Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: wahrheit

Ins Netz gegangen (19.7.)

Ins Netz gegan­gen (19.7.):

  • Gesellschaft­skri­tik: Über Pro­mi-Schlagzeilen | ZEIT ONLINE — Heike Fall­er über die Kun­st der Schlagzeilen:

    Die per­fek­te Über­schrift bringt also etwas auf den Punkt, bei dem andere ganze Leitar­tikel brauchen, es zu umkreisen, um es dann am Ende doch nicht zu tre­f­fen: Wir sind Papst! war so ein Satz, unvergänglich wie Atom­müll und lei­der genau­so nervig, weil nicht zu entsor­gen.

  • Euro Hawk: Papi­er erschüt­tert de Maiz­ières Glaub­würdigkeit — Süddeutsche.de — Die SZ hat schon wieder Unter­la­gen bekom­men, die mehr als nahele­gen, dass de Maiz­ière gel­o­gen hat:

    In der Euro Hawk-Affäre gibt es einen weit­eren Beleg dafür, dass Vertei­di­gungsmin­is­ter Thomas de Maiz­ière (CDU) früher als angegeben Ken­nt­nis vom Aus­maß der Prob­leme hat­te. In einem der Süd­deutschen Zeitung vor­liegen­den Doku­ment zur Vor­bere­itung auf ein Gespräch mit Abge­ord­neten der Regierungs­frak­tio­nen heißt es, die Zulas­sung der Drohne gestalte sich “als extrem schwierig und risikobe­haftet”. Es trägt das Datum 6. März 2013, der Min­is­ter hat es am 12. März abgeze­ich­net.

  • not invad­ed — RT @Amazing_Maps: A map show­ing the 22 coun­tries that Great Britain has not invad­ed (yet).
  • Blei II on Vimeo — schön: Robert Platz war zu Besuch in der “Druck­erey” von Mar­tin Z. Schröder — und hat “Blei II” mit­ge­bracht >

Fortschritt und Wahrheiten

Wenn einen mal wieder die Verzwei­flung packt ob der vie­len Intol­er­anzen und Ungerechtigkeit­en unser­er Gesellschaft heute, hil­ft es manch­mal ein biss­chen in die Ver­gan­gen­heit zu schauen. Nicht um zu resig­nieren und das Ziel der Gle­ich­heit und Gerechtigkeit aus den Augen zu ver­lieren (nach dem Mot­to: Früher war es ja noch viel schlim­mer), aber um zwis­chen­durch mal wieder zu real­isieren, wie sehr sich die bun­desre­pub­likanis­che Gesellschaft in ihrem Beste­hen doch gewan­delt hat und immer wieder und weit­er wan­delt. Mir ist das ger­ade wieder aufge­fall­en, als ich einige frühe Jahrgänge der Zeitschrift “Die Neue Polizei” durch­blät­terte — ein bayrisches (später süd­west­deutsches) Mag­a­zin für die Ange­höri­gen der Polizeikräfte. Neben aller­lei tech­nis­chen Kuriositäten fällt da näm­lich immer wieder auf, wie unge­hemmt in den 1950ern noch aus­ge­gren­zt wurde. Vielle­icht — manch­es deutet darauf hin — sind die Bay­ern dabei beson­ders stark, und sicher­lich spiegelt eine Polizis­ten-Zeitschrift auch nicht unbe­d­ingt immer die Mehrheit der Gesellschaft wieder. Aber vieles ist ein­fach erschreck­end. Zum Beispiel, wie stark sich der Diskurs über “Zige­uner” und “Fahren­des Volk” noch aus den Argu­menten der 1920er und 1930er — aus der Zeit stammten auch die entsprechen­den Geset­ze — her­leit­et. Und wie die Autoren über­haupt nicht sehen, dass diese “Son­der­be­hand­lung” ganz­er Grup­pen vielle­icht nicht so ganz im Ein­klang mit dem Grundge­setz ste­hen kön­nte … Wie die “Abwe­ichung” von der “Norm” auch keine Pri­vat­sache bleibt, son­dern krim­i­nal­isiert wird. Und sei es nur auf Umwe­gen.

die Zunahme der weiblichen Homosexualität (Die Neue Polizei, 1/1950)

Die Zunahme der weib­lichen Homo­sex­u­al­ität (Die Neue Polizei, 1/1950)

Das sollte eben eigentlich nur eine kurze Ein­leitung für diesen Artikel sein, der mich selb­st in diesem eben geschilderten Umfeld etwas ver­wun­dert hat. Auf der anderen Seite ist das natür­lich wenig ver­wun­der­lich: Wieso sollen Argu­mente und Diskurse von heute auf mor­gen sich ändern, nur weil ein Krieg ver­loren wurde, ein Staat unterg­ing, Besatzer neue Regeln forcieren und ger­ade ein neuer Staat ent­standen ist? Denn alle Argu­mente, die hier auf­tauchen, sind natür­lich über­haupt nicht neu und in kein­ster Weise orig­inell. Solche Phänomene zu beobacht­en, zu erken­nen und zu ver­fol­gen, ist ein Priv­i­leg, dass His­torik­er haben. Und das wichtige daran: Es macht mir immer wieder klar, dass genau das­selbe auch für das “heute” unser­er Gegen­wart gilt, dass zukün­ftige His­torik­er sich ziem­lich sich­er über Borniertheit­en und unver­ständliche, fast atavis­tisch erscheinende Relik­te unser­er Zeit genau­so wun­dern wer­den wie ich es in diesem Fall über die 1950er getan habe. Und wenn man das mal verin­ner­licht hat, ist einem ziem­lich sich­er klar gewor­den, wie wenig absolute und dauer­hafte Wahrheit es (noch) gibt (wenn es über­haupt welche gibt). Und natür­lich auch, wie frag­würdig die Idee eines/des “Fortschritts” ist und sein muss.

Wahrheit oder Leben

Zwei Romane zum Preis von Einen. Oder auch nicht. Eigentlich ist ja doch nur ein­er, “Die Lein­wand” von Ben­jamin Stein, der im “Turm­segler” auch ein sehr inter­es­santes Blog hat. Aber er wird dop­pelt erzählt, mit Jan Wech­sler und Amnon Zichroni als Zen­tren der jew­eili­gen Teile. Und damit auch jed­er die Beson­der­heit merkt, sind die bei­den Teile so gedruckt, dass man das Buch von jed­er Seite begin­nen kann: “Zwei Hauptwege und ver­schlun­gene Nebenpfade führen durch diesen Roman. Hin­ter jedem Umschlag befind­et sich ein möglich­er Aus­gangspunkt für das Geschehen. Es ist Ihnen über­lassen, wo Sie zu lesen begin­nen.” — so heißt es auf dem Umschlag. Man darf aber auch zwis­chen jedem der 11 Kapi­tel die Leserich­tung wech­seln. Ich fing mit Ammon Zchroni an, las das kom­plett und wech­selte erst dann zum Jan-Wech­sler-Teil. Keine Ahnung, ob es eine bessere Vari­ante gibt ;-).

Worum geht es: Um Wahrheit, um Erin­nerung, ums Gedächtnis — und vor allem die ganzen Prob­leme, die damit zusam­men­hän­gen. Die trügerische Erin­nerung, der unklare Sta­tus von Erin­nerun­gen, und immer wieder die Frage: Was ist hier die Wahrheit? Was ist passiert? Was wird wie warum erin­nert? Ziem­lich am Anfang des Wech­sler-Teiles, auf der Seite W.14 heißt es:

Nie­mand wüsste bess­er als ich, dass die Gren­ze zwis­chen Real­ität und Fik­tion in jed­er Erzählung mäan­dernd inmit­ten der Sprache ver­läuft, getarnt, unfass­bar — und beweglich. Selb­st das Wort “Wirk­lichkeit” führt ins Unwäg­bare.

Damit ist eigentlich schon fast alles über diese großar­tige Buch gesagt. Die Sto­ry ist entsprechend ela­bori­ert. Der Zichroni-Teil erzählt die Geschichte eines mehr oder weniger streng­glüu­bi­gen Juden, seine Aus­bil­dung, seine Zweifel und Glauben­san­fech­tun­gen, aber auch seine Fes­tigkeit im Glauben. Jan Wech­sler ist ein Schrift­steller (oder auch nicht, er ist sich selb­st da extrem unsich­er, weil sein Gedächt­nis ihn sys­tem­a­tisch im Stich lässt), der im End­ef­fekt Zichroni umbringt — oder umgekehrt, je nach Erzählrich­tung. Die fehlende Erin­nerung, ihr trügerische (Un-)Sicherheit wird so zum Krim­i­nal­fall, das eher philosophis­che Prob­lem des Sta­tus der “Wahrheit” hat auf ein­mal hand­feste Kon­se­quen­zen. Dazu kommt noch, damit eng verknüpft, die Frage der Iden­tität des Men­schen — bin ich, was ich erin­nere? Gibt es einen “wahren” Kern der Iden­tität, die (auch) außer­halb mein­er selb­st, mein­er — ja sowieso unzu­ver­läs­si­gen — Erin­nerung liegt? Die ganzen “großen” The­men wer­den zwar sehr deut­lich, aber — und das ist dann halt ein­fach das Schöne an diesem Buch — sie bleiben in die Erzäh­lung wun­der­bar har­monisch einge­bet­tet: Klar, man merkt recht schnell, worum es dem Autor geht. Aber die sto­ry bleibt span­nend, die Erzäh­ler kön­nen mit ihrer oft weit aus­holen­den, allen Nebenpfaden nachge­hen­den, aber genau kon­stru­ierten Erzäh­lung trotz­dem weit­er­hin fes­seln.

Das entwick­elt ziem­lich schnell einen deut­lichen Sog — vor allem der Zichroni-Teil hat mich sehr gefes­selt: Mit seinen sehr far­bigen Beschrei­bun­gen, seinen aus­ge­sucht­en Ver­gle­ichen und poet­is­chen Stil — der Wech­sler-Teil ist deut­lich pro­sais­ch­er, zumin­d­est kam es mir beim Lesen so vor. Aber irgend­wie gelingt es mir ger­ade nicht, die Freude und Begeis­terung mein­er Lek­türe in Worte zu fassen … Gre­gor Keuschnig hat dage­gen eine nicht nur sehr umfan­gre­iche, son­dern auch ziem­lich gute und genaue Inhalt­sangabe für das “Begleitschreiben” geschrieben. Einige weit­ere Reak­tio­nen lassen sich über den oben erwäh­n­ten Turm­segler oder beim Per­len­tauch­er find­en — die meis­ten sind ziem­lich pos­i­tiv, was ich gut nachvol­lziehen kann.

Die Welt in mir war für micht die Welt. (W.75)
Ich bin, woran ich mich erin­nere. Etwas anderes hab ich nicht. (W.121)

Ben­jamin Stein: Die Leinwand.Roman. München: Beck 2010. ISBN 978–3‑406–59841‑8.

die echte religion!

… sagte Catha­ri­na; das ist eben der Stre­it! kein­er glaubt, an der unecht­en sich ver­loren zu haben.” — Lud­wig Tieck, Der Hex­en-Sab­bat, 117

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