Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Aus-Lese #20

Robert See­tha­ler: Der Tra­fi­kant. Zürich, Ber­lin: Kein & Aber 2012. 250 Sei­ten.

Der Tra­fi­kant beruht auf einer span­nen­den Idee: Mit Hil­fe eines Prot­ago­nis­ten, der aus der länd­li­chen Regi­on am Atter­see nach Wien kommt, um dort Tra­fi­kant zu wer­den, erzählt See­tha­ler die Geschich­te Österreichs/​Deutschlands/​Europas in den 1930er und 1940er Jah­ren. Die Spie­ge­lung des kul­tu­rel­len und poli­ti­schen (Welt-)Geschehens (bzw. mar­kan­te Punkte/​Auszüge davon) in einem per­sön­li­chen Leben – das ist sicher­lich der inter­es­san­tes­te Aspekt am Tra­fi­kant. Die­se Ver­schrän­kung von Zeit­ge­schich­te und per­sön­li­cher Bio­gra­phi ist kei­nes­wegs eine neue, inno­va­ti­ve Idee See­tha­lers – aber die Art, wie er das erzäh­le­risch umsetzt, ist doch char­mant und über­zeu­gend. Das liegt auch dar­an, dass er gut zwi­schen bei­den Polen balan­ciert – das ist in die­sem Fall ja gera­de das Kunst­stück. Dazu kommt sein star­ker, kräf­tig zupa­cken­der Stil. Und eini­ge gute Ein­fäl­le wie zum Bei­spiel die geschick­te Inte­gra­ti­on von Sig­mund Freud als „Kapi­zi­tät“ und The­ra­peut (v.a./u.a. in Lie­bes­nö­ten). Das ist auch ein schö­ner Schach­zug des Erzäh­lers. So wer­den näm­lich auch Traum-Erin­ne­rung und ‑Deu­tung ganz unauf­fäl­lig zum Motiv im Tra­fi­kant – und Träu­me als Tex­te. Ein­fach schön ist, wie das nach und nach ganz sorg­sam ein­ge­führt wird … Sowie­so muss man die erzäh­le­ri­sche Sorg­falt See­tha­lers loben, sei­ne Pla­nung der Anla­ge der Handlung(en) – das gelingt ihm vor­züg­lich und macht den Tra­fi­kant zu so einer inter­es­san­ten Lek­tü­re.

„Die Leu­te sind ganz nar­risch nach die­sem Hit­ler und nach schlech­ten Nach­rich­ten – was ja prak­tisch ein und das­sel­be ist“, sag­te Otto Trsn­jek. „Jeden­falls ist das gut für das Zei­tungs­ge­schäft – und geraucht wird sowie­so immer!“ (35)

Müt­ze #5. Her­aus­ge­ge­ben von Urs Enge­ler. Solo­thurn 2013. 52 Sei­ten.

Die­ses Mal in einer der bes­ten Zeit­schrif­ten: Guy Daven­port schreibt asso­zia­ti­ons­reich über Bal­thus, Ste­phan Bro­ser führt vor, wie man psy­cho­ana­ly­ti­sche die Geburt der Psy­cho­ana­ly­se beschreibt oder erklärt (Anna – Anan­ke), dazu noch ein­ne span­nen­de „Ohren­Per­for­mance mit Live­Gui­de“ von Bri­git­te Olesch­in­ski, „spricht ins Ohr und Sie gehen mit“ beti­telt. Und noch die Fort­set­zung von Gün­ter Ples­sows Faul­k­ner-Über­set­zung (das ers­te Kapi­tel aus „Absa­lom, Absa­lom!“) – sehr anre­gend und anrei­chernd (lus­tig übri­gens, dass eine Zeit­schrift mit dem Namen „Müt­ze“, was ja eigent­lich so etwas wie eine Ein­he­gung des Kop­fes meint, eine absi­chern­de Beschrän­kung, sich so ganz und gar der Befrei­ung des Den­kens ver­schreibt und in alle Rich­tun­gen ihre Füh­ler aus­streckt, Gren­zen igno­riert und zur Sei­te stößt …)

Tho­mas De Quin­cey: Die letz­ten Tage des Imma­nu­el Kant. Aus dem Eng­li­schen über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Cor­ne­lia Lan­gen­dorf. Mit Bei­trä­gen von Fleur Jaeg­gy, Gio­gio Man­ganel­li und Albert Cara­co sowie einem Anhang. Mün­chen: Matthes & Seitz 1991. 143 Sei­ten.

Auf die­sen luf­ti­gen Text bin ich durch das 100-Sei­ten-Pro­jekt des Umblät­te­re­res gesto­ßen. Und ich muss sagen: Es macht Spaß, die­sen absei­ti­gen Text zu lesen. Das ist ein wun­der­bar erns­ter Scha­ber­nack … Dabei lässt es De Quin­cey nie an Pie­tät und Ver­eh­rung feh­len.

Inzwi­schen habe ich aus einer eige­nen (abso­lut zuver­läs­si­gen) Quel­le eini­ge Anga­ben erhal­ten, die die Aus­sa­gen […] teil­wei­se wider­le­gen. Wür­de ich mir des­halb erlau­ben, die Glaub­wür­dig­keit die­ser Her­ren anzu­zwei­feln? Kei­nes­wegs. (79)

Der kur­ze Text betont die abstru­sen Eigen­hei­ten und Son­der­lich­kei­ten Kants in der Schil­de­rung sei­nes Tages­ab­laufs und sei­nes Ver­falss zum Ster­ben. 1827 erst­mals erschie­nen, folgt er in einer selt­sa­men Mischung aus Wahr­heit und Dich­tung den Berich­ten Ehregott Andre­as Wasi­an­skis, einem Ver­trau­ten Kants aus des­sen letz­ten Lebens­jah­ren. De Quin­cey tut dies nüch­tern und empa­thisch, pedan­tisch und barock zugleich.

Die Aus­ga­be bei Matthes & Seitz ist außer­dem auch ein schö­nes Buch und mir ihren reich­li­chen Bei­ga­ben, die die Rezep­ti­on des Tex­tes in ver­schie­de­nen Spra­chen Euro­pas bei­läu­fig noch vor­führt und außer­dem die Absur­di­tät des in die Schä­del­mes­se­rei ver­lieb­ten 19. Jahr­hun­derts.

außer­dem:

  • Goe­thes Wert­her (die Fas­sung von 1774)
  • eini­ges von Arno Schmidt im Arno-Schmidt-Lese­buch

Zurück

Ins Netz gegangen (3.11.)

Nächster Beitrag

Kurzweil mit Kurt Weill

  1. matthias mader (@matthias_mader)

    Frisch gebloggt: Aus-Lese #20 > http://t.co/QCSJV64gVs

Schreibe einen Kommentar zu matthias mader (@matthias_mader) Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén