Serialize it!| jungle world → noch einmal georg seeßlen, dieses mal mit einem rundumschlag zu den (neuen) serien udn ihren eroflgen, ihren mthoden, varianten und bedingungen, aber auch ihrer (echten oder vermeintlichen) neuartigkeit
Die Sphären des Geschmacks driften auseinander, aber zugleich differenzieren sich auch die Märkte aus. […] Und auf der anderen Seite wird deutlich, wie sehr die Phase der Innovationen in eine Phase des medialen Kannibalismus übergeht. […] Nicht mehr Neuland soll betreten werden, sondern das Feld der populären Kultur wird abgegrast. Dann muss das Spiel wohl wieder neu beginnen.
„Wir sind nicht eure Diener“ | Tagesspiegel → sehr schönes, informatives, interessantes interview mit einer kinderkrankenschwester über ihren beruf und ihre patient*innen
Nationalismus versteht etwas von Macht, Glanz und Gloria, weniger von Menschlichkeit. Macht ist die Triebfeder jedweder nationalistischer Politik. Warum sollte ich dem Nationalstaat nachtrauern? Er ist ein Zwischenspiel der Geschichte, weder gottgegeben noch naturgewachsen.
Wahlkampfroman 2016. “So wird das Leben.” – Marlene Streeruwitz → “Bei der Wiederholung der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten steht die Entscheidung für oder gegen die Demokratie an. Marlene Streeruwitz erzählt in ihrem dritten Wahlkampfroman was diese Entscheidung im wirklichen Leben bedeutet.”
Journalist: Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner: “Wir sind anders” → ein interessantes und teilweise sehr entlarvendes interview. matthias daniel findet es z.b. (in einem fachmedium! für journalisten) “irre”, dass zeit-online den trainer des dfb mit einer nichtnachricht (er macht weiter) nicht als topthema hatte …
und immer wieder wundern mich medienzahlen — so “erreicht” ze.tt angeblich 10 % der bevölkerung in deutschland. das erscheint mir irre viel …
und eine schöne bullshit-phrase: genaue, personalisierte nutzerdaten sind “ein qualifizierter Kontakt zu vielen Lesern”
Language Stuff – Google Drive → irre viele (englischsprachige) grammatiken irre vieler sprachen, leider (in meinen stichproben) ohne ordentliche bibliographische nachweise. teilweise sprachlehrbücher, teilweise wissenschaftliche
Das zuständige Bundesinnenministerium lässt sich massiv von Wirtschaftslobbyisten beeinflussen und versucht, die Datenschutzverordnung in deren Sinne zu gestalten.
Der Müry Salzmann Verlag im Porträt » CULTurMAG — schönes porträt des jungen müry-salzmann-verlages, bei dem gute und schöne bücher erscheinen (u.a. auch der charmante kleine roman “mezzogiorno” von patrick maisano)
Kurz vor seinem Tod baten wir Fritz J. Raddatz, uns die fünf wichtigsten Bücher seines Lebens vorzustellen. Das Protokoll, das nun zum Vermächtnis eines großen Geistes geworden ist.
nicht in der Länge liegt hier die Enge, sondern in der merklich geschrumpften Brust der FAZ — die hat nicht mehr die schöne pluralistische Breite
Der NSU-Komplex — Nachrichten — DIE WELT — das ist alles schon ganz schön unglaublich, was hier nach und nach zum vorschein kommt (und doch auch wieder nicht überraschend — wer erwartet von geheimdiensten denn etwas anderes als konspirativ am rande der legalität oder dahinter zu arbeiten? das das allerdings mit solcher chuzpe (und unfähigkeit) geschieht, ist schon erstaunlich …
Bisher unveröffentlichte Dokumente zu einem der größten und rätselhaftesten Kriminalfälle der Republik bringen den Verfassungsschutz in Not: Wie nah …
Drohnen über Getreidefeldern, satellitengesteuerte Mähdrescher, Handy-Nachrichten vom Milchvieh: Mit Internet und Datenbanken machen sich auch die Bauern an die digitale Wende. Doch nicht alle können und wollen durchstarten.
Über Fotografie, Kommunikation, dämliches Grinsen und den öffentlichen Raum | Mario Sixtus — mario sixtus wird grundsätzlich ##blockquote## Wenn jeder einzelne Bürger seine Privatsphäre mit nach draußen nimmt und erwartet, dass sie dort unberührt bleibt, dann ist der öffentliche Raum nicht öffentlich, und dann ist es auch kein Raum, sondern allerhöchstens ein Strom aus einzelnen Privatschollen.##/blockquote und natürlich hat er recht: öffentlicher raum ist etwas anderes als die privatsphäre. und wir sollten dafür geeignete regen finden — gerade in einer zeit, die die öffentlichen räume eh’ schon stark genug einschränkt und kontrolliert und überwacht …
Das Ehegattensplitting ist zu einem Running Gag der Sozialgeschichte geworden. Morgens geht die Sonne auf, abends geht sie unter, und das Ehegattensplitting bleibt. Sogar die Atomkraft war in Deutschland müheloser zu beseitigen. […]Es ist etwas zerbrochen, das lange Zeit als unzerstörbar galt: die Solidarität des aufstrebenden Bürgertums mit dem Staat.
Wären die Autoren konsequent, müssten sie SPD und Papst als zumindest potenziell linksextrem bezeichnen. Und das zeigt, wie willkürlich und fragwürdig ihre L‑Skala ist. […] Letztendlich zeigt sich, dass es den Autoren, wie immer bei Extremismus- oder Totalitarismustheorien, um eines geht: um die Legitimation der herrschenden Ordnung aus Marktwirtschaft und freiheitlich-demokratischer Grundordnung.
Es wird mal wieder höchste Zeit für die nächste Aus-Lese …
Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Berlin: Verbrecher 2014. 286 Seiten.
Das Alphabet, ganz frisch vom Verlag, ist dennoch schon einige Jahre alt: Denn Stein legt hier ein Überarbeitung seines Erstlings vor. Das ist eine sehr aufwändig konstruierte, vertrackte Geschichte, die ich jetzt gar nicht rekonstruieren (oder gar nacherzählen) möchte — und wohl auch kaum noch könnte. Was mich wieder einmal überzeugt und beeindruckt hat, ist das Erzählen des Erzählens als Thema selbst, mit dem fast schon obligatorischen Verwischen von Erzähltem und Realität, bei dem die Grenzen zwischen erzählendem und erzählten Ich schnell überwunden (bzw. unkenntnlich gemacht) werden. Wo das Wirkliche unwirklich wird (zu werden scheint) — und die Phantasie auf einmal real: Da ist man in einem Text von Bejamin Stein. Seraphin mit Seelen aus Feuer tauchen hier auf, Selbstentzündungen der untreuen Liebhaber — überhaupt brennt hier ziemlich viel -: Engel, Golem und Rabbis, Worte und Namen und ähnliches bevölkeren dieses amüsante Verwirspiel auf vielen Ebenen der Erzählung und der Wirklichkeit (aber ist eine Wirklichkeit, in der es Engel gibt, Menschen, die selbst entzünden, Wiedergeburt/-erscheinen nach mehreren hundert Jahren als identische Person, ist so eine Wirklichkeit überhaupt „wirklich“?), angereichert mit religiösen Themen (und einigen Kuriosa, zumindest für mich, der ich mich in der jüdischen Religion so gar nicht auskenne). Und wie in Agententhrillern/-filmen/-serien wird sozusagen im nachhinein immer noch eine Ebene der Täuschung/Illusion/Erzählung/Fiktion eingebaut, die jeweils erst sichtbar wird, in dem sie zerstört wird, aufgelöst wird — und entsprechend rückwirkend den ganzen Text auflöst, entkernt, … Das ist ein alter Erzählertrick, gewiss, den Stein hier aber durchaus nett umsetzt. Manche Passagen sind für meinen Geschmack etwas krimihaft, manchmal auch etwas argl plauderend erzählt, zu sehr darauf angelegt, gemeinsame sache mit dem Leser machen. Mit Rationalität allein wird man diesem Buch über Engel, das zugleich ein vertrackter Mehrgenerationen-Familiengeschichte(n) im 20. Jahrhundert ist, in der alle mit allen zusammenhängen, kaum gerecht. Und sehr schön ist es übrigens auch, mal wieder ein in Leinen gebundenes Buch in der Hand zu haben — das liegt da gleich ganz anders …
Was weißt du schon? erwiderte die Stimme. Und das war der Satz, den er von nun an immer wieder hören sollte: Was weißt du schon? Sei nicht dumm. Es gibt ein Bild hinter dem Spiegel und eine Stadt tief unter dir. Es gibt Engel, die werden als Menschen geboren, und Menschen, die gehen in Flammen auf, weil die Buchstaben keck ihre Plätze tauschen und die Welt auf den Kopf stellen, nicht mehr als ein Spiel. (201f.)
Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt lesen! Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser im Literaturdschungel. Südwesthörn: Edition ReJOYCE 2014. 168 Seiten.
Ein schöner, kurzer und knackiger Überblick aus der Rathjen-Werkstatt: Zugleich eine ganz kurze Einführung in die Biographie Schmidts und ein Überblick über sein Schaffen. Das geschieht vor allem im Modus der Kurzcharakteristik aller Werke, die Rathjen chronologisch abhandelt und so zugleich auch ein bisschen Rezeptionsgeschichte — vor allem für die nachgelassenen Publikationen und Edition — bietet. Dazu gehört, den jeweiligen Werken zugeordnet, ein doch recht ausführliches Verzeichnis der (wichtigen?) Sekundärliteratur — leider ohne Kommentar und deshalb also ein doch nicht ganz so potenter „Wegweiser“. Als Hilfsmittel und Anregung für den (noch) nicht vollständigen Schmidtianer ist Arno Schmdit lesen! aber trotzdem nützlich, auch wenn für meinen Geschmack die Textlein zu den Werken manchmal doch arg kurz geraten sind. Doch weil Rathjen ein guter Kenner des Schmidtschen-Kosmos ist, hat das Büchlein durchaus seinen Wert, der naturgemäß für Schmidt-Kenner geringer ist als für Novizen.
Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem »r«. Erzählungen. Graz: Droschl 2014. 158 Seiten.
In Kürze: Ganz tolle Erzählungen sind hier zu finden, unbedingt empfehlenswert — wenn man kleine Geschichten zwischen Reportage und Momentaufnahme aus der Fremde Europas mit einem Hang zu leichter Melancholie und Traurigkeit mag. Meist geben sie kurze Einblicke in Leben und Charakter einer Person (die den Titel der jeweiligen Geschichte bildet), oft durch eine nahestende Erzählerin, einen Freund etwa. Das hat oft etwas von einer Pseudo-Reportage, wie es etwa eingearbeitete Zitate der Protagonisten einer Erzählung zur Darstellung ihres Hintergrunds, ihrer Geschichte nutzt, als stammten sie aus einem Gespräch. Dazu passt auch die Schlichtheit der Sätze — zumindest syntaktisch, lexikalisch ist das durchaus kunstvoll: Daher kommt auch der lyrische, oft leicht schwebende Ton der Erzählerinnen aus der Feder Rakusas.
Immer wieder werden beschädigte Leben erzählen: Heimatverlust oder überhaupt Heimatlosigkeit, das (ewige) Weiterziehen, die Suche nach einem Platz/Ort (nicht nur, aber auch geographisch) im Leben bestimmen den Weg der Protagonisten, die ganz überwiegend suchend sind, sich auf dem Weg beinden, immer unterwegs — nach Leben, Sinn etc., auch nach Erleuchtung (mehrmals suchen sie die ganz plakativ in Indien): entwurzelte Menschen der Moderne zeigt Rakusa uns. Momentan oder zeitweise, vorübergehend kann die Einsamkeit aufgehoben oder suspendiert werden — in Freundschaft(en) und Liebe etwa, wobei die Enthebung aus der Einsamkeit immer als solche, als nicht dauernde Erleichterung, auch wahrgenommen und erkannt wird: Das Bewusstsein der Endlichkeit der „Geselligkeit“ ist immer vorhanden, ihre Fragilität gewusst. So spielen sich in den Figuren Drama und Trauma der Gegenwart ab: Kapitalismus, Krieg und Krankheiten als Verursacher der „Störung“. Und: Europa außerhalb Deutschlands/Mitteleuropa wird gezeigt, mit Krieg und Kriegsfolgen, Armut, Leere, Verzweiflung, Leid, Trauer und Traurigkeit — ohne deshalb total schwarz zu sein, grundiert diese dunkle Erfahrung doch nicht nur das Leben der Protagonistinnen, sondern auch den Ton der meisten Erzählungen: dunkel, aber nicht depressiv; hart, aber nicht verzweifelt. Auch die Orte sind keineswegs alles Idyllen: Koljansk etwa wird als reiner Höllenort erzählt: Trostlos, aussichtslos, rettungslos: „Ein Punkt, der bald verschwunden sein wird. Dort.“ (158) — das sind zugleich die letzten Worte des Buches — die dem Ganzen noch einemal einen etwas überraschend düsternen, trostlos-grauen Dreh geben
Wie geht das: im Leben eine Seite umwenden? Aussteigen, weggehen, auf nichts hoffen als auf die Richtigkeit der Entscheidung. (73)
Wir waren kurz sehr lange weg gewesen. (79)
Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg: Hamburger Edition 2014. 174 Seiten.
Demokratien sind labile Gebilde, Dauerhaftigkeit gibt es nicht, die Demokratie muss immer neu hergestellt werden. Deswegen benötigen sie Entscheidungen, Reagieren — und Entwicklung, sie verzeihen aber auch Fehler. Ganz besonders gilt das für Momente der Krise. Müller zeigt das anhand “der” Krise der modernen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg am Ende der 1920er Jahre, im Umfeld der Wirtschaftskrise. Dabei zeigt Müller auch, wie eng soziale Demokratie (mit ihrer Umverteilung (die aus dem Gleichheitspostulat resultiert), also der „Wohlfahrtsstaat“ und demokratische Organisation sowie Gesinnung (der Bevölkerung) im 20. Jahrhundert in Europa (und den USA) zusammenhängen.
Demokratie will Müller verstanden wissen als Prozess, ständige Diskussion, Vergewisserung und Anpassung sind notwendig und wesenhaft. Das geschieht nicht in allen Ländern und Gesellschaften gleichzeitig und auf gleiche Weise. Für Deutschland stellt er etwa fest:
Demokratie als Kultur und Lebensweise musste in Deutschland mit besonderem Nachdruck verankert werden, weil Kriegsverlauf und Niederlage eine schwierige Ausgangslage geschaffen hatten: Die Kriegsniederlage führte zur Demokratie, was die Demokratie belastete. (81)
Und später heißt es:
Es bedurfte einer gewaltigen Erschütterung, um dieses Gefüge ins Wanken zu bringen. Die Weltwirtschaftskrise ließ die Entwicklung, die den Zeitgenossen seit dem Ersten Weltkrieg unaufhaltsam erschienen war, stillstehen. Das war nicht der Untergang. Aber die Routinen und Konventionen der Demokratien, die auch unter großem Druck so lange so gut funktioniert hatten, gerieten ins Stottern. Jetzt kam es auf kluges Regieren an, jetzt konnte jeder falsche Schritt in den Abgrund führen, jetzt waren antidemokratische Kräfte und Traditionen imstande, zur Bedrohung zu werden. Die liberale und soziale Demokratie war nicht am Ende. Sie ging sogar gestärkt aus der großen Krise hervor. Nur nicht in Deutschland. (112f.)
Das ist genau der Punkt, um den dieser Essay kreist: Die Entwicklung der Geschichte war — auch in Deutschland — keine zwangsläufige, der Weg aus der Krise hätte auch anders aussehen können. Versagen sieht Müller hier vor allem bei Brüning, dem er bescheinigt:
Vom Blickwinkel der Geschichte der Demokratie aus war es nicht diese oder jene Maßnahme der Brüning-Regierung, die den Untergang der Demokratie einleitete, nicht das Sparen selbst, sondern ein fundamentales intellektuelles Versagen, die Unfähigkeit, Politik in einer der Demokratie angemessenen Komplexität zu denken. (120)
Die Modi, Lösungen oder Strategien zur Bewältigung der Krise der Demokratie, darauf weist Müller ausdrücklich hin, hätten aber gerade das zur Bedingung gehabt: Die Beherrschung des „Theaters der Demokratie“ (127) — das scheint für Müller nicht nur der/ein wesentlicher Unterscheid zwischen Brüning und Roosevelt zu sein, sondern ein wesentliches Element erfolgreicher Krisenbewältigung. Zumindest kann man sein Lob von Roosevelts „demokratische[m] Experimentieren“ (129), das Müller wohl als angemessenstes Verfahren, die Krise zu be-/überwältigen, ansieht, so sehen.
Im Grunde ist das auch schon ein wesentlicher Teil des Hauptarguments: „Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat und Demokratie waren unauflöslich miteinander verwoben.“ (138f.). Und da sind, gerade in Krisenzeiten, für Müller handelnde Personen gefragt, Individuen (hier eben Politiker (& Keynes ;-))), die diese Komplexität erkennen und zugleich im demokratischen Diskurs (dem “Theater”) angemessen argumentieren können. In allen seinen Beispielen macht Müller Aktive aus, die die Demokratie „retten“ (oder im falle Brünings, eben nicht). Angelegt ist das dabei durchaus in Strukturen, aber die Notwendigkeit der/einer Entscheidung und — das ist im demokratischen Handeln eben immer genauso wichtig — des Überzeugens bleibt (als vornehmlich individuelle Leistung!).
Als konkrete Überlebensstrategien von Demokratien identifiziert Müller dann vor allem drei Momente: Erstens die „soziale Stabilisierung durch Sozialpolitik“ (das heißt auch, in wirtschaftlichen Krisenzeiten die staatlichen Investitionen auszuweiten statt blind zu sparen), zweitens die „politische Integration durch demokratisches Pathos, durch Partizipation und Mobilisierung der Bürger“ und drittens eine Wirtschaftspolitik mit intensivem eingreifen in ökonomische Strukturen, „ohne Rücksicht auf ökonomische Effizienz“, d.h. hier v.a. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (152). Das kann man übrigens, so deutet Müller sehr vorsichtig an, durchaus auch für die gegenwärtige Krise als Lösungsfaktoren annehmen … Über alle Krisen hinaus aber gilt:
Demokratien mussten sich ihrer ständigen Gefährdung auch in guten Zeiten bewusst bleiben. Unter allen Umständen galt es, ihr zivilisatorischen Minimum zu bewahren. (152)
Alexander Gumz: ausrücken mit modellen. Berlin: kookbooks 2011. 88 Seiten.
Seltsam: das fesselt oder berührt mich so gar nicht — ohne dass ich sagen könnte, warum. Irgendwie zünden die Bilder nicht, die Sprache (Stil und Form) setzt sich nicht fest, die Inhalte interessieren mich nicht. Die Formlosigkeit (gerne in langen Zweizeiler) ist zwar irgendwie gefühlt kookbooks-typisch, aber ich erkenne nichts, was die Texte für mich interessant machte. Vielleicht braucht’s nochmal eine Re-Lektüre in ein paar Wochen — wer weiß, möglicherweise sieht der Leseeindruck dann schon ganz anders aus …
Nette Momente hat das nämlich schon — zum Beispiel im ersten Zyklus, „zerbeultes gelände“: Der Wald, der wie auf Drogen scheint. Überhaupt spielen Zeichen (in) der Natur eine Rolle: das heißt nicht zufällig „zerbeultes gelände“, geht es doch immer wieder um die Einwirkung und die Eingriffe der Menschen in die Natur bzw. den Wald. Aber dann lese ich eben auch vieles, was mir nur seltsam und gewollt erscheint: wie gesagt, die Resonanz fehlt bei mir (was durchaus an diesem spezifischen Leser liegen kann): das sind nur lose gereihte gewollte Bilder für mich, nach den ersten Seiten ist aber auch dieser Reiz weg.
wir lehnen an der grenze zum gewitter, schütteln die köpfe.
unter unseren füßen dehnt sich der steg. (11, zerbeultes gelände)
Christoph Bangert: War Porn. Heidelberg, Berlin: Kehrer 2014. 189 Seiten.
Ein hartes, sehr hartes und grausames Buch. War Porn sammelt Kriegsfotografie aus Irak und Afghanistan vor allem, die in Zeitungen und Zeitschriften nicht gedruckt wird. Sie zeigt nämlich vor allem die Opfer, die Reste, die von Menschen manchmal nur noch übrig bleiben, nach dem der Krieg über sie hinweg gegangen ist. Aber das ist eben auch eminent wichtig, so etwas zu sehen, sich selbst zuzumuten — Krieg, Gewalt passiert ja nicht einfach, sondern wird gemacht. Von Menschen. Überall und immer wieder. Daran muss man erinnern: wie das aussieht — abseits der schicken Kampfjets oder der harmlos verniedlichten “Drohnen”. Klug ist das insofern, als Bangert sehr wohl um die „Normalität“ seiner Bilder weiß: Die sind — und das gilt eben leider auch für das dargestellte — keineswegs außergewöhnlich. Ungewöhnlich ist nur, dass sie gezeigt werden. Das — als Buch — zu loben, hat einen bitteren Beigeschmack: Denn das ist zwar durchaus ein schönes Buch, schöner wäre es aber, wenn es War Porn gar nicht gäbe.
What you see in this book is my personal experience. And in a way it’s yours, too, because these things happened in your lifetime. You as a viewer are complicit. (3)
außerdem:
Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands — großartig und erschlagend, fesselnd und langweilend ohne Ende (je nach dem, wo man gerade ist — im 2. Buch hatte ich ganz schöne Durchhänger …)
Johann Beer (das “Tagebuch”, Jucundi Jucundissimi wunderliche Lebens-Beschreibung u.a.)
Christian Reuter, Schmelmuffskys wahrhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande
Joseph Roth, Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters
Es war, als würde man versuchen, eine inhaltliche Diskussion mit einem Sechsjährigen zu führen, der als Argumente zweihundert Fleischbällchen in Tomatensoße hat und bereit ist, jedes einzelne abzufeuern.
Sprachkritik ist als Wortkritik immer irgendwie im Hintertreffen. Sprachkritik braucht wirklich Diskussion, Eingehen auf Umstände und Motive, sie braucht schlicht Zusammenhang. Was sind deshalb die besten Orte für Sprachkritik? Erstens die Schule, zweitens die Schule, drittens die Schule. Hier kann über Sprache gesprochen werden, hier lassen sich Missverständnisse beseitigen, hier geht es statt um Dekrete um Analysen.
Arno Schmidt zum Vergnügen. Stuttgart: Reclam 2013. 191 Seiten.
Dieses kleine, von Susanne Fischer (der Geschäftsführerin der Arno-Schmidt-Stiftung) herausgegebene Bändchen hält genau, was der Titel verspricht: Vergnügliche Streifzüge durch das Schaffen Schmidts. Thematisch in 14 Kapitel geordnet, versammelt das hier Bonmots, Einfälle, Aussprüche und kurze Abschnitte, die im weitesten Sinne vergnüglich sind: Weil sie humorig formuliert sind oder afu eben diese Weise bestimmte Dinge beobachten. Eine wunderbare Lektüre für zwischendurch (weil das fast immer nur kurze Abschnitte von wenigen Sätzen sind).
