Ein interessantes Unternehmen startet Jörg Mielczarek gerade: Die Literatur der Weimarer Republik als Zeitschrift. Fünf. Zwei. Vier. Neun. Zeitschrift für Gesellschaft, Kultur und Literatur in den 5.249 Tagen der Weimarer Republik soll die heißen und führt damit die Dauer der Weimarer Republik im Titel (ich hab’s nicht nachgerechnet …). Mielczarek hat dafür auf Startnext eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, in der das Projekt der monatlich erscheinenden Zeitschrift mit begleitender Buchreihe natürlich auch ausführlich vorgestellt wird. Starten soll das ganze passend am 9. November.
Die Vorstellung liest sich ein bisschen wie “Buch als Magazin” meets Literaturzeitschrift meets literaturhistorische Arbeit:
Die Weimarer Republik ist nicht nur aus historischer Sicht eine der bedeutendsten Epochen der deutschen Geschichte. Es war auch die Zeit großer Schriftsteller und großer Literatur. Die Ereignisse zwischen 1918 und 1933 – Ende des 1. Weltkrieges, Versailler Vertrag, Weltwirtschaftskrise, Aufstieg des Nationalsozialismus – bilden dabei den Hintergrund für außergewöhnliche Romane, herausragende Erzählungen und für Theaterstücke, die für Furore sorgten. Weltbekannte Autoren wie Thomas und Heinrich Mann, Hans Fallada, Bertolt Brecht, Hermann Hesse oder Franz Kafka sind untrennbar mit dieser Epoche verbunden. Aber auch weniger bekannte Literaten wie zum Beispiel Marieluise Fleißer, Leonhard Frank, Irmgard Keun oder Edlef Köppen, deren Werke heute oft vergriffen sind, haben die besondere Atmosphäre dieser Zeit in ihren Stücken, Romanen und Gedichten eingefangen und zu Papier gebracht. Es ist daher an der Zeit, dass die Literatur der Weimarer Republik endlich ein angemessenes Forum bekommt.
Dieses Forum soll die monatlich erscheinende Zeitschrift „Fünf. Zwei. Vier. Neun.“ sein, eine Zeitschrift für Gesellschaft, Kultur und Literatur in den 5.249 Tagen der Weimarer Republik. Jede Ausgabe widmet sich dabei einem Schwerpunktthema. Bei der Nullnummer wird dies die Weltwirtschaftskrise sein, und nicht von ungefähr ist Hans Falladas Roman „Kleiner Mann, was nun?“ die Titelgeschichte dieser Ausgabe. Kein anderer Roman macht die Angst und die Verunsicherung der Angestellten und Arbeiter zu dieser Zeit so spürbar wie dieses Meisterwerk. Auf circa 100 Seiten werden zusätzlich weitere Stücke, Reportagen, Erzählungen und Gedichte zu diesem Schwerpunktthema veröffentlicht – diese werden zudem durch den originalgetreuen Abdruck von Zeitungsartikeln aus dieser Zeit in einen historischen Kontext gebracht. Herzstück der Nullnummer ist das komplette Theaterstück „Die Bergbahn“ von Ödön von Horváth in der Mitte des Heftes, das separat heraustrennbar ist. Ein solches „Heft im Heft“ mit einem kompletten Originaltext wird jede Ausgabe haben.
„Fünf. Zwei. Vier. Neun.“ ist aber mehr als nur eine Zeitschrift. Zu jeder Ausgabe erscheint daher ein Taschenbuch mit weiteren Texten zum Schwerpunktthema des Monats. Der Fokus liegt dabei auf Erzählungen und Werken von Autoren, die heute leider kaum jemand mehr kennt. Eine echte Fundgrube für Literaturliebhaber, in der es viel Neues zu entdecken gibt!
Wenn ich ehrlich bin: Ich bin etwas skeptisch, ob das wirklich — und über mehrere Nummern, dauerhaft und dann auch noch jeden Monat — funktionieren wird. Aber das war ich bei anderen Zeitschriften, gerade beim “Buch als Magazin”, auch — und wurde des Gegenteils belehrt … Das darf hier gerne auch passieren, der Gegenstand und das Engagement von Mielczarek, der sich schon länger mit der Literatur der Weimarer Republik beschäftigt, wären es auf jeden Fall wert.
Also: Spannend und interessant ist das sicher und auch eine kleine finanzielle Unterstützung wert (zumal das beim Crowdfunding ja keine Spende ist, man bekommt ja einiges dafür). Ich bin jedenfalls gespannt, was daraus wird — die Zwischenkriegszeit bietet ja eine sehr reichhaltige und reich differenzierte Literatur, die heute kaum noch in ihrer Breite und Tiefe bekannt ist. Wenn Fünf. Zwei. Vier. Neun. daran etwas ändern kann, wäre ja schon viel erreicht … Und wenn noch eine interessante, lesenswerte Zeitschrift bei herauskommt, die unsere Gegenwart bereichert — umso besser!
Fleuron → coole sache: eine datenbank von ornamenten des buchdrucks des 18. jahrhunderts
Fleuron is a database of eighteenth-century printers’ ornaments. Eighteenth-century books were highly decorated and decorative. Their pages were adorned with ornaments that ranged from small floral embellishments to large and intricate head- and tailpieces, depicting all manner of people, places, and things. Fleuron includes ornaments cut by hand in blocks of wood or metal, as well as cast ornaments, engravings, and fleurons (ornamental typography).
Printers’ ornaments are of interest to historians from many disciplines (learn more here), not least for their importance as examples of early graphic design and craftsmanship. These miniature works of art can help solve the mysteries of the book trade, and they can be used to detect piracy and fraud.
What this all means is that the IoT will remain insecure unless government steps in and fixes the problem. When we have market failures, government is the only solution. The government could impose security regulations on IoT manufacturers, forcing them to make their devices secure even though their customers don’t care. They could impose liabilities on manufacturers … we need to build an internet that is resilient against attacks like this. But that’s a long time coming.
Weimarer Republik: Hatte Weimar eine Chance? | ZEIT ONLINE → die “zeit” stellt zwei bewertungen der weimarer republik gegenüber — von tim b. müller und andreas wirsching. interessant die unterschiede (müller wiederholt, was er seit zwei jahren auf allen kanälen mitteilt …), aber auch die gemeinsamkeiten. und vielleicht sollte man die beiden ansätze/bewertungen überhaupt gar nicht so sehr als gegensätze, sondern als ergänzungen betrachten …
Dort die Brüll-Kritik, hier die Schleim-Kritik, beides müsste man nicht ernst nehmen, wäre die Wirkung nicht so verheerend, denn die Kritik selbst wird damit beschädigt. Das alles ist umso bedenklicher, als es ausgerechnet öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten sind, die unter dem Vorwand, Literaturkritik zu betreiben, sie korrumpieren und der Verluderung preisgeben. Das ist kein Service public, sondern öffentliche Selbstdemontage.
„Treffpunkte des Austausches, Orte der Begegnung“ – so, heißt es auf der Website der Zentralbibliothek Berlin, sollen Bibliotheken heute sein. Habe ich irgendwas falsch verstanden? Ich will in der Bibliothek niemandem begegnen. Ich will mich auch nicht austauschen, wenn ich in die Bibliothek gehe. Ich will mich an einen stillen Ort begeben, an dem jemand sich ein kluges System ausgedacht hat, in dem Bücher und andere Medien geordnet beieinander stehen.
The myth of the well-administered German city – Homo Ludditus → schöner blogpost, der am beispiel der baden-württembergischen stadt leonberg zeigt, wie miserabel es um das öffentliche bauwesen in deutschland steht (vor allem was die aufsicht/kontrolle von baustellen angeht — da muss ich vollends zustimmen), und wie wenig die städtische verwaltung dort (und wieder: das ist ein typisches phänomen) dem ruf der deutschen effizienz und ordnung entspricht
Auto: Voll outo!? | Zeit → der großartige burkhard straßmann über die mobilität von jungen leuten und ihre (angebliche) abkehr vom auto(besitz)
Der Multimodal-Surfer gleitet in Outdoorhose und Trekkingschuhen durch den urbanen Dschungel, schnell, flexibel und elegant, und ist dabei stets mit Leuten über sein Smartphone vernetzt. Alles, was sich bewegt, kann seinem Fortkommen dienen, U‑Bahn, Taxi, Fahrrad oder Mietfahrrad, Mutters Polo, Mitfahrgelegenheiten, der Flixbus oder das Longboard.
Haenchen: Parsifal „nochmal richtig machen“ | festspieleblog → ein spannendes interview mit hartmut haenchen, dem dirigenten des diesjährigen “parsifal” bei den bayreuther festspielen, unter anderem über textkritische fragen der wagner-partitur und das arbeiten in bayreuth
Dennoch sind gerade kleinere Verlage unermüdlich damit beschäftigt, Vergangenes, Verdrängtes, Vergessenes auszugraben. Inzwischen sind es auch die fünfziger bis siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die vor allem auf damals Unverstandenes, Skandalöses oder vermeintlich zu Schwieriges, Anspruchsvolles durchsucht werden. Aber noch immer ist es die Weimarer Republik, die die meisten Neuauflagen liefert. Zum einen mag die Faszination an der frechen Leichtigkeit der Liebes- und Alltagsverhältnisse, an der verqueren Lust am Konsum und am Unglücklichsein der Grund hierfür sein. Häufig sind es Romane von Frauen, in deren Tradition all die heutigen Sternschnuppen stehen, die eine Saison lang bestsellern. Zum anderen ist es die scharfe Kritik, die noch immer reizt, sei es in den Antikriegstexten, die aus gegebenem Anlass gerade wieder neuaufgelegt werden – der apokryphe Elektrische Verlag z.B. bietet da eine ganze Reihe auf –, sei es in der Kritik politischer und sozialer Verhältnisse.
Armut: “Wer unten ist, bleibt unten” | ZEIT — interview mit dem ökonom marcel fratzscher über gesellschaftliche & ökonomische ungleichheit, umverteilung und aufstiegsmöglichkeiten in deutschland
Der Gärtner ist immer der Mörder, und der Lektor ist immer schuld. Ein falscher Name, ein schiefes Bild, historische Irrtümer, Stilblüten, Langatmigkeit und Rechtschreibfehler – was immer an einem Buch nicht stimmt: Der Lektor ist’s gewesen. Wird er in Rezensionen erwähnt, ist „schlampig“ das Attribut, das man ihm am liebsten anklebt. Nie wird man in einer Besprechung lesen: Das hat er aber fein gemacht. Denn was der Lektor getan hat, weiß der Kritiker nicht.
E‑Book-Kolumne „E‑Lektüren“: Ein Lyrik-Code als Anreiz | FAZ — elke heinemann über neue lyrik als/fürs ebook — offenbar nicht so wahnsinng überzeugend, was da bisher vorliegt — allerdings aus ästhetischen, nicht aus technischen gründen
Sexismus ist wie Regen. Er ist einfach da, manchmal schwächer, manchmal stärker. Manchmal können wir uns irgendwo unterstellen, manchmal hört er vielleicht sogar für ne Weile auf. Manchmal kommt er aus heiterem Himmel und mit einer Gewalt, mit der wir nicht rechnen konnten. Aber, und das ist mein Punkt: Wenn es regnet, können wir nichts dagegen unternehmen. […]
Sexismus strukturiert die symbolische Ordnung, die uns umgibt, er lässt sich durch Argumentationen nicht wegkriegen. Sexismus ist eine Tatsache, keine Meinung. Feminismus bedeutet die Arbeit an dieser symbolischen Ordnung, und das funktioniert in der Tat hauptsächlich durch Sprache. […] Es ist keine Frage der Logik, sondern eine der Kultur, tief verwurzelt, unsichtbar, normal. Es funktioniert nicht so, dass wir die sexistische Struktur unserer symbolischen Ordnung nur erst einmal lückenlos beweisen müssten, und dann geht sie weg.
Im Tunnel beschleunigen ist mühsam, wie Peter Müller, Projektleiter von Siemens, berichtet […]. Denn unter der Erde schiebt der Zug eine Luftsäule vor sich her.
Elfriede Brüning hat als kleines Kind noch den Ersten Weltkrieg erlebt. Als Erwachsene kämpfte die Schriftstellerin für eine bessere Welt, wurde von der Gestapo verhaftet und eckte in der DDR an. Drei Monate vor ihrem Tod erzählte die Sozialistin der SZ aus ihrem außergewöhnlichen Leben.
Periodic Table of Storytelling — coole idee, coole umsetzung: alle (…) notwendigen elemente des geschichtenerzählen, gesammelt von tvtropes.org
Die Oper bleibt, was sie immer war, träge, kulinarisch, teuer, selbstverliebt – und die Komponisten, auch die, die ihr abgeschworen haben, versammeln sich halb reumütig, halb blauäugig in ihrem warmen Schoß.
nicht ohne hoffnung, aber so richtig begeistert scheint sie auch nicht zu sein — und auch keine idee zu haben, was eine (neue) begeisterung auslösen könnte:
Man mag es schlimm finden oder nicht, wenn die Menschen nicht mehr in Mozarts Zauberflöte oder Bizets Carmen gingen; richtig schlimm, ja verheerend wäre es, wenn es keine rituellen Orte mehr gäbe, an denen sich eine Gemeinschaft über ihre Emotionen und Affekte verständigte, ohne immer gleich darüber reden zu müssen, einer Sekte beizutreten oder ins nächste Fußballstadion zu rennen. Orte für Musik, Orte für Augen, Ohren und Sinne, Opernhäuser eben.
(ich wüsste ja nur gern einmal, ob das wirklich stimmt, dass “derzeit so viele [neue Stücke] wie noch nie” entstehen — zahlen und vergleiche nennt sie leider keine …)
Der Fotograf August Sander hat die Ständegesellschaft der Weimarer Republik porträtiert. Er fotografierte die Menschen in ihrer typischen Umgebung, mit charakteristischer Kleidung oder in typischer Haltung.
(von “Ständegesellschaft” würde ich zwar nicht sprechen, aber seis drum …)
Nach fünf Jahrzehnten Computerkunst sind ausführlichere Rekonstruktionen der historischen Entwicklungslinien des Einsatzes von Rechnern und Rechenprozessen in künstlerischen Projekten fällig, um Computerkunst als eigenständigen Bereich der Medienkunst erkennen zu können.
Nein, vermutlich hilft die „x“-Endung nicht im Nahostkonflikt. Vielleicht löst sie überhaupt ganz wenig und wird schon bald durch irgendwas mit „y“ abgelöst. Menschen, die sich an Babyspinat-Mangold-Smoothies gewöhnen, werden sich mit der Zeit auch an neue Sprachformen gewöhnen. Menschen, die versuchen, einer Wissenschaftlerin zu erklären, was sie vor geschätzten 37 Jahren in der Schule gelernt haben, von jemandem, der 20 Jahre vorher Biologie auf Lehramt studiert hat: schwierig.
Ein Fußballspiel hat keine politische Botschaft, so wenig wie die Frisur eines Bundestrainers einen kulturgeschichtlichen Wendepunkt markiert. Die politische Metaphorik wird erst danach produziert. Je nach Bedarf. Je nach Interesse. Je nach Einfluss. Wie schön wäre es, wieder einmal sagen zu können, gewonnen hätten einfach diejenigen, die an dem ein oder anderen Tag am besten Fußball gespielt haben. Ein schönes Spiel sei ein schönes Spiel. Und sonst nichts. Aber das ist eben das Kreuz mit den Realitätsmodellen. Sie verlieren ihre eigene Realität. Wie viel Wahrheit ist noch auf dem Platz, wenn die Macht der Inszenatoren und Profiteure ins Unermessliche geht?
Es wird mal wieder höchste Zeit für die nächste Aus-Lese …
Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Berlin: Verbrecher 2014. 286 Seiten.
Das Alphabet, ganz frisch vom Verlag, ist dennoch schon einige Jahre alt: Denn Stein legt hier ein Überarbeitung seines Erstlings vor. Das ist eine sehr aufwändig konstruierte, vertrackte Geschichte, die ich jetzt gar nicht rekonstruieren (oder gar nacherzählen) möchte — und wohl auch kaum noch könnte. Was mich wieder einmal überzeugt und beeindruckt hat, ist das Erzählen des Erzählens als Thema selbst, mit dem fast schon obligatorischen Verwischen von Erzähltem und Realität, bei dem die Grenzen zwischen erzählendem und erzählten Ich schnell überwunden (bzw. unkenntnlich gemacht) werden. Wo das Wirkliche unwirklich wird (zu werden scheint) — und die Phantasie auf einmal real: Da ist man in einem Text von Bejamin Stein. Seraphin mit Seelen aus Feuer tauchen hier auf, Selbstentzündungen der untreuen Liebhaber — überhaupt brennt hier ziemlich viel -: Engel, Golem und Rabbis, Worte und Namen und ähnliches bevölkeren dieses amüsante Verwirspiel auf vielen Ebenen der Erzählung und der Wirklichkeit (aber ist eine Wirklichkeit, in der es Engel gibt, Menschen, die selbst entzünden, Wiedergeburt/-erscheinen nach mehreren hundert Jahren als identische Person, ist so eine Wirklichkeit überhaupt „wirklich“?), angereichert mit religiösen Themen (und einigen Kuriosa, zumindest für mich, der ich mich in der jüdischen Religion so gar nicht auskenne). Und wie in Agententhrillern/-filmen/-serien wird sozusagen im nachhinein immer noch eine Ebene der Täuschung/Illusion/Erzählung/Fiktion eingebaut, die jeweils erst sichtbar wird, in dem sie zerstört wird, aufgelöst wird — und entsprechend rückwirkend den ganzen Text auflöst, entkernt, … Das ist ein alter Erzählertrick, gewiss, den Stein hier aber durchaus nett umsetzt. Manche Passagen sind für meinen Geschmack etwas krimihaft, manchmal auch etwas argl plauderend erzählt, zu sehr darauf angelegt, gemeinsame sache mit dem Leser machen. Mit Rationalität allein wird man diesem Buch über Engel, das zugleich ein vertrackter Mehrgenerationen-Familiengeschichte(n) im 20. Jahrhundert ist, in der alle mit allen zusammenhängen, kaum gerecht. Und sehr schön ist es übrigens auch, mal wieder ein in Leinen gebundenes Buch in der Hand zu haben — das liegt da gleich ganz anders …
Was weißt du schon? erwiderte die Stimme. Und das war der Satz, den er von nun an immer wieder hören sollte: Was weißt du schon? Sei nicht dumm. Es gibt ein Bild hinter dem Spiegel und eine Stadt tief unter dir. Es gibt Engel, die werden als Menschen geboren, und Menschen, die gehen in Flammen auf, weil die Buchstaben keck ihre Plätze tauschen und die Welt auf den Kopf stellen, nicht mehr als ein Spiel. (201f.)
Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt lesen! Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser im Literaturdschungel. Südwesthörn: Edition ReJOYCE 2014. 168 Seiten.
Ein schöner, kurzer und knackiger Überblick aus der Rathjen-Werkstatt: Zugleich eine ganz kurze Einführung in die Biographie Schmidts und ein Überblick über sein Schaffen. Das geschieht vor allem im Modus der Kurzcharakteristik aller Werke, die Rathjen chronologisch abhandelt und so zugleich auch ein bisschen Rezeptionsgeschichte — vor allem für die nachgelassenen Publikationen und Edition — bietet. Dazu gehört, den jeweiligen Werken zugeordnet, ein doch recht ausführliches Verzeichnis der (wichtigen?) Sekundärliteratur — leider ohne Kommentar und deshalb also ein doch nicht ganz so potenter „Wegweiser“. Als Hilfsmittel und Anregung für den (noch) nicht vollständigen Schmidtianer ist Arno Schmdit lesen! aber trotzdem nützlich, auch wenn für meinen Geschmack die Textlein zu den Werken manchmal doch arg kurz geraten sind. Doch weil Rathjen ein guter Kenner des Schmidtschen-Kosmos ist, hat das Büchlein durchaus seinen Wert, der naturgemäß für Schmidt-Kenner geringer ist als für Novizen.
Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem »r«. Erzählungen. Graz: Droschl 2014. 158 Seiten.
In Kürze: Ganz tolle Erzählungen sind hier zu finden, unbedingt empfehlenswert — wenn man kleine Geschichten zwischen Reportage und Momentaufnahme aus der Fremde Europas mit einem Hang zu leichter Melancholie und Traurigkeit mag. Meist geben sie kurze Einblicke in Leben und Charakter einer Person (die den Titel der jeweiligen Geschichte bildet), oft durch eine nahestende Erzählerin, einen Freund etwa. Das hat oft etwas von einer Pseudo-Reportage, wie es etwa eingearbeitete Zitate der Protagonisten einer Erzählung zur Darstellung ihres Hintergrunds, ihrer Geschichte nutzt, als stammten sie aus einem Gespräch. Dazu passt auch die Schlichtheit der Sätze — zumindest syntaktisch, lexikalisch ist das durchaus kunstvoll: Daher kommt auch der lyrische, oft leicht schwebende Ton der Erzählerinnen aus der Feder Rakusas.
Immer wieder werden beschädigte Leben erzählen: Heimatverlust oder überhaupt Heimatlosigkeit, das (ewige) Weiterziehen, die Suche nach einem Platz/Ort (nicht nur, aber auch geographisch) im Leben bestimmen den Weg der Protagonisten, die ganz überwiegend suchend sind, sich auf dem Weg beinden, immer unterwegs — nach Leben, Sinn etc., auch nach Erleuchtung (mehrmals suchen sie die ganz plakativ in Indien): entwurzelte Menschen der Moderne zeigt Rakusa uns. Momentan oder zeitweise, vorübergehend kann die Einsamkeit aufgehoben oder suspendiert werden — in Freundschaft(en) und Liebe etwa, wobei die Enthebung aus der Einsamkeit immer als solche, als nicht dauernde Erleichterung, auch wahrgenommen und erkannt wird: Das Bewusstsein der Endlichkeit der „Geselligkeit“ ist immer vorhanden, ihre Fragilität gewusst. So spielen sich in den Figuren Drama und Trauma der Gegenwart ab: Kapitalismus, Krieg und Krankheiten als Verursacher der „Störung“. Und: Europa außerhalb Deutschlands/Mitteleuropa wird gezeigt, mit Krieg und Kriegsfolgen, Armut, Leere, Verzweiflung, Leid, Trauer und Traurigkeit — ohne deshalb total schwarz zu sein, grundiert diese dunkle Erfahrung doch nicht nur das Leben der Protagonistinnen, sondern auch den Ton der meisten Erzählungen: dunkel, aber nicht depressiv; hart, aber nicht verzweifelt. Auch die Orte sind keineswegs alles Idyllen: Koljansk etwa wird als reiner Höllenort erzählt: Trostlos, aussichtslos, rettungslos: „Ein Punkt, der bald verschwunden sein wird. Dort.“ (158) — das sind zugleich die letzten Worte des Buches — die dem Ganzen noch einemal einen etwas überraschend düsternen, trostlos-grauen Dreh geben
Wie geht das: im Leben eine Seite umwenden? Aussteigen, weggehen, auf nichts hoffen als auf die Richtigkeit der Entscheidung. (73)
Wir waren kurz sehr lange weg gewesen. (79)
Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg: Hamburger Edition 2014. 174 Seiten.
Demokratien sind labile Gebilde, Dauerhaftigkeit gibt es nicht, die Demokratie muss immer neu hergestellt werden. Deswegen benötigen sie Entscheidungen, Reagieren — und Entwicklung, sie verzeihen aber auch Fehler. Ganz besonders gilt das für Momente der Krise. Müller zeigt das anhand “der” Krise der modernen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg am Ende der 1920er Jahre, im Umfeld der Wirtschaftskrise. Dabei zeigt Müller auch, wie eng soziale Demokratie (mit ihrer Umverteilung (die aus dem Gleichheitspostulat resultiert), also der „Wohlfahrtsstaat“ und demokratische Organisation sowie Gesinnung (der Bevölkerung) im 20. Jahrhundert in Europa (und den USA) zusammenhängen.
Demokratie will Müller verstanden wissen als Prozess, ständige Diskussion, Vergewisserung und Anpassung sind notwendig und wesenhaft. Das geschieht nicht in allen Ländern und Gesellschaften gleichzeitig und auf gleiche Weise. Für Deutschland stellt er etwa fest:
Demokratie als Kultur und Lebensweise musste in Deutschland mit besonderem Nachdruck verankert werden, weil Kriegsverlauf und Niederlage eine schwierige Ausgangslage geschaffen hatten: Die Kriegsniederlage führte zur Demokratie, was die Demokratie belastete. (81)
Und später heißt es:
Es bedurfte einer gewaltigen Erschütterung, um dieses Gefüge ins Wanken zu bringen. Die Weltwirtschaftskrise ließ die Entwicklung, die den Zeitgenossen seit dem Ersten Weltkrieg unaufhaltsam erschienen war, stillstehen. Das war nicht der Untergang. Aber die Routinen und Konventionen der Demokratien, die auch unter großem Druck so lange so gut funktioniert hatten, gerieten ins Stottern. Jetzt kam es auf kluges Regieren an, jetzt konnte jeder falsche Schritt in den Abgrund führen, jetzt waren antidemokratische Kräfte und Traditionen imstande, zur Bedrohung zu werden. Die liberale und soziale Demokratie war nicht am Ende. Sie ging sogar gestärkt aus der großen Krise hervor. Nur nicht in Deutschland. (112f.)
Das ist genau der Punkt, um den dieser Essay kreist: Die Entwicklung der Geschichte war — auch in Deutschland — keine zwangsläufige, der Weg aus der Krise hätte auch anders aussehen können. Versagen sieht Müller hier vor allem bei Brüning, dem er bescheinigt:
Vom Blickwinkel der Geschichte der Demokratie aus war es nicht diese oder jene Maßnahme der Brüning-Regierung, die den Untergang der Demokratie einleitete, nicht das Sparen selbst, sondern ein fundamentales intellektuelles Versagen, die Unfähigkeit, Politik in einer der Demokratie angemessenen Komplexität zu denken. (120)
Die Modi, Lösungen oder Strategien zur Bewältigung der Krise der Demokratie, darauf weist Müller ausdrücklich hin, hätten aber gerade das zur Bedingung gehabt: Die Beherrschung des „Theaters der Demokratie“ (127) — das scheint für Müller nicht nur der/ein wesentlicher Unterscheid zwischen Brüning und Roosevelt zu sein, sondern ein wesentliches Element erfolgreicher Krisenbewältigung. Zumindest kann man sein Lob von Roosevelts „demokratische[m] Experimentieren“ (129), das Müller wohl als angemessenstes Verfahren, die Krise zu be-/überwältigen, ansieht, so sehen.
Im Grunde ist das auch schon ein wesentlicher Teil des Hauptarguments: „Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat und Demokratie waren unauflöslich miteinander verwoben.“ (138f.). Und da sind, gerade in Krisenzeiten, für Müller handelnde Personen gefragt, Individuen (hier eben Politiker (& Keynes ;-))), die diese Komplexität erkennen und zugleich im demokratischen Diskurs (dem “Theater”) angemessen argumentieren können. In allen seinen Beispielen macht Müller Aktive aus, die die Demokratie „retten“ (oder im falle Brünings, eben nicht). Angelegt ist das dabei durchaus in Strukturen, aber die Notwendigkeit der/einer Entscheidung und — das ist im demokratischen Handeln eben immer genauso wichtig — des Überzeugens bleibt (als vornehmlich individuelle Leistung!).
Als konkrete Überlebensstrategien von Demokratien identifiziert Müller dann vor allem drei Momente: Erstens die „soziale Stabilisierung durch Sozialpolitik“ (das heißt auch, in wirtschaftlichen Krisenzeiten die staatlichen Investitionen auszuweiten statt blind zu sparen), zweitens die „politische Integration durch demokratisches Pathos, durch Partizipation und Mobilisierung der Bürger“ und drittens eine Wirtschaftspolitik mit intensivem eingreifen in ökonomische Strukturen, „ohne Rücksicht auf ökonomische Effizienz“, d.h. hier v.a. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (152). Das kann man übrigens, so deutet Müller sehr vorsichtig an, durchaus auch für die gegenwärtige Krise als Lösungsfaktoren annehmen … Über alle Krisen hinaus aber gilt:
Demokratien mussten sich ihrer ständigen Gefährdung auch in guten Zeiten bewusst bleiben. Unter allen Umständen galt es, ihr zivilisatorischen Minimum zu bewahren. (152)
Alexander Gumz: ausrücken mit modellen. Berlin: kookbooks 2011. 88 Seiten.
Seltsam: das fesselt oder berührt mich so gar nicht — ohne dass ich sagen könnte, warum. Irgendwie zünden die Bilder nicht, die Sprache (Stil und Form) setzt sich nicht fest, die Inhalte interessieren mich nicht. Die Formlosigkeit (gerne in langen Zweizeiler) ist zwar irgendwie gefühlt kookbooks-typisch, aber ich erkenne nichts, was die Texte für mich interessant machte. Vielleicht braucht’s nochmal eine Re-Lektüre in ein paar Wochen — wer weiß, möglicherweise sieht der Leseeindruck dann schon ganz anders aus …
Nette Momente hat das nämlich schon — zum Beispiel im ersten Zyklus, „zerbeultes gelände“: Der Wald, der wie auf Drogen scheint. Überhaupt spielen Zeichen (in) der Natur eine Rolle: das heißt nicht zufällig „zerbeultes gelände“, geht es doch immer wieder um die Einwirkung und die Eingriffe der Menschen in die Natur bzw. den Wald. Aber dann lese ich eben auch vieles, was mir nur seltsam und gewollt erscheint: wie gesagt, die Resonanz fehlt bei mir (was durchaus an diesem spezifischen Leser liegen kann): das sind nur lose gereihte gewollte Bilder für mich, nach den ersten Seiten ist aber auch dieser Reiz weg.
wir lehnen an der grenze zum gewitter, schütteln die köpfe.
unter unseren füßen dehnt sich der steg. (11, zerbeultes gelände)
Christoph Bangert: War Porn. Heidelberg, Berlin: Kehrer 2014. 189 Seiten.
Ein hartes, sehr hartes und grausames Buch. War Porn sammelt Kriegsfotografie aus Irak und Afghanistan vor allem, die in Zeitungen und Zeitschriften nicht gedruckt wird. Sie zeigt nämlich vor allem die Opfer, die Reste, die von Menschen manchmal nur noch übrig bleiben, nach dem der Krieg über sie hinweg gegangen ist. Aber das ist eben auch eminent wichtig, so etwas zu sehen, sich selbst zuzumuten — Krieg, Gewalt passiert ja nicht einfach, sondern wird gemacht. Von Menschen. Überall und immer wieder. Daran muss man erinnern: wie das aussieht — abseits der schicken Kampfjets oder der harmlos verniedlichten “Drohnen”. Klug ist das insofern, als Bangert sehr wohl um die „Normalität“ seiner Bilder weiß: Die sind — und das gilt eben leider auch für das dargestellte — keineswegs außergewöhnlich. Ungewöhnlich ist nur, dass sie gezeigt werden. Das — als Buch — zu loben, hat einen bitteren Beigeschmack: Denn das ist zwar durchaus ein schönes Buch, schöner wäre es aber, wenn es War Porn gar nicht gäbe.
What you see in this book is my personal experience. And in a way it’s yours, too, because these things happened in your lifetime. You as a viewer are complicit. (3)
außerdem:
Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands — großartig und erschlagend, fesselnd und langweilend ohne Ende (je nach dem, wo man gerade ist — im 2. Buch hatte ich ganz schöne Durchhänger …)
Johann Beer (das “Tagebuch”, Jucundi Jucundissimi wunderliche Lebens-Beschreibung u.a.)
Christian Reuter, Schmelmuffskys wahrhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande
Joseph Roth, Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters
Via Adresscomptoir bin ich gerade auf dieses gut gemachte, interessante Feature über die Eisler-Familie (d.h. Hanns Eisler, Gerhart Eisler & Ruth Fischer) beim Ö1 gestoßen, das noch 7 Tage online gehört werden kann: Unbedingt zu empfehlen, für alle, die sich auch nur etwas für die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessieren. Viel typisches passiert mit den drei Geschwistern Hanns Eisler als Musiker, Gerhart Eisler & Ruth Fischer vor allem als Politiker des linken Spektrums, in Deutschland, Österreich, den USA, der Sowjetunion und anderswo. Immer wieder berühren mich die Eislerschen Musiken, der unbedingte Ernst und der feste Glaube an die historische Mission des Kommunismus, die aus seiner Musik immer wieder spricht — ob es nun um Märsche geht, um Lieder, Musiktheater oder Orchesterwerke. Das Feature von Henry Bernhard erzählt die ganzen Verknüpfungen, die Versuche und Fehler und natürlich auch ganz stark die Tragik dieser Leben:
Der Karl Marx der Musik, die Denunzianten-Lady und der gefährlichste Terrorist der Welt. Die Eislers — eine Ausnahmefamilie. Wie politische Gesinnung die Geschwister Gerhart Eisler, Hanns Eisler und Ruth Fischer entzweit.
“In der Familie Eisler herrschen verwandtschaftliche Beziehungen wie in den Shakespeare’schen Königsdramen”, hatte Charlie Chaplin über die Geschwister Eisler gesagt. Er hatte allen Grund dazu. Stand der ältere Gerhart Eisler 1947 in New York als Angeklagter vor Gericht, so traten sein jüngerer Bruder Hanns als Zeuge der Verteidigung und die Schwester Ruth Fischer als Zeugin der Anklage auf.
Gerhart gilt zeitweise als “Staatsfeind Nr. 1” in den USA; der Kommunist soll ein Aufwiegler, Terrorist und Agent der Komintern gewesen sein — dies meinte auch und gerade seine Schwester. Und wenn sich die Geschwister auch nicht gegenseitig umbrachten, so kamen ihre Verleumdungen doch Rufmorden gleich. […]
Die Revolution hat ihre Kinder gefressen — außerordentlich begabte Kinder, die an ihren verratenen Hoffnungen zerbrochen sind.