Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Jahr: 2013 Seite 4 von 31

Indulgierte Idiosynkrasien

Ann Cot­ten liest von uner­wiedert­er Liebe, Prinzip­i­en­bastelei, Selb­stschau und Ekel — und ein Text wie “Der schaud­ernde Fäch­er”, in dem Wen­dun­gen wie “indulgierte Idiosynkrasien” vorkom­m­men, ver­heißt mir Lesev­ergnü­gen … Zum Anschauen/Anhören muss man sich lei­der zur “Zeit” hinüber begeben, das Video lässt sich nicht ein­binden: klick.

Taglied 10.11.2013

David Gilmour, Wish you were here (unplugged, live)

David Gilmour Wish you were here live unplugged

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

Diamantblätter

Neuer Tee! Endlich ist es mal wieder so weit, ein großes Paket von Kolodziej & Lieder kon­nte ich heute bei der Post abholen. Und lauter feine Dinge sind da drin, so dass ich kaum weiß, wom­it ich anfan­gen soll ;-)

Also war heute der “Kabuse Dia­mond Leaf” aus der Präfek­tur Kagoshi­ma in der südlich­sten Spitze von Japan dran. Das ist grün­er Tee, der ganz schick in ein­er luft­dicht ver­siegel­ten Dose verkauft wird. Der Name — Kabuse — weist schon darauf hin: Das ist ein Tee, der im Anbau beschat­tet (Halb­schat­ten) wird. Und diese Vari­ante wird noch dazu — so ver­spricht die Wer­bung — beson­ders selek­tiv und auch ver­gle­ich­sweise früh, näm­lich in der ersten April­hälfte, geern­tet.

Unvergesslich­es Aro­ma hat der Händler mir ver­sprochen — und das stimmt. Das ist ein­er dieser großar­ti­gen japanis­chen Tees, die ganz unschein­bar daherkom­men, aber raf­finiert und tief­gründig sind. Schon die feinen grü­nen Blätte ver­strö­men aus der Dose einen inten­siv­en fruchti­gen Duft, der die Span­nung auf die Tasse noch erhöht. Knapp 60 Sekun­den später ist klar: Der Tee ist wirk­lich so leck­er, wie er riecht. Der erste Auf­guss bei ca. 65 °C, wie es sich gehört, in der Seit­en­grif­fkanne, durfte eine knappe Minute ziehen und bringt so eine helle Tasse, die aber stark duftet, her­vor. Dabei — und das ist ja fast immer das Zeichen beson­ders guten Tees — drängt sich kein einzelnes Aro­ma her­vor. Stattdessen zeigt der Kabuse sich seines Namens wirk­lich würdig: Dia­man­ten­qual­ität sozusagen, von hoher Rein­heit und Eben­mäßigkeit. Die fol­gen­den Aufgüsse sind — bei wesentlich kürz­eren Ziehzeit­en — erwartungs­gemäß etwas kräftiger, dann auch robuster und hand­fester. Ich finde es ja immer wieder span­nend, wie so ein Tee sich vom ersten zum vierten oder fün­ften Auf­guss hin verän­dert, wie ein paar Sekun­den mehr oder weniger einen deut­lichen Unter­schied machen kön­nen und manch­mal sog­ar ein ganz neuen Tee her­vor­brin­gen. Mit den Dia­mant­blät­tern des “Kabuse Dia­mond Leaf” werde ich sicher­lich noch viel solchen Spaß haben …

Tee: Kabuse Dia­mond Leaf, Japan Kagoshi­ma (Keiko)
Zubere­itung: 65 °C warmes Wass­er, ca. 1 flach­er Teelöf­fel in die Seit­en­grif­fkanne, der 1. Auf­guss mit 60 Sekun­den, Aufgüsse 2–4 mit 15–20 Sekun­den Ziehzeit.

Ins Netz gegangen (7.11.)

Ins Netz gegan­gen am 7.11.:

  • The war diaries of Dieter Finzen in both world wars: Ende — Das Tage­buch von Dieter Finzen aus dem Ersten und Zweit­en Weltkrieg ist voll­ständig online — mit dem 23. Okto­ber 1940 enden die Ein­tra­gun­gen, und damit ist auch das Blog mit den zeit­ver­set­zten Veröf­fentlichun­gen sein­er Tage­sein­träge zu einem Ende gekom­men. Span­nend ist die Lek­türe trotz­dem …
  • Twit­ter / usmanm: This is a ship-ship­ping ship, … — total ver­rückt: RT @usmanm: This is a ship-ship­ping ship, ship­ping ship­ping ships.
  • Bedeu­tungsver­lust des „Spiegel“: Genug der Dick­hodigkeit — taz.de — Daran liegt es also — die taz hat den Grund für die Mis­ere des Spiegels gefun­den:

    die Anzahl der Romane, die mit­tler­weile von Spiegel-Redak­teuren neben ihrem Job ver­fasst wer­den, kor­re­liert auf­fäl­lig mit dem Qual­itätsver­lust im Blatt.

  • BMW i3: Car­shar­ing bes­timmt das Aut­o­fahren von mor­gen — SPIEGEL ONLINE — Mar­gret Hucko inter­viewt für den Spiegel den Verkehrs­plan­er Kon­rad Roth­fuchs, der halb­wegs opti­mistisch ist, dass die Sit­u­a­tion in den Städten sich in näch­ster Zeit doch allmäh­lich ändern wird — nicht so sehr aus ökol­o­gis­chen oder ökonomis­chen Grün­den, son­dern weil Zeit und Raum knap­per wer­den:

    aber schauen Sie mal mit welch­er Selb­stver­ständlichkeit die Autos die Straßen dominieren. Es ist ja nicht nur Raum weg. Autos stellen ein großes Unsicher­heit­sprob­lem dar
    […] Die derzeit noch rel­a­tiv hohe Durch­schnitts­geschwindigkeit in deutschen Städten sinkt weit­er kon­tinuier­lich. Damit wird ein Umstieg oder ein Rückschritt aufs Auto eher unwahrschein­lich. Weniger der ökol­o­gis­che Gedanke ver­an­lasst uns, Bus und Bahn zu nehmen. Vielmehr zählt der Fak­tor Zeit. […] Dem öffentlichen Nahverkehr gehört die Zukun­ft.

  • Alter Affe Männlichkeit — Mann kön­nte ja mal … — dieStandard.at › All­t­ag — Nils Pick­ert arbeit­et sich an den Maskulin­is­ten — hier v.a. Leon de Win­ter — ab (lei­der mal wieder aus aktuellem Anlass):

    Eigentlich hat der alte Affe Männlichkeit nur Angst. Wenn er ein Mann wäre, wüsste er, dass das in Ord­nung ist. Aber so wird er manch­mal ziem­lich fies. Dann sagt er Sachen wie “Fem­i­nis­mus ist has­ser­füllt und ver­has­st – lasst ihn uns töten!” und merkt nicht ein­mal, wie sehr er sich damit ent­larvt. Denn spätestens dann weiß man ganz genau, wie man mit ihm umzuge­hen hat: Gib dem Affen keinen Zucker!/

  • Liege­fahrräder aus Krif­tel: Am Anfang ging das Licht aus — Rhein-Main — FAZ — Ein net­ter klein­er Bericht über HP-Ver­lotech­nik:

    „Am Anfang bekam die ganze Gemeinde mit, wenn wir Met­all­rah­men her­stell­ten“, erzählt Hol­lants. „Die Mas­chine brauchte so viel Span­nung, dass immer kurz das Licht aus­ging, wenn wir sie eingeschal­tet haben.“

Kurzweil mit Kurt Weill

Eine schöne kleine Spaß-/Werbe-Gueril­la-Aktion von Aman­da Palmer: Aus Kurzweil, der Marke des Instru­ments, wird Kurt Weill — also ein ästhetis­ches State­ment. So ein­fach ist das manch­mal.

Kurzweil mit Kurt Weill (Aman­da Palmer)

Aus-Lese #20

Robert Seethaler: Der Trafikant. Zürich, Berlin: Kein & Aber 2012. 250 Seit­en.

Der Trafikant beruht auf ein­er span­nen­den Idee: Mit Hil­fe eines Pro­tag­o­nis­ten, der aus der ländlichen Region am Attersee nach Wien kommt, um dort Trafikant zu wer­den, erzählt Seethaler die Geschichte Österreichs/Deutschlands/Europas in den 1930er und 1940er Jahren. Die Spiegelung des kul­turellen und poli­tis­chen (Welt-)Geschehens (bzw. markante Punkte/Auszüge davon) in einem per­sön­lichen Leben — das ist sicher­lich der inter­es­san­teste Aspekt am Trafikant. Diese Ver­schränkung von Zeit­geschichte und per­sön­lich­er Biographi ist keineswegs eine neue, inno­v­a­tive Idee Seethalers — aber die Art, wie er das erzäh­lerisch umset­zt, ist doch char­mant und überzeu­gend. Das liegt auch daran, dass er gut zwis­chen bei­den Polen bal­anciert — das ist in diesem Fall ja ger­ade das Kun­st­stück. Dazu kommt sein stark­er, kräftig zupack­ender Stil. Und einige gute Ein­fälle wie zum Beispiel die geschick­te Inte­gra­tion von Sig­mund Freud als “Kapiz­ität” und Ther­a­peut (v.a./u.a. in Liebesnöten). Das ist auch ein schön­er Schachzug des Erzäh­lers. So wer­den näm­lich auch Traum-Erin­nerung und ‑Deu­tung ganz unauf­fäl­lig zum Motiv im Trafikant — und Träume als Texte. Ein­fach schön ist, wie das nach und nach ganz sorgsam einge­führt wird … Sowieso muss man die erzäh­lerische Sorgfalt Seethalers loben, seine Pla­nung der Anlage der Handlung(en) — das gelingt ihm vorzüglich und macht den Trafikant zu so ein­er inter­es­san­ten Lek­türe.

„Die Leute sind ganz nar­risch nach diesem Hitler und nach schlecht­en Nachricht­en — was ja prak­tisch ein und das­selbe ist“, sagte Otto Trsnjek. „Jeden­falls ist das gut für das Zeitungs­geschäft — und ger­aucht wird sowieso immer!“ (35)

Mütze #5. Her­aus­gegeben von Urs Engel­er. Solothurn 2013. 52 Seit­en.

Dieses Mal in ein­er der besten Zeitschriften: Guy Dav­en­port schreibt assozi­a­tion­sre­ich über Balthus, Stephan Bros­er führt vor, wie man psy­cho­an­a­lytis­che die Geburt der Psy­cho­analyse beschreibt oder erk­lärt (Anna — Ananke), dazu noch einne span­nende “Ohren­Per­for­mance mit LiveG­uide” von Brigitte Oleschin­s­ki, “spricht ins Ohr und Sie gehen mit” betitelt. Und noch die Fort­set­zung von Gün­ter Plessows Faulkn­er-Über­set­zung (das erste Kapi­tel aus “Absa­lom, Absa­lom!”) — sehr anre­gend und anre­ich­ernd (lustig übri­gens, dass eine Zeitschrift mit dem Namen “Mütze”, was ja eigentlich so etwas wie eine Ein­hegung des Kopfes meint, eine absich­ernde Beschränkung, sich so ganz und gar der Befreiung des Denkens ver­schreibt und in alle Rich­tun­gen ihre Füh­ler ausstreckt, Gren­zen ignori­ert und zur Seite stößt …)

Thomas De Quincey: Die let­zten Tage des Immanuel Kant. Aus dem Englis­chen über­set­zt und her­aus­gegeben von Cor­nelia Lan­gen­dorf. Mit Beiträ­gen von Fleur Jaeg­gy, Gio­gio Man­ganel­li und Albert Cara­co sowie einem Anhang. München: Matthes & Seitz 1991. 143 Seit­en.

Auf diesen lufti­gen Text bin ich durch das 100-Seit­en-Pro­jekt des Umblät­ter­eres gestoßen. Und ich muss sagen: Es macht Spaß, diesen abseit­i­gen Text zu lesen. Das ist ein wun­der­bar ern­ster Sch­aber­nack … Dabei lässt es De Quincey nie an Pietät und Verehrung fehlen.

Inzwis­chen habe ich aus ein­er eige­nen (abso­lut zuver­läs­si­gen) Quelle einige Angaben erhal­ten, die die Aus­sagen […] teil­weise wider­legen. Würde ich mir deshalb erlauben, die Glaub­würdigkeit dieser Her­ren anzuzweifeln? Keineswegs. (79)

Der kurze Text betont die abstrusen Eigen­heit­en und Son­der­lichkeit­en Kants in der Schilderung seines Tagesablaufs und seines Ver­falss zum Ster­ben. 1827 erst­mals erschienen, fol­gt er in ein­er selt­samen Mis­chung aus Wahrheit und Dich­tung den Bericht­en Ehre­gott Andreas Wasian­skis, einem Ver­traut­en Kants aus dessen let­zten Leben­s­jahren. De Quincey tut dies nüchtern und empathisch, pedan­tisch und barock zugle­ich.

Die Aus­gabe bei Matthes & Seitz ist außer­dem auch ein schönes Buch und mir ihren reich­lichen Beiga­ben, die die Rezep­tion des Textes in ver­schiede­nen Sprachen Europas beiläu­fig noch vor­führt und außer­dem die Absur­dität des in die Schädelmesserei ver­liebten 19. Jahrhun­derts.

außer­dem:

  • Goethes Werther (die Fas­sung von 1774)
  • einiges von Arno Schmidt im Arno-Schmidt-Lese­buch

Ins Netz gegangen (3.11.)

Ins Netz gegan­gen am 3.11.:

  • Face­book His­to­ry of the World | Col­lege­Hu­mor — großar­tig und ziem­lich cool (auch wenn’s etwas Ameri­ka-lastig ist): Eine kurze Geschichte der Welt im Face­book-Style
  • Sibylle Berg über Kul­turpes­simis­mus — hach, Sibylle Berg hat mal wieder sehr recht — und bringt das aus­gze­ich­net auf den Punkt:

    All die Texte, in denen wir, Jahrgang vor 1990, das Ver­schwinden der kul­turellen Werte beweinen, sind für die Toi­lette geschrieben. Oder noch nicht mal dafür, wir schreiben ja online. Es ist das Jam­mern Ster­ben­der, die dum­mer­weise zwis­chen zwei Zeit­en leben.

  • Bilder im dig­i­tal­en Zeital­ter — Abgeschossen — Süddeutsche.de — Peter Richter denkt in der Süd­deutschen über den Umgang mit diev­ersen For­men von Porträt­fo­tos nach — beim Erstellen wie beim Anschauen und — wil­lentlichen oder unwil­lentlichen — Ver­bre­it­en

    Halb­wüch­sige mailen wie wild Self­ies herum, Frauen wehren sich auf Revenge Porn gegen im Web kur­sierende freizügige Bilder von sich selb­st und Hugh Grant fungiert als Mona Lisa der Mugshots. Neue dig­i­tale Bild­for­mate zer­stören unseren Ruf, set­zen ganze Exis­ten­zen aufs Spiel. Das Phänomen ist nicht neu. Aber Wegschauen hil­ft nicht.

  • Wack­en-Fes­ti­val nutzt Car­go-Bikes « Velophil — Nicht nur das Wack­en-Fes­ti­val, auch ökonomisch kalkulierende Unternehmen ent­deck­en die Vorteile von Las­ten­rädern:

    In großen Indus­triean­la­gen wer­den Las­ten­räder bere­its seit Jahrzehn­ten einge­set­zt. Timo Messer­schmidt von der Fir­ma Wis­ag machte auf der Las­ten­rad­ta­gung in Ham­burg deut­lich, dass Unternehmer mit den Car­go-Bikes auch richtig Geld sparen.

  • Edward Snow­den: Ein Flüchtling, wie er im Buche ste­ht — Poli­tik — Süddeutsche.de — Herib­ert Prantl spricht in seinem Kom­men­tar mal wieder deut­liche und wahre Worte (die ver­mut­lich an den entschei­de­nen Stellen aber wieder mal nicht gehört und beachtet wer­den wer­den):

    Man kann die Art von Spi­onage, die der NSA betrieben hat und wohl immer noch betreibt, als Staatskrim­i­nal­ität beschreiben. Snow­dens Han­deln mag in den USA straf­bar sein, weil er US-Geset­ze ver­let­zt hat; wirk­lich krim­inell sind die Zustände und die Machen­schaften, die er anprangert.[…] Deutsch­land braucht Aufk­lärung über die umfassenden Lauschangriffe der USA. Dieser Aufk­lärung ist nur mit der Hil­fe von Snow­den möglich. Und Aufk­lärung ist der Aus­gang aus selb­stver­schulde­ter Unmündigkeit.

Der “echte” Rand

In Edgar Wol­frums Die geglück­te Demokratie. Geschichte der Bun­desre­bub­lik Deutsch­land von ihren Anfän­gen bis zur Gegen­wart heißt es auf Seite 641:

Hin­sichtlich der Anti-Sys­tem­partein am echt­en und linken Rand des poli­tis­chen Spek­trums erwiesen sich Parteien­ver­bote der wehrhaften Demokratie als ein pro­bates Mit­tel, die Repub­lik zu kon­so­li­dieren.

Ich glaube, einen schöneren Flüchtigkeits­fehler habe ich bish­er noch nicht wahrgenom­men: Der “echte Rand” hat schon seine ganz eige­nen Qual­ität (ich möchte jet­zt nicht darüber spekulieren, ob — und was — uns dieser Fehler über die Ein­stel­lung oder den Stan­dort des Ver­fassers ver­rät …).

Show 1 foot­note

  1. Ich benutze die Aus­gabe der Bun­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung, Bonn 2007, die aber wohl seit­eniden­tisch ist mit der Erstau­flage bei Klett-Cot­ta, Stuttgart 2006.

Revolutionär? Die Darmstädter Büchnerausstellung

“Rev­o­lu­tion mit Fed­er und Skalpell” ist die große Ausstel­lung zum 200. Geburt­stag von Georg Büch­n­er unter­titelt. Das ist bemerkenswert (weil momen­tan das Rev­o­lu­tionäre in Leben und Werk Büch­n­ers keine beson­dere Kon­junk­tur hat …) und son­der­bar, weil es die Ausstel­lung nicht wider­spiegelt. Offen­bar war die Lust nach einem grif­fi­gen Slo­gan aber größer als der Wun­sch, dem Besuch­er zu sig­nal­isieren, was ihn erwartet …

Ganz Darm­stadt büch­n­ert dafür, für die Gele­gen­heit “seinen” Dichter zu ehren. Über­all wird für ihn und vor allem die Ausstel­lung gewor­ben. Auch das übri­gens viel bunter, pep­piger und pop­piger als in den Hallen selb­st — da herrscht klas­sis­che Typogra­phie in Schwarz auf Weiß bzw. Weiß auf Schwarz vor. Son­st tun sie das ja eher nicht oder doch zumin­d­est deut­lich zurück­hal­tender. Sei’s drum …

"wir alle haben etwas mut und etwas seelengröße notwendig" - Büchner-Zitat-Installation am Darmstädter Hauptbahnhof

“wir alle haben etwas mut und etwas see­len­größe notwendig” — Büch­n­er-Zitat-Instal­la­tion am Darm­städter Haupt­bahn­hof

Im Darm­stadtium hat die ver­anstal­tende Mathilden­höhe mit der Ausstel­lung Raum gefun­den, Georg Büch­n­er zu erin­nern und zu verge­gen­wär­ti­gen. Wobei Raum schon schwierig ist — das sind offen­bar ein paar Eck­en, die bish­er ungenutzt waren, ver­winkelt und ver­schachtelt — was der Ausstel­lung nur mäßig gut­tut, Über­sicht oder logis­che Abläufe oder auch bloße Entwick­lun­gen gibt es hier wenig.

Was gibt es aber in der Ausstel­lung zu erfahren und zu sehen? Zuerst mal gibt es unheim­lich viel zu sehen — und viele schöne, span­nende Sachen. Zum Beispiel das nachge­baute Wohnz­im­mer der Büch­n­ers — nicht rekon­stru­iert, aber schön gemacht (schon die Wände haben mir gefall­en). Sehr schön auch die Rekon­struk­tion sein­er let­zten Woh­nung in Zürich (Spiegel­gasse 12 — ganz in der Nähe wird später auch Lenin resi­dieren), seines Ster­bez­im­mers (zwar hin­ter Glas, aber den­noch sehr schön). Auch die Büchner’sche Haar­locke darf natür­lich nicht fehlen.

Büchner auf der Treppe zur Ausstellung (keine Angst, der Rest der Ausstellung ist nicht so wild ...)

Büch­n­er auf der Treppe zur Ausstel­lung (keine Angst, der Rest der Ausstel­lung ist nicht so wild …)

Über­haupt, das kann man nicht oft genug beto­nen: Zu sehen gibt es unendlich viel: Unzäh­lige Stiche, Radierun­gen, Bilder — von Darm­stadt und Straßburg vor allem. Gießen zum Beispiel ist extrem unter­repräsen­tiert. Und natür­lich gibt es Texte über Texte: Schriften, die Büch­n­er gele­sen hat, die er benutzt hat, die er ver­ar­beit­et hat — sie tauchen (fast) alle in den enst­prechen­den Druck­en der Büch­n­erzeit hier auf, von Shake­speare bis zu den medi­zinis­chen Trak­tat­en, von Descartes bis Goethe und Tieck.
Auch Büch­n­er selb­st ist mit seinen Schriften vertreten — naturgemäß weniger mit Druck­en — da ist außer “Danton’s Tod” ja wenig zu machen -, son­dern mit Hand­schriften. Die sind in der Ausstel­lung zwar reich­lich in Orig­i­nalen zu bewun­dern, aber Tran­skrip­tio­nen darf man nicht erwarten. Und lesen, das ist bei Büch­n­ers Sauk­laue oft nicht ger­ade ein­fach. Zumal mir da noch ein ander­er Umstand arg aufgestoßen ist: Die Exponate in der (aus kon­ser­va­torischen Grün­den) sehr dämm­ri­gen Ausstel­lung sind in der Regel von schräg oben beleuchtet — und zwar in einem sehr ungün­sti­gen Winkel: Immer wenn ich mir einen Brief an oder von Büch­n­er genauer betra­cht­en wollte, um ihn zu entz­if­fern, stand ich mir mit mein­er Rübe selb­st im Licht.

Son­st bietet die Ausstel­lung so ziem­lich alles, was mod­erne Ausstel­lungs­plan­er und ‑bauer so in ihrem Reper­toire haben: Pro­jek­tio­nen, Mul­ti­me­di­ain­stal­la­tio­nen, Ani­ma­tio­nen, überblendete Bilder, eine Art Nachrich­t­entick­er (der schw­er zu bedi­enen ist, weil er dazu tendiert, in irrem Tem­po durchzurasen), mit Vorhän­gen abge­tren­nte Sep­a­rées (während das beim Sezieren/der Anatomie unmit­tel­bar Sinn macht, hat mir das ero­tis­che Kabi­nett ins­ge­samt nicht so recht ein­geleuchtet …) und sog­ar einen “Lenz-Tun­nel” (von dem man sich nicht zu viel erwarten darf und sollte). Der let­zte Raum, der sich der Rezep­tion der let­zten Jahrzehnte wid­met, hat das übliche Prob­lem: So ganz mag man die Rezep­tion nicht weglassen, eine verün­ftige Idee dafür hat­te man aber auch nicht. Da er auch deut­lich vom Rest der Ausstel­lung getren­nt ist und qua­si schon im Foy­er liegt, ver­liert er zusät­zlich. Viel span­nen­des gibt es da aber eh’ nicht zu sehen, so dass man dur­chaus mit Recht hin­durcheilen darf (wie ich es getan hab — Wern­er Her­zog kenne ich, Alban Berg kenne ich, Tom Waits auch, die Her­bert-Gröne­mey­er-Bear­beitung von “Leonce und Lena” sollte man sowieso mei­den …).

Bei manchen Wer­tun­gen bin ich naturgemäß zumin­d­est unsich­er, ob das der Wahrheit let­zter Schluss ist — etwa bei der Beto­nung der Freude und des Engage­ments, das Büch­n­er für die ver­gle­ichende Anatomie entwick­elt haben soll — was übri­gens in der Ausstel­lung selb­st schon durch entsprechende Zitate kon­terkari­ert wird und in mein­er Erin­nerung in Hauschilds großer Büch­n­er-Biografie nicht von unge­fähr deut­lich anders dargestellt wird. Unter den Experten und Büch­n­er-Biografen schon immer umstrit­ten war die Rolle des Vaters — hier taucht er über­raschend wenig auf. Über­haupt bleibt die Fam­i­lie sehr im Hin­ter­grund: Sie bietet nur am Anfang ein wenig den Rah­men, in dem Georg aufwächst — mehr Wert als auf die Fam­i­lie und per­sön­liche Beziehun­gen über­haupt legt die Ausstel­lung aber auf Erfahrun­gen und Rezep­tio­nen von Kun­st (Lit­er­atur, The­ater, Gemälde und andere mehr oder weniger muse­ale Gegen­ständlichkeit­en) und geo-/to­pographis­chem Umfeld.

Nicht zu vergessen sind bei den Exponat­en aber die kür­zlich ent­deck­te Zeich­nung August Hoff­mann, die wahrschein­lich Büch­n­er zeigt. Auch wenn ich mir dabei wiederum nicht so sich­er bin, dass sie das Büch­n­er-Bild wirk­lich so radikal verän­dert, wie etwa Ded­ner meint (in der Ausstel­lung wird sie nicht weit­er kom­men­tiert). Und die erste “echte” Guil­lo­tine, die ich gese­hen habe, auch wenn es “nur” eine deutsche ist.

Gestört hat mich ins­ge­samt vor allem die Fix­ierung auf den Audio­gu­ide — ich hätte gerne mehr Text an der Wand gehabt (zum Beispiel, wie erwäh­nt, die Tran­skrip­tio­nen der Hand­schriften — die muss man mir nicht vor­lesen, da gibt es wesentlich ele­gan­tere Lösun­gen, die ein­er Ausstel­lung über einen Schrift­steller auch angemessen­er sind). Zumal die Sprech­er manch­mal arg gekün­stelt wirken.

Und wieder ist mir aufge­fall­en: Büch­n­er selb­st ist fast so etwas wie das leere Zen­trum der Ausstel­lung (auch wenn das jet­zt etwas über­spitzt ist). Es gibt hier unheim­lich viel Mate­r­i­al aus seinem näheren und weit­eren Umkreis, zu sein­er Zeit­geschichte und sein­er Geo­gra­phie — aber zu ihm selb­st gar nicht so viel. Das ist natür­lich kein Zufall, son­dern hängt eben mit der Über­liefer­ungs- und Rezep­tion­s­geschichte zusam­men. Aber als Panora­ma des Vor­märz im Großher­zog­tum Hes­sen (und Straßburg) ist die Ausstel­lung dur­chaus tauglich. Jet­zt, wo ich darüber nach­denke, fällt mir allerd­ings auf: Wed­er “Vor­märz” noch “Junges Deutsch­land” sind mir in der Ausstel­lung begeg­net. Von der Ein­bet­tung sollte man sich auch über­haupt wed­er in lit­er­aturgeschichtlich­er noch in all­ge­mein­his­torisch­er Hin­sicht zu viel erwarten: Das ist nur auf Büch­n­er selb­st bezo­gen, nachträgliche Erken­nt­nisse der Forschung oder nicht von Büch­n­er selb­st explizierte Zusam­men­hänge ver­schwinden da etwas.

Und noch etwas: eines der über­raschend­sten Ausstel­lungsstücke ist übri­gens Rudi Dutschkes Han­dex­em­plar der Enzens­berg­er-Aus­gabe des “Hes­sis­chen Land­boten”, mit sehr inten­siv­en Lek­türe­spuren und Anmerkun­gen …

Hoch geht's zu Büchner

Hoch geht’s zu Büch­n­er

Aber dass der Kat­a­log — ein gewaltiger Schinken — die Abbil­dun­gen aus irgend ein­er ver­sponnenen Design-Idee alle auf den Kopf gestellt hat, halte ich gelinde gesagt für eine Frech­heit. Ein Kat­a­log ist meines Eracht­ens nicht der Platz für solche Spiel­ereien (denen ich son­st ja über­haupt nicht abgeneigt bein), weil er dadurch fast unbe­nutzbar wird — so einen Brock­en mag ich eigentlich nicht ständig hin und her drehen, so kann man ihn nicht vernün­ftig lesen.

Aber trotz­dem bietet die Ausstel­lung eine schöne Möglichkeit, in das frühe 19. Jahrhun­dert einzu­tauchen: Sel­ten gibt es so viel Aura auf ein­mal. Die Ausstrahlung der Orig­i­nale aus Büch­n­ers Hand und der (Druck-)Erzeugnisse sein­er Gegen­wart, von denen es hier ja eine fast über­mäßige Zahl gibt, ist immer wieder beein­druck­end — und irgend­wie auch erhebend. Fast so ein­drück­lich übri­gens wie die Lek­türe der Texte Büch­n­ers selb­st — dadrüber kommt die Ausstel­lung auch mit ihrer Masse an Exponat­en nicht.

Ins Netz gegangen (31.10.)

Ins Netz gegan­gen am 31.10.:

  • 9Nov38 – ein Exper­i­ment auf Twit­ter | Schmalenstroer.net — Auch Michael Schmalen­stroer hat noch ein paar Absätze zu seinem Pro­jekt @9Nov38:

    Es ist aber etwas anderes, eine küh­le Ver­wal­tungsak­te zu lesen, in der mit aller ver­wal­tung­stech­nis­chen Akribe die Entrechung, Ermor­dung und Beraubung von Men­schen aus­gear­beit­et wird. In einem nor­malen Geschichts­buch wird von “Het­ze und Pro­pa­gan­da” in den Zeitun­gen geschrieben. Das zu lesen, kann schon an die Nieren gehen.

    Das ist ja ger­ade das, was ich an Twit­ter, Blogs etc so liebe: Man kann solche “Kleinigkeit­en” aus den Quellen ein­fach mal vorstellen, zeigen, zitieren und erzählen, ohne gle­ich ein richtiges “The­ma” oder eine Forschungs­frage haben zu müssen (oder die gar beant­worten zu müssen).

  • Pro­tokolle des Preußis­chen Staatsmin­is­teri­ums Acta Borus­si­ca — Das von 1994 bis 2003 tätige Akademien­vorhaben “Die Pro­tokolle des Preußis­chen Staatsmin­is­teri­ums (1817–1934/38)“ hat in 12 Regesten­bän­den über 5.200 Sitzung­spro­tokolle der ober­sten Kol­le­gial­be­hörde des preußis­chen Staates wis­senschaftlich erschlossen.
    Die gesamte Edi­tion fundiert auf Quel­lenbestän­den des Geheimen Staat­sarchivs Preußis­ch­er Kul­turbe­sitz Berlin-Dahlem sowie des Bun­de­sarchivs Berlin-Lichter­felde und ist im Ver­lag Olms-Wei­d­mann erschienen — alle online frei zugänglich als pdfs.
  • Neue Dis­count­marke “Ohne teuer”: Real will jet­zt auch bil­lig kön­nen | Super­mark­t­blog — “(Klein­er Tipp: Weniger Phil Collins kön­nte die Kun­den­fre­quenz von alleine drastisch erhöhen.)” #wahrheit >
  • Kommt ein Imam in eine Kirche… « Radikale Ansicht­en — Manch­mal ist Deutsch­land ein­fach nur ver­rückt:

    Kommt ein Imam in eine Kirche …
    … dann gibt es mit­tler­weile immer öfter Ärg­er. Zulet­zt im pfälzis­chen Ham­bach, als während ein­er Anti-Kriegsmesse ein islamis­ch­er Gebet­sruf erk­lang. Für selb­ster­nan­nte “Islamkri­tik­er” ein Anlass zur Hys­terie.

    Yassin Mushar­bash bei Zeit-Online über die total hys­ter­ischen (und die Wahrheit mehr als ein­mal kräftig ver­drehen­den) Proteste anlässlich der Auf­führung ein­er Messe von Karl Jenk­ins.

  • » @9Nov38: Ein Pro­jekt als Kom­pro­miss — @hellojed erk­lärt das span­nende Pro­jekt, über Tweets den 9.11.1938 (und etwas Vorgeschichte) zu — nun ja, wie soll man’s nen­nen? — erzählen, verge­gen­wär­ti­gen, lebendig zu machen oder zu hal­ten
  • Schluss mit Lustig? Über die sehr gerin­gen Chan­cen, vor Lachen einen klaren poli­tis­chen Gedanken zu fassen. | Das Schön­ste an Deutsch­land ist die Auto­bahn — Georg Seeßlen schreibt einen sehr lesenswerten, nach­den­klichen und besorgten Text über unsere Zeit:

    Ich bin ges­pal­ten. Ich wün­sche mir keine Rück­kehr der Sauertöpfe und der Rechthaber, schon gar keine der Stal­in­is­ten und Sem­i­nar­is­ten. Zu Recht mis­straut die Kul­tur des Unern­stes den großen Wel­terzäh­lun­gen und hero­is­chen Mythen der Geschichte, zu Recht mis­straut sie Lösun­gen, Mod­ellen, Pro­jek­tio­nen, Helden und Vor­denkern; zu Unrecht aber glaubt sie, man könne sich durch Ironie, Mod­er­a­tion und Dis­tanz von der Ver­ant­wor­tung für den Lauf der Dinge befreien. Zu Unrecht glaubt sie an eine Möglichkeit, sich rauszuhal­ten und trotz­dem alles zu sehen. Zu Unrecht glaubt die Kul­tur von Abklärung und Unernst, den Mächti­gen sei am besten mit tak­tis­ch­er Nachgiebigkeit und einem Hauch von Sub­ver­sion zu begeg­nen. Lei­den­schaftliche und zornige Gesten erscheinen in der Kul­tur als kindisch, vul­gär und unan­genehm.
    […] Bis­lang hat doch noch ein jed­er zu Ende gedachter Gedanken nichts als Ter­ror oder Wahn mit sich gebracht. Bis­lang ist aus jed­er Überzeu­gung eine Ide­olo­gie, und aus dieser ein neuer Unter­drück­ungsap­pa­rat gewor­den.

    Es ist ja auch ver­rückt: Alles hat seine Dialek­tik, alles hat sein Gegen­teil. Und Extreme sowieso. Vielle­icht müssen wir uns wirk­lich wieder ganz weit zurück besin­nen. Zum Beispiel auf die Niko­machis­che Ethik des Aris­tote­les? Aber deren poli­itis­che Imp­lika­tio­nen sind vielle­icht auch nicht unbe­d­ingt unser Ding (und unser Heil wohl auch nicht …). Es ist eben schwierig, das alles. Und Auswege gibt es vielle­icht auch gar nicht. Denn die Gefahr ist immer dar. Im Moment zum Beispiel so:

    Aber sie ist auf dem besten Weg, eine Gesellschaft der grausamen Gle­ichgültigkeit zu wer­den, eine Gesellschaft, die aus lauter Ironie und Mod­er­a­tion der poli­tis­chen Lei­den­schaften gar nicht mehr erken­nt, dass sie sel­ber zu etwas von dem gewor­den ist, was sie fürchtet. Denn auch die Abklärung hat so ihre Dialek­tik, auch sie kann zum Dog­ma und zum Wahn wer­den.

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