Ziegler erzählt in Nichts Weißes die Lebensgeschichte einer Schriftgestalterin und die Idee der perfekten, weil absolut unaufälligen Schrift am Umbruch zum Computer-/PC-Zeitalter. Das wird aber erst auf den letzten Seiten richtig deutlich: Dann wird klar, dass es hier vor allem um das Ende des klassischen Gutenberg-Zeitalters mit seiner Fixierung auf Schrift und Text (und deren Herstellung, um die es hier — im Bereich der Typographie — ja vor allem geht) geht. Das ist durchaus raffiniert, etwa in der Andeutung der Auflösung der Textdominanz durch die (Gebrauchs-)Grafik der Werbung und ähnliche Vorgänge, auch die allmählich wachsende Dominanz der Computer ist ganz geschickt erzählt, auch wenn das am Ende etwas platt wird. Überhaupt erzählt Ziegler durchwegs gut und klug, aber sprachlich ohne besondere Faszination für mich. Auch schien mir das Ziel des Textes lange Zeit nicht so recht klar, zumal es weite Abschweifungen gibt, die nicht so recht motiviert sind — etwa die Blicke in die Kindheit: Das sind formal etwas fragwürdige Lösungen, um die (inhaltliche) Motivation der Heldin Marleen hinzubekommen und ausführlich zu erklären. Der Schluss ist dann etwas unvermittelt, die Wende zum Computerzeitalter scheint schon über den Text hinaus zu gehen.
Überhaupt verliert das dann an Kraft, wenn es um die eigentlichen Lebenswege der Protagonistin geht. Wo Ziegler die “Hintergründe” — das Aufwachsen im Deutschland der 70er/80er Jahre etc. — schildert, ist es viel präziser und faszinierender als im Lebenslauf Marleens, der etwas blass bleibt.
Genervt haben mich etwas die oberflächlich verhüllten Anspielungen auf reale Welten — IBM heißt hier IOM (office statt bureau), Greno in Nördlingen Volpe, die Andere Bibliothek ist die Eigene geworden und so weiter — das ist so durchsichtig, dass es eigentlich sinnlos ist und den Text irgendwie billig wirken lässt.
Hans Franck: Die Pilgerfahrt nach Lübeck. Eine Bach-Novelle. Gütersloh: Bertelsmann 1952. 80 Seiten.
Franck schildert hier die berühmte “Urlaubsreise” Bachs zum großen Organisten Dietrich Buxtehude nach Lübeck, die ein kleines bisschen länger dauerte als geplant: Der Arnstädter Rat hatte seinem Organisten einen Monat Urlaub genehmigt, nach mehr als vier Monaten war Bach wieder in Thürigen zurück. Francks Novelle pendelt zwischen pseudobarockem Satzgeschwurbel und modernem Menschenbild, garniert mit einer deftigen Prise überbordender Frömmigkeit. Weder literarisch noch historisch besonders wertvoll, aber eine nette Kuriosität für eine Stunde Zugfahrt …
… als verfrühter Auftakt zum 200-jährigen Jubiläum des Wiener Kongress schon mal eine Einschätzung von Arno Schmidt:
Damals in Wien wurde seitens der Monarchen und ihrer Kanzler organisiert: die Restauration, die Große Lähmung, die »Heilige Allianz« — das Windei, an dem wir auch heute wieder saugen. Unser dummes Volk freilich — zu dessen Merkmalen es gehört, daß es kitschigen Formulierungen gegenüber besonders widerstandslos ist — hat sich die sinistren Fakten dessen, was damals mit ihm gemacht wurde, durch folgende Überschrift aus dem Gedächtnis weg=eskamotieren lassen: »Der Kongreß tanzt«: so bringt man dem »Untertan« Geschichte bei: es lebe die Mnemotechnik!Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns
Das Verläßlichste sind Naturschönheiten. Dann Bücher; dann Braten mit Sauerkraut. Alles andere wechselt und gaukelt. Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns
Robert Seethaler: Der Trafikant. Zürich, Berlin: Kein & Aber 2012. 250 Seiten.
Der Trafikant beruht auf einer spannenden Idee: Mit Hilfe eines Protagonisten, der aus der ländlichen Region am Attersee nach Wien kommt, um dort Trafikant zu werden, erzählt Seethaler die Geschichte Österreichs/Deutschlands/Europas in den 1930er und 1940er Jahren. Die Spiegelung des kulturellen und politischen (Welt-)Geschehens (bzw. markante Punkte/Auszüge davon) in einem persönlichen Leben — das ist sicherlich der interessanteste Aspekt am Trafikant. Diese Verschränkung von Zeitgeschichte und persönlicher Biographi ist keineswegs eine neue, innovative Idee Seethalers — aber die Art, wie er das erzählerisch umsetzt, ist doch charmant und überzeugend. Das liegt auch daran, dass er gut zwischen beiden Polen balanciert — das ist in diesem Fall ja gerade das Kunststück. Dazu kommt sein starker, kräftig zupackender Stil. Und einige gute Einfälle wie zum Beispiel die geschickte Integration von Sigmund Freud als “Kapizität” und Therapeut (v.a./u.a. in Liebesnöten). Das ist auch ein schöner Schachzug des Erzählers. So werden nämlich auch Traum-Erinnerung und ‑Deutung ganz unauffällig zum Motiv im Trafikant — und Träume als Texte. Einfach schön ist, wie das nach und nach ganz sorgsam eingeführt wird … Sowieso muss man die erzählerische Sorgfalt Seethalers loben, seine Planung der Anlage der Handlung(en) — das gelingt ihm vorzüglich und macht den Trafikant zu so einer interessanten Lektüre.
„Die Leute sind ganz narrisch nach diesem Hitler und nach schlechten Nachrichten — was ja praktisch ein und dasselbe ist“, sagte Otto Trsnjek. „Jedenfalls ist das gut für das Zeitungsgeschäft — und geraucht wird sowieso immer!“ (35)
Mütze #5. Herausgegeben von Urs Engeler. Solothurn 2013. 52 Seiten.
Dieses Mal in einer der besten Zeitschriften: Guy Davenport schreibt assoziationsreich über Balthus, Stephan Broser führt vor, wie man psychoanalytische die Geburt der Psychoanalyse beschreibt oder erklärt (Anna — Ananke), dazu noch einne spannende “OhrenPerformance mit LiveGuide” von Brigitte Oleschinski, “spricht ins Ohr und Sie gehen mit” betitelt. Und noch die Fortsetzung von Günter PlessowsFaulkner-Übersetzung (das erste Kapitel aus “Absalom, Absalom!”) — sehr anregend und anreichernd (lustig übrigens, dass eine Zeitschrift mit dem Namen “Mütze”, was ja eigentlich so etwas wie eine Einhegung des Kopfes meint, eine absichernde Beschränkung, sich so ganz und gar der Befreiung des Denkens verschreibt und in alle Richtungen ihre Fühler ausstreckt, Grenzen ignoriert und zur Seite stößt …)
Thomas De Quincey: Die letzten Tage des Immanuel Kant. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Cornelia Langendorf. Mit Beiträgen von Fleur Jaeggy, Giogio Manganelli und Albert Caraco sowie einem Anhang. München: Matthes & Seitz 1991. 143 Seiten.
Auf diesen luftigen Text bin ich durch das 100-Seiten-Projekt des Umblättereres gestoßen. Und ich muss sagen: Es macht Spaß, diesen abseitigen Text zu lesen. Das ist ein wunderbar ernster Schabernack … Dabei lässt es De Quincey nie an Pietät und Verehrung fehlen.
Inzwischen habe ich aus einer eigenen (absolut zuverlässigen) Quelle einige Angaben erhalten, die die Aussagen […] teilweise widerlegen. Würde ich mir deshalb erlauben, die Glaubwürdigkeit dieser Herren anzuzweifeln? Keineswegs. (79)
Der kurze Text betont die abstrusen Eigenheiten und Sonderlichkeiten Kants in der Schilderung seines Tagesablaufs und seines Verfalss zum Sterben. 1827 erstmals erschienen, folgt er in einer seltsamen Mischung aus Wahrheit und Dichtung den Berichten Ehregott Andreas Wasianskis, einem Vertrauten Kants aus dessen letzten Lebensjahren. De Quincey tut dies nüchtern und empathisch, pedantisch und barock zugleich.
Die Ausgabe bei Matthes & Seitz ist außerdem auch ein schönes Buch und mir ihren reichlichen Beigaben, die die Rezeption des Textes in verschiedenen Sprachen Europas beiläufig noch vorführt und außerdem die Absurdität des in die Schädelmesserei verliebten 19. Jahrhunderts.
außerdem:
GoethesWerther (die Fassung von 1774)
einiges von Arno Schmidt im Arno-Schmidt-Lesebuch