Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Die andere DNA der Sprache: Titus Meyers Palindrom-Roman

meyer, andere dna (cover)Kann man einen Roman als Palin­drom schreiben? Oder ein Palin­drom als Roman schreiben und lesen? Titus Mey­er ver­sucht es zumin­d­est. Andere DNA heißt das Ergeb­nis (natür­lich selb­st eines der vie­len Palin­drome in diesem Palin­drom), das – wie schon sein Band mit Palin­drom-Gedicht­en – bei Rei­necke & Voß erschienen ist. Ich habe jet­zt nicht kon­trol­liert, ob das wirk­lich ein Palin­drom ist. 56 Seit­en sind zwar für einen Roman erst ein­mal nicht viel Text, aber sehr, sehr, sehr viel, um ein Palin­drom zu überblick­en. Ich ver­traue da also mal Autor und Ver­lag …

Gegliedert ist Andere DNA als lose Folge von kurzen Abschnit­ten (meist 1–2 Seit­en, manch­mal auch mehr) mit so schö­nen Titeln wie „Sin­neten­nis“, „Banale Magd“ oder „Ein­siedelei“, aber auch eher gener­isch („Tod“, „Zeit“, „Moral“ zum Beispiel). Hier gibt es tat­säch­lich so etwas wie the­ma­tis­che Zusam­men­hänge der wilden syn­tak­tis­chen Kon­struk­tio­nen Mey­ers. Als ganzes kon­nte ich dem Buch aber wed­er einen kohärenten Inhalt noch ein wirk­lich­es The­ma ent­nehmen. Darum geht es wohl auch gar nicht. Denn mit Erzählen hat das hier natür­lich nichts zu tun. Es ist ja schon die Frage, ob man so etwas über­haupt Schreiben nen­nen kann. Und wer schreibt dann hier? Der Autor oder die Regel?

Aber wahrnehmen lässt sich trotz­dem etwas. Die Sprache selb­st, aber auch die bere­its erwäh­n­ten Sinnzusam­men­hänge oder Sinnkon­struk­te, die lassen sich also beobacht­en. Aber meist nur gran­u­lar: Ein paar Sätze, viel mehr sind das sel­ten („Ein­siedelei“ ist so ein Fall, wo das auch mal über län­gere Strecke gelingt) – dann stolpert der Text wieder, der Sinn löst sich in alle Rich­tun­gen auf. Ich kon­nte das nur in kleineren Dosen lesen, nach ein paar weni­gen Sätzen schon fängt der Kopf an zu schwirren.

Es gibt dabei dur­chaus schöne Stellen, wo auf ein­mal neue, gewagte, schöne For­mulierun­gen auf­blitzen. Auf irgendwelche Zusam­men­hänge darf man aber wirk­lich nicht zu sehr hof­fen. Vor allem aber stellte sich mir immer wieder die Frage: Kann man das lesen? Und: Wie liest man so etwas eigentlich? Klas­sis­ches hermeneutis­ches Lesen funk­tion­iert jeden­falls über­haupt nicht, das wird ganz schnell klar. Ich habe mich dann oft beim Lesen qua­si selb­st beobachtet und gemerkt, wie man aus kle­in­sten Hin­weisen Zusam­men­hänge, ja sog­ar „Geschicht­en“ kon­stru­ieren will. Bis man – oder eben der Text – sich wieder bremst und sich irgend­wann ein­fach der Sprache aus­liefert, auch wenn das trock­en und wüst scheint.

