­land typisch auf den Punkt geschrie­ben, packend und forsch – und natür­lich mit der übli­chen Por­ti­on Coupland’scher Zeit- und Gesell­schafts­kri­tik, auch Sprach­wan­del und ‑ver­lust spie­len – als Sym­pto­me – eine gro­ße Rol­le. Und schließ­lich taucht noch ein schö­ner Sto­rytwist kurz vor Schluss auf, der zum etwas kit­schi­gen Hap­py­end mit Frie­de, Freu­de und Eier­ku­chen führt (sogar die Bie­nen kom­men wie­der zurück …). Das ist alles sehr nett, aber nicht so her­aus­ra­gend wie ande­res von Cou­p­land.

Caro­lin Emcke: Wie wir begeh­ren. Bonn: Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung 2013 (Schrif­ten­rei­he 1370). 254 Sei­ten.

Wie wir begeh­ren ist kei­ne wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chung, son­dern ein Essay. Und zwar ein sehr guter (trotz eini­ger Beden­ken, die man inhalt­lich haben kann): Emcke erzählt sehr per­sön­lich, bleibt dabei aber nie ste­hen, son­dern reflek­tiert vom eige­nen Erle­ben aus: Die Ent­wick­lung von Sexua­li­tät, Lust und Begeh­ren im Lau­fe eines Lebens und – ganz wich­tig – der Umgang der Gesell­schaft mit die­sen The­men, der auch einem stän­di­gen Wan­del unter­liegt. Die Par­al­le­li­tät oder die Ver­schrän­kung von eige­nem Leben, der Erin­ne­rung und dem Nach­den­ken in allgemeinen/​soziologischen, auch sprach­li­chen Kate­go­rien (z.B. über das „Erwach­sen wer­den“, das „Coming of Age“) eig­net sich sehr gut, um die Viel­schich­tig­keit des The­mas in allen Belan­gen auch for­mal erfas­sen zu kön­nen.

Emcke gelingt es immer wie­der (nicht nur in die­sem Buch) auf­fäl­lig gut, genau die rich­ti­gen Fra­gen zu stel­len. Das kann schon mal ein ein­fa­ches „Ist das wirk­lich so?“ sein. Das dient, wie auch die vie­len Bei­spiel-Erzäh­lun­gen, der Per­spek­ti­vie­rung: Das, was wir heu­te als „nor­ma­les“ Begeh­ren emp­fin­den, ist es nicht über­all und immer (gewe­sen). Begeh­ren kann immer auch die Mög­lich­keit der Not des Begeh­rens ent­hal­ten (weil die jewei­li­ge Art des Begeh­rens sozial/​juristisch/​theologisch unter­sagt ist etwa). Eine beson­de­re Rol­le nimmt des­halb der Umgang mit Homo­se­xua­li­tät ein – wie­der­um sowohl auf persönlicher/​individueller und gesell­schaft­li­cher Ebe­ne.

Es ist ein Kate­go­rien­feh­ler, Sexua­li­tät über­haupt in mora­li­schen Begrif­fen zu ver­han­deln. (171)

Flann O’Bri­en: Aus Dal­keys Archi­ven. Zürich: Kein und Aber 2003. 256 Sei­ten.

Die Fabel hat durch­aus Poten­zi­al: Ein „Wis­sen­schaft­ler“ erfin­det eine Sub­stanz, die die Atmo­sphä­re so ändert, dass Leben nicht mehr mög­lich ist. Und die hat die Neben­funk­ti­on, die Zeit auf­zu­he­ben. Und Kon­takt zu Figu­ren aus dem Him­mel her­zu­stel­len. Aber das ist eigent­lich nur eine Rand-/Rah­men­hand­lung, die den Prot­ago­nis­ten zu sei­nen ver­zwick­ten Akti­vi­tä­ten treibt (und ihn eini­ge Bie­re und Whis­keys trin­ken lässt) sowie Anlass zu den kru­des­ten Welt­theo­rien bie­tet. Auch James Joy­ce taucht per­sön­lich Jahr­zehn­te nach sei­nem ver­meint­li­chen Tod noch auf, als Autor, der sei­ne eige­nen Wer­ke nicht geschrie­ben haben will und sie auch für den größ­ten Mist hält. Und dann ist da noch die katho­li­sche Kir­che und ihre Orden …

Wenn man von der „Kon­kur­renz“ O’Briens zu Joy­ce – die sich auch hier nie­der­schlägt (und nicht zum Bes­ten des Buches …) – absieht, ist das ein sehr net­ter, humo­ri­ger klei­ner Roman, sehr irisch im Per­so­nal, der Hand­lung und dem Witz (sowie den Trink­ge­wohn­hei­ten) noch dazu.

Joseph Jurt: Bour­dieu. Stutt­gart: Reclam 2008. 129 Sei­ten.

Jurt lie­fert hier eine sehr gedräng­te und dich­te, manch­mal für mich auch etwas arg ver­knapp­te Dar­stel­lung der Philosophie/​Soziologie Bour­dieus. Der Anfang etwa, wo er die Situa­ti­on der Phi­lo­so­phie in Frank­reich, in die Bour­dieu stößt beschreibt, und auch die Schil­de­rung sei­ner phi­lo­so­phi­schen Ent­wick­lung dar­in, die Kris­tal­la­ti­on sei­ner Grund­pos­tio­nen war für mich des­halb kaum les­bar. Das Pro­blem scheint mir auch zu sein, dass Jurt immer gleich den gan­zen Bour­dieu im Blick hat, also nicht ein­zel­ne Sta­tio­nen oder (Haupt-)Werke vor­stellt, son­dern immer auch die Ver­än­de­run­gen der Kon­zep­te im Lauf der Zeit mit­be­denkt – und das ist halt viel.

Ab dem drit­ten Kapi­tel, den „Grund­po­si­tio­nen Bour­dieus“ wird das aber kla­rer und deut­li­cher. Vor allem der Haupt­teil, das vier­te Kapi­tel, in dem Jurt die „zen­tra­len Kate­go­rien“ Bour­dieus vor­stellt, ist aus­führ­lich (und gut) erklärt – da wer­den natür­lich zuvör­derst das Kon­zept des „Habi­tus“ (das Bour­dieu von Panof­sky über­nom­men und modi­fi­ziert hat) und die Idee der „Fel­der“ geschil­dert.

John Dos Pas­sos: Man­hat­tan Trans­fer. Rein­bek: Rowohlt 2008 [1925]. 333 Sei­ten.

Das Schreck­li­che, wenn einem New York zuwi­der ist, das Schreck­li­che ist, daß man nir­gends anders hin kann. Hier sit­zen wir auf dem Gip­fel der Welt.“ (183)

… das ist so etwas wie der Leit­satz für Man­hat­tan Trans­fer: New York als Zen­trum und Brenn­punkt der Welt, in dem sich alle mög­li­chen Schick­sa­le tref­fen. Ent­spre­chend erzählt Dos Pas­sos das – und das ist der lite­ra­tur­ge­schicht­lich wohl bedeut­sams­te Punkt an die­sem Roman – in einer Poly­pho­nie der Stim­men, Orte und Geschich­ten. Beson­ders die pre­kä­ren Situa­tio­nen und Schick­sa­le der „ein­fa­chen“ Men­schen inter­es­sie­ren ihn: die Armen, (fast) Mit­tel­lo­sen, die Arbei­ten­den und Arbeits­su­chen­den. Immer wie­der tau­chen auch gro­ße Ideen und Ver­su­che auf, Pro­jekt, Ansät­ze und Unter­neh­mun­gen, die viel (oder gleich alles) ver­spre­chen) – und doch immer wie­der zum Schei­tern ten­die­ren, im pri­va­ten wie im geschäft­li­chen Leben. Aber auch eine gewis­se Frei­zü­gig­keit in sexu­el­len Din­gen ist mir beim Lesen auf­ge­fal­len, vor allem eine sehr fle­xi­ble, viels­sei­ti­ge und viel­schich­ti­ge Moral (nicht: Moral­lo­sig­keit!) der Cha­rak­te­re in Man­hat­tan Trans­fer.

Im schril­len Wind der Welt­ge­schich­te klat­schen die lan­gen Fah­nen und zer­ren an ihren Schnü­ren an den knar­ren­den, gold­knau­fi­gen Stan­gen in der V. Ave­nue. (224)

Peter K. Wehr­li: Kata­log von allem. 1697 Num­mern vom Anfang bis zum Neu­be­ginn. Zürich: Ammann 2008 [1925]. 533 Sei­ten.

Wehr­li hat sein Kon­zept der mini­ma­len Beob­ach­tun­gen – immer nur ein Satz pro Phä­no­men – ent­wi­ckelt, weil er sei­nen Foto­ap­pa­rat auf einer Rei­se ver­gaß. Dar­aus sind über Jahr­zehn­te eine Fül­le von „Num­mern“ in die­sem Kata­log erwach­sen (der übri­gens durch­aus nicht „alles“ umfasst, son­dern gera­de das Beson­de­re außer­halb des All­tags deut­lich bevor­zugt). Die sind span­nend in der Kon­zen­tra­ti­on auf Sin­gu­la­ri­tä­ten und erhel­lend in der Genau­ig­keit der Wahr­neh­mun­gen und Beob­ach­tun­gen. Aber manch­mal auch ermü­dend in der Viel­falt und Men­ge – ich kann das nur in klei­nen Dosen mit Gewinn lesen. Aber dann ist der Kata­log eben auch immer wie­der anre­gend in der Prä­zi­si­on und Kür­ze sei­ner Beschrei­bun­gen – und des­halb eine gro­ße Erfah­rung.

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