Und natür­lich hat Andere DNA auch Momente ein­er Leis­tungss­chau nach dem Mot­to: Seht her, auch das kann „Sprache“, das kann Lit­er­atur (und so etwas ver­track­tes bekomme ich als Autor hin …): Die Tech­nol­o­giz­ität der Sprache pur sozusagen als lit­er­arischen Text verkör­pern und aufzeigen. Ob das aber mehr ist? Ich bin mir nicht so sich­er. Etwas anderes ist es auf jeden Fall. Und dann schwingt natür­lich auch noch ein gewiss­es kom­pet­i­tives Moment – ein so langes Palin­drom gab es noch nie! – immer etwas mit. Ins­ge­samt aber habe ich das dann doch eher als proof of con­cept denn als mögliche (Weiter)Entwicklung ein­er zeit­gemäßen, zeit­genös­sis­chen Lit­er­atur gele­sen. Aber vielle­icht habe ich dabei auch zu sehr von der Ober­fläche ablenken lassen, wer weiß …

Titus Mey­er: Andere DNA. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 56 Seit­en. ISBN 9783942901208.

Aus-Lese #42

Viel zu lange gewartet mit der näch­sten Aus-Lese, deswe­gen ist das jet­zt eine Auslese der Aus-Lese …

Friedrich Forss­man: Wie ich Büch­er gestalte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2015 (Ästhetik des Buch­es, 6). 79 Seit­en.

forssman, wie ich bücher gestalte„Ein Buch ist schön, wenn die Gestal­tung zum Inhalt paßt.“ (71) — in diesem kleinen, harm­losen Satz steckt eigentlich schon das gesamte gestal­ter­ische Cre­do Forss­mans (dessen Name ich immer erst beim zweit­en Ver­such richtig schreibe …) drin. Forss­man, als Gestal­ter und Set­zer der Spätwerke Arno Schmidts schon fast eine Leg­ende, inzwis­chen auch durch die Neugestal­tung der Reclam­schen “Uni­ver­sal Bib­lio­thek” in fast allen Hän­den, will in diesem kleinen Büch­lein — 79 Seit­en sind nicht viel, wenn es um Buchgestal­tung, Typogra­phie, Her­stel­lung und all das drumherum gehen soll — zeigen, wie er selb­st Büch­er gestal­tet, das heißt, nach welchen Kri­te­rien er arbeit­et. Ein Werk­stat­tbericht soll das sein — und das ist es auch, nicht nur, weil es so aussieht.

Lock­er plaud­ert er, kön­nte man sagen, über die Arbeit an der Her­stel­lung eines Buch­es. Das bet­rifft let­ztlich all die Aspek­te, die über den “reinen” Text als Inhalt hin­aus­ge­hen: Typogra­phie, Satz, For­mat, Her­stel­lung, Umschlag und vieles mehr. Forss­man plaud­ert, sage ich, weil er sich dezi­diert als The­o­rie-Verächter darstellt. Let­ztlich sind das alles Regel- und Geschmack­fra­gen: Ein Buch ist schön, wenn es gut ist — und es ist gut, wenn es schön ist. Viel mehr steckt da eigentlich nicht dahin­ter. Forss­man sieht Buchgestal­tung aus­drück­lich als Kun­sthandw­erk, das bes­timmten Regeln gehorcht. Die — und den guten Geschmack bei der Beurteilung ihrer Anwen­dung — lernt man, indem man andere Büch­er der Ver­gan­gen­heit (und Gegen­wart) anschaut und studiert. Frei­heit und Tra­di­tion bzw. Regel sind die Pole, zwis­chen denen jed­er Kun­sthandw­erk­er sich immer wieder verortet. Beim Lesen klingt das oft tra­di­tioneller und lang­weiliger, als Fors­man­ns Büch­er dann sind. Das liegt wahrschein­lich nicht zulet­zt daran, dass er sehr stark auf eine aus­ge­feilte und kon­se­quente Durchgestal­tung des gesamten Buch­es Wert legt — vom Bindungsleim bis zur kor­rek­ten Form der An- und Abführungsstriche hat er alles im Blick. Und, darauf weist er auch immer wieder hin, Regel­haftigkeit und Tra­di­tion heißt ja nicht, dass alles vorgegeben ist: Es gibt Frei­heits­grade, die zu nutzen im Sinne ein­er Inter­pre­ta­tion des vor­liegen­den Textes die Auf­gabe des Buchgestal­ters ist. Und dabei gilt dann doch wieder:

Die Beweis­last liegt immer beim Verän­der­er, in der Typogra­phie erst recht. (42)

Ili­ja Tro­janow: Macht und Wider­stand. Frank­furt am Main: Fis­ch­er. 479 Seit­en.

ilija trojanow, macht und widerstandEin ganz schön­er Brock­en, und ein ganz schön heftiger dazu. Nicht wegen der lit­er­arirschen Form, son­dern wegen des Inhalts — der ist nicht immer leicht ver­daulich. Es geht um Bul­gar­ien unter sozialistischer/kommunistischer Herrschaft, genauer gesagt, um die “Arbeit” und die Ver­brechen der Staatssicher­heit. Das erzählt Tro­janow auf der Grund­lage von Archivak­ten, die zum Teil auch ihren Weg ins Buch gefun­den haben (selt­samer­weise wer­den sie — und nur sie — in klein­schrei­bung angekündigt …). Tro­janow kon­stru­iert eine Geschichte aus zwei Polen — Macht und Wider­stand natür­lich — die sich in zwei Män­nern nieder­schla­gen und recht eigentlich, das wird ganz schnell klar, per­son­ifizieren. Die sind dadurch für meinen Geschmack manch­mal etwas eindi­men­sion­al gewor­den: Der eine ist eben die mehr oder weniger reine Verkör­pe­rung des Prinzipes Wider­stand, der anderen der Macht (bzw. des prinzip­i­en­losen Oppor­tunis­mus). In abwech­sel­nden Kapiteln wech­selt auch immer die Per­spek­tive entsprechend. Geschickt gelingt Tro­janow dabei ein har­monis­ch­er Auf­bau, der Infor­ma­tio­nen sehr har­monisch und allmäh­lich weit­ergibt. Seinen haupt­säch­lichen Reiz zieht Macht und Wider­stand vielle­icht aber doch daraus, dass es sozusagen Lit­er­atur mit Wahrheit­sanspruch ist, den Fik­tion­al­itätspakt also aufkündigt (und daran im Text durch die eingestreuten Aktenüber­set­zun­gen, die son­st für den lit­er­arischen Text wenig tun, immer wieder erin­nert). Das macht die Bew­er­tung aber zugle­ich etwas schwierig: Als rein lit­er­arisch­er Text überzeugt es mich nicht, in sein­er Dop­pel­funk­tion als Lit­er­atur und his­torisch-poli­tis­che Aufk­lärung ist es dage­gen großar­tig.

John Hirst: Die kürzeste Geschichte Europas. Ham­burg: Atlantik 2015. 206 Seit­en.

hirst, europaEine inter­es­sante Lek­türe bietet diese Geschichte Europas, sie ist dur­chaus erfrischend, die extreme Verk­nap­pung. Aber halt auch immer wieder prob­lema­tisch — vieles fehlt, vieles ist unge­nau bis fehler­haft. Aber um Voll­ständigkeit (der behan­del­ten The­men oder der Darstel­lung) kann es in ein­er “kürzesten Geschichte” natür­lich über­haupt nicht gehen.

Hirst geht es im ersten Teil — „Die kürzeste Ver­sion der Geschichte“ über­schrieben — vor allem um die Formierung Europas: Wie wurde Europa das, was es heute ist (oder vor weni­gen Jahren war)? Er stützt sich dabei vor allem auf drei Phänomene und siedelt das maßge­blich im Über­gang von Antike zu Mit­te­lal­ter an: Europa ist die Verbindung von der „Kul­tur des antiken Griechen­lands und Roms“, dem Chris­ten­tum und der „Kul­tur der ger­man­is­chen Krieger“. Immer wieder betont er, dass Europa als Idee und Gestalt eben maßge­blich eine Mis­chung sei. Und die ver­ste­ht man nur, wenn man ihre Genese im Blick hat (das alles gilt übri­gens für ihn bis in die Jet­ztzeit — ich bin mir nicht sich­er, ob er dabei nicht doch die Macht & Notwendigkeit der Geschichte über­schätzt …): Nur mit Ken­nt­nis dieser Wurzeln ver­ste­ht man also die Gegen­wart. Er fasst seine Über­legun­gen zum Zusam­men­wirken sein­er Grund­fak­toren immer wieder in schö­nen Dia­gram­men zusam­men, die dann zum Beispiel so ausse­hen:

Die ersten Teile — wo es um die eigentliche Geschichte und Formierung Europas als Europa geht — sind dabei gar nicht so schlecht: Natür­lich ist das alles sehr verkürzt, aber übri­gens auch gut les­bar. Danach, wo es unter Über­schriften wie „Ein­fälle und Eroberun­gen“, „Staats­for­men“, „Kaiser und Päp­ste“ um Lin­ien und Ten­den­zen der europäis­chen Geschichte in Mit­te­lal­ter und Neuzeit geht, wird es für meinen Geschmack aber zu episodisch und auch his­torisch oft zu unge­nau. In der Konzep­tion fehlt mir zu viel Kul­tur und Kul­turgeschichte: Hirst geht weitest­ge­hend von klas­sis­ch­er poli­tis­ch­er Geschichte aus, ergänzt das noch um etwas Philoso­phie und ein biss­chen Reli­gion. Und: Hirst denkt für meinen Geschmack auch zu sehr in mod­er­nen Begrif­f­en, was manch­mal zu schiefen Bew­er­tun­gen führt (übri­gens auch anderen bei His­torik­ern (immer noch) ein beliebter Fehler …)

Manche Wer­tung und Ein­schätzung stößt bei mir auf größeren Wider­stand. Manch­mal aber auch ein­fach­es handw­erk­lich­es Pfuschen, wenn Hirst etwa Davids Zeich­nung „Schwur im Ball­haus“ unhin­ter­fragt als getreues Abbild ein­er wirk­lichen Hand­lung am Beginn der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion liest und inter­pretiert (dass er den Leser son­st mit Quellen nicht weit­er behel­ligt, ist natür­lich dem For­mat geschuldet). Selt­sam fand ich auch sein Bild der mit­te­lal­ter­lichen Kirche vor Gre­gor VII und ihr Ver­hält­nis zur Poli­tik: „Örtliche Machthaber und die Monar­chen Europas hat­ten sie [die Kirche] unter­graben, schlecht­gemacht und aus­ge­plün­dert.“ (149) — ein­deutiger kann man kaum Posi­tion beziehen …

Damit ist Hirst ins­ge­samt also sich­er nicht die let­zte Autorität zur Geschichte Europas, nichts­destotrotz aber dur­chaus eine stim­ulierende Lek­türe. So weit wie Gus­tav Seibt, der das in der SZ ein “Meis­ter­w­erk der Vere­in­fachung” nan­nte, würde ich allerd­ings nicht gehen.

Roland Barthes: Der Eif­fel­turm. Berlin: Suhrkamp 2015. 80 Seit­en.

barthes, eiffelturmZum 100. Geburt­stag des großen Roland Barthes hat Suhrkamp seinen kleinen Text über den Paris­er Eif­fel­turm in einem schön gemacht­en Büch­lein mit ergänzen­den Fotos veröf­fentlicht (das bei mir allerd­ings schon beim ersten Lesen zer­fiel …). Barthes unter­sucht nicht nur, was der Eif­fel­turm eigentlich ist — näm­lich ein (annäh­ernd) leeres Zeichen -, son­dern vor allem, was er bedeutet und was er mit Paris und dem Beobachter oder bess­er Betra­chter macht. So kon­sta­tiert er unter anderem, dass der Eif­fel­turm einen neuen Blick (aus der Höhe eben) auf die Stadt als neue Natur, als men­schlichen Raum ermöglicht und eröffnet. Und damit ist der Eif­fel­turm für Barthes die Mate­ri­al­i­sa­tion dessen, was die Lit­er­atur im 19. Jahrhun­dert schon längst geleis­tet hat­te, näm­lich die Ermöglichung, die Struk­tur der Dinge (als “konkrete Abstrak­tion”) zu sehen und zu entz­if­fern. Der beson­dere Kniff des Eif­fel­turms beste­ht und darin, dass er — im Unter­schied zu anderen Tür­men und Mon­u­menten — kein Innen hat: „Den Eif­fel­turm besichti­gen heißt sich zu seinem Par­a­siten, nicht aber zu seinem Erforsch­er machen.“ (37), man gleit­et immer nur auf sein­er Ober­fläche.

Damit und durch die Etablierung eines neuen Mate­ri­als — dem Eisen statt dem Stein — verkör­pert der Eif­fel­turm einen neuen Wert — den der funk­tionellen Schön­heit. Ger­ade durch seine Nut­zlosigkeit (die ihn vor sein­er Erbau­ung so sus­pekt machte) befähigt ihn beson­ders — weil keine tat­säch­liche Nutzung sich mit ein­mengt -, zum Sym­bol der Stadt Paris zu wer­den: “Der Eif­fel­turm ist durch Metonymie Paris gewor­den.” (51) — und mehr noch, er ist “die unge­hemmte Meta­pher” über­haupt: “Blick, Objekt, Sym­bol, der Eif­fel­turm ist alles, was der Men­sch in ihn hinein­legt.” (63). Genau das ist es natür­lich, was ihn für den struk­tu­ral­is­tis­chen Semi­otik­er Barthes so inter­es­sant und anziehend macht. Und diese Fasz­i­na­tion des Autors merkt man dem Text immer wieder an.

Michael Fehr: Sime­liberg. 3. Auflage. Luzern: Der gesunde Men­schen­ver­sand 2015. 139 Seit­en.

Grau
nass
trüb
ein Schweiz­er Wet­ter
ziem­lich ab vom Schuss (5)

fehr, simeliberg- so fängt das “Satzge­wit­ter” von Michael Fehrs Sime­liberg an. Die Meth­ode bleibt über die fast 140 Seit­en gle­ich: Die Sätze der harten, schweiz­erisch gefärbten Prosa wer­den durch ihre Anord­nung der Lyrik angenähert (das typographis­che Dis­pos­i­tiv ist sog­ar ganz unver­fälscht das der Lyrik), statt Satzze­ichen benutzt Fehr Zeilenum­brüche. Diese zeilen­weise Isolierung von Satzteilen und Teil­sätzen ver­lei­ht dem Text nicht nur eine eige­nar­tige Gestalt, son­dern auch ein ganz eigenes Leseer­leb­nis: Das ist im Kern “echte” Prosa, die durch ihre Anord­nung aber leicht wird, den Boden unter den Füßen ver­liert, ihre Fes­tigkeit und Sicher­heit (auch im Bedeuten und Meinen) aufgegeben hat: Sich­er im Sinne von unver­rückt und wahr ist hier kaum etwas, die Form lässt alles offen. Dabei ist die erzählte Geschichte in ihrem Krim­icharak­ter (der freilich keine “Auflö­sung” erfährt) beina­he harm­los: Ein abgele­gen­er Hof, selt­same Todes­fälle, eine gigan­tis­che Explo­sion, eine Unter­suchung, die Kon­fronta­tion von Dorf und Stadt, von Ein­heimis­chen und Zuge­zo­ge­nen. Genau wie die Geschichte bleibt alles im Unge­fähren, im Düsteren und Schlam­mi­gen — die Fig­uren sind Schat­ten­risse, ihre Moti­va­tion wie ihre Sprache bruch­stück­haft. Und genau wie die Men­schen (fast) alle selt­same Son­der­linge sind, ist auch der Text son­der­bar — aber eben son­der­bar faszinierend, vielle­icht ger­ade durch seine Härte und die abgründi­ge Dunkel­heit, die er ausstrahlt. Und die Fehr wed­er mildern will noch kann durch eine “angenehmere”, das heißt den Leser­erwartun­gen mehr entsprechende, Erzählweise.

Hans-Jost Frey: Henri­ci. Solothurn: Urs Engel­er 2014. 84 Seit­en.

frey, henriciAuch wieder ein nettes, sym­pa­this­ches Büch­lein: In über 60 kurzen Geschicht­en, Anek­doten, Skizzen hin­ter­fragt Henri­ci (den man sich wohl als alter ego des Lit­er­atur­wis­senschaftlers Frey vorstellen darf) den All­t­ag der Gegen­wart, unser Tun und unser Sprechen. Das ist ein­fach schön ver­spielt, ver­liebt ins Spie­len, genauer gesagt, ins Wort­spiel: Durch das spielerische Arbeit­en mit gedanken­los geäußerten Worten und Sätzen, mit Gemein­plätzen, hin­sichtlich ihres Klanges und ihrer Seman­tik bringt Frey immer wieder die Bedeu­tun­gen zum Tanzen. Das sind oft oder sog­ar über­wiegend gar keine weltverän­dern­den Beobach­tun­gen, die diese Minia­turen erzählen. Aber sie haben die Kraft, das Alltägliche, das Nor­male, das man immer wieder als Gegeben unhin­ter­fragt ein­fach so hin­nimmt und weit­er­führt, für die Beobach­tung und Inspek­tion zu öff­nen: Denn im spielerischen Ver­drehen der Worte zeigt Frey immer wieder, was die eigentlich leis­ten (kön­nen), wenn man sie nicht bloß unbe­dacht äußert, son­dern auch in banalen Sit­u­a­tio­nen auf ihre Möglichkeit­en und Bedeu­tun­gen abklopft — da kommt Erstaunlich­es, oft aus­ge­sprochen Komis­ches dabei her­aus. Eine sehr sym­pa­this­che (und leicht zugängliche) Art des (Sprach)Philosophierens …

Titus Mey­er: Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 84 Seit­en.

Zu diesem ganz wun­der­baren Büch­lein mit dem zauber­haften Titel Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung von Titus Mey­er, das voller faszinierend artis­tis­ch­er Sprachkunst­werke steckt, habe ich schon vor einiger Zeit ein paar Sätze ver­loren: klick.

Wolf­gang Her­rn­dorf: Bilder dein­er großen Liebe. Ein unvol­len­de­ter Roman. Her­aus­gegeben von Kathrin Pas­sig und Mar­cus Gärt­ner. RM Buch und Medi­en 2015. 141 Seit­en.

herrndorf, bilder deiner großen liebeBilder dein­er großen Liebe ist ein unveröf­fentlicht­es und auch unfer­tiges Manuskript aus dem Nach­lass Wolf­gang Her­rn­dorfs, das Kathrin Pas­sig und Mar­cus Gärt­ner (die mit Her­rn­dorf eng bekannt/befreundet waren) zur Veröf­fentlichung “arrang­iert” haben. Denn das vorhan­dene Text­ma­te­r­i­al set­zt an ver­schiede­nen Stellen des geplanten Romans an und ist auch unter­schiedlich stark aus­gear­beit­et. Das merkt man auch beim Lesen — einiges passt (etwa chro­nol­o­gisch und topographisch) nicht zusam­men, an eini­gen Stellen brechen Episo­den mit Stich­worten oder Halb­sätzen ab. Trotz­dem liest man eben Her­rn­dorf: Wieder eine Art Road-Nov­el, dies­mal von der “ver­rück­ten” Isa auf ihrem Weg durch das Land berich­t­end, wobei sie einige span­nende Begeg­nun­gen erlebt. Ein sehr bunter, etwas chao­tis­ch­er und deut­lich unfer­tiger Text — ich bin mir nicht sich­er, ob Her­rn­dorf damit ein Gefall­en getan wurde, das noch zu veröf­fentlichen. Sich­er, das ist nett zu lesen. Aber in dieser Form ist es eben über­haupt nicht auf der Ebene, auf der Her­rn­dorfs andere Texte ange­siedelt sind. Für Her­rn­dorf-Fans sich­er ein Muss, die anderen kön­nen das ohne großen Ver­lust aus­lassen.

Ver­rückt sein heißt ja auch nur, dass man ver­rückt ist, und nicht bescheuert. (7)

außer­dem noch gele­sen:

  • Iris Hani­ka: Wie der Müll geord­net wird. Graz, Wien: Droschl 2015. 298 Seit­en.
  • Ulrike Almut Sandig: Grimm. Gedichte. Nach den Kinder- und Haus­märchen von Jacob und Wil­helm Grimm, hg. von Brigitte Labs-Ehlert. Det­mold: Wege durch das Land 2015 (Wege durch das Land 23). 32 Seit­en.
  • Urs Faes: Und Ruth. Frank­furt am Main, Wien, Zürich: Büchergilde Guten­berg 2001 [Suhrkamp 2001]. 181 Seit­en.
  • Monique Schwit­ter: Eins im Andern. 5. Auflage. Graz: Droschl 2015. 232 Seit­en.
  • Thomas Melle: Raum­forderung. Erzäh­lun­gen. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2007. 200 Seit­en.
  • Man­fred Mit­ter­may­er: Thomas Bern­hard. Eine Biografie. Wien: Res­i­denz Ver­lag 2015. 452 Seit­en.
  • Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Frank­furt am Main: Fis­ch­er Taschen­buch Ver­lag 2014. 253 Seit­en.
  • Sig­mar Schol­lak: Nar­ren­reise. Halle: Mit­teldeutsch­er Ver­lag 2015. 159 Seit­en.
  • Sabine Scholl: Wir sind die Früchte des Zorns. Zürich: Seces­sion Ver­lag für Lit­er­atur 2013. 288 Seit­en.
  • Anke Stelling: Boden­tiefe Fen­ster. 4. Auflage. Berlin: Ver­brech­er 2015. 249 Seit­en.
  • Gun­nar Gun­nars­son: Advent im Hochge­birge. Erzäh­lung. Stuttgart: Reclam 2006. 103 Seit­en.
  • Hans Joachim Schädlich: Ver­suchte Nähe. Prosa. Rein­bek: Rowohl 1992.

Der wundersame Wort- und Buchstabendreher Titus Meyer

meyer, meiner buchstabeneuter milchwuchtordnungDas ist mal ein Buch, das mir wirk­lich so manche Nuss zu knack­en gegeben hat: Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung von Titus Mey­er, erschienen im rühri­gen kleinen Ver­lag Rei­necke & Voß, dessen Pro­gramm lauter so abseit­ige Kost­barkeit­en enthält (und der mir fre­undlicher­weise ein Rezen­sion­sex­em­plar zur Ver­fü­gung gestellt hat). Sel­ten war (und bin) ich mir so andauernd unklar, wie ich zu den hier ver­sam­melten Tex­ten ste­he. Und das ist zunächst mal ein sehr gutes Zeichen — heißt es doch, dass die Texte anre­gen: zum Denken, zum Prüfen, zum Über­legen und auch zum Kno­beln. Denn alle Texte in Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung beruhen auf ein­er palin­dromis­chen und/oder ana­gram­ma­tis­chen Struk­tur. Und die muss man (wenn man will, gnädi­ger­weise gibt der Band auch eine “Auflö­sung” an) erst ein­mal entschlüs­seln, um das zugrun­dele­gende Form­prinzip zu erken­nen und zu ver­ste­hen.

Zu einem Ende bin ich damit immer noch nicht gekom­men, weit­er­hin habe ich eigentlich keine wirk­liche Posi­tion: auf der einen Seite ste­ht die Bewun­derung ob der Kun­st­fer­tigkeit und die Begeis­terung am Rät­seln. Auf der anderen Seite aber auch viel Rat­losigkeit, weil ich (mich) oft nicht so recht entschei­den kann, ob die Gedichte wirk­lich für sich allein ste­hen kön­nen oder doch nur ein Beispiel für abstrak­te For­müber­legun­gen und ‑spiel­ereien sind. Vielle­icht ist das falsch gedacht, aber wenn ich ihre Pro­duk­tions­beson­der­heit­en und damit aber auch ihre for­male Bed­ingth­eit probe­weise außen vor lasse, sind mir viele Texte auch nach mehrma­ligem Lesen noch fremd: Ich finde keinen Ansatzpunkt, der mir eine Annäherung ermöglicht. Andere zün­den sofort, machen Spaß oder öff­nen neue Per­spek­tiv­en — tun also genau das, was ich mir von Gedicht­en erhoffe.

Also doch alles wie bei einem gewöhn­lichen Lyrik­band? Dur­chaus (auch der Titel ist ja dur­chaus vorstell­bar) — aber schon der Ver­gle­ich ist ja wiederum eigentlich falsch. Denn was ist denn so außergewöhn­lich an Mey­ers Werken? Doch eigentlich nur die Sel­tenheit und Kon­se­quenz ihrer for­malen Gestalt und deren Entste­hung, die in großen Teilen aktueller Lyrik so nicht vorkom­met. Und schon gar nicht so offen­gelegt vorkommt: Denn Mey­er gibt im Inhaltsverze­ich­nis zu jedem Text das Bau- & Form­prinzip an, mit dem Ver­weis auf sein Ord­nungss­chema legt der Dichter sozusagen seine Werk­statt bloß und macht damit auch deut­lich, dass seine Texte immer eine dezi­dierte Form haben (und hat mir in eini­gen Fällen über­haupt erst ver­rat­en, wie der Text funk­tion­iert …). Das ist vielle­icht der größte Unter­schied zu manch ander­er aktueller Lyrik, die sich um for­male Momente wenig bis gar nicht küm­mert (mit Aus­nahme von rhyth­mis­chen und klan­glichen Aspek­ten eventuell) oder aus anderen Grün­den auf gewöhn­lichere, tra­di­tionellere Momente set­zt. Was Mey­er aber davon abge­se­hen auf jeden Fall ausze­ich­net, ist der Umstand, dass seine Lyrik ihre Schriftlichkeit kon­se­quent ernst nimmt, sie fast schon zele­bri­ert, den Buch­staben (und manch­mal auch größere Entitäten wie etwa Sil­ben) als für sich ste­hende Werte in der und für die Lyrik ins Zen­trum rückt. Von Buch­staben-Palin­dromen über Zeilen-Buch­staben-Palin­drome, Sator-Quadrat und das ver­rück­te Ver­tikalpalin­drom (bei dem der Text nach ein­er 180°-Drehung den gle­ichen Text gibt!) über Sil­ben- & Wort-Palin­drome zu Ana­gram­mgedicht­en, Pan­gram­mgedicht­en (mit allen Buch­staben des Alpha­bets) und Schüt­tel­reimen reicht die Band­bre­ite der kon­struk­tivis­tis­chen Gedichte (wenn ich die mal vorüberge­hend so nen­nen mag) bei Mey­er denn auch — man kann Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung denn auch dur­chaus als Kom­pedi­um der sel­te­nen For­men lesen.

Mon­strum, dies auf­grund
seel­is­chster Meis­ten ver­gaste
Zaumti­er Palin­drom.April­mond (die Schlussverse)

Vielle­icht zeigen Mey­ers Texte aber doch mehr als nur den kun­st­fer­ti­gen Umgang mit Sprache, der eine gewisse arti­fizielle Freude am ver­track­ten Rät­sel­haftigkeit meines Eracht­ens nicht ver­ber­gen kann. Vielle­icht geht es hier auch um die Negierung oder bess­er noch, die Zer­störung von Sin­ner­wartun­gen: Man kön­nte vielle­icht sagen, erst solche Gedichte sind der Free Jazz der Lyrik, denn sel­ten (na gut, Dada funk­tion­iert auf dieser Ebene ähn­lich) bis gar nicht wird die Mate­ri­al­ität der Sprache der Lyrik so radikal gedacht und umge­set­zt. Vielle­icht kommt ja daher meine ini­tiale “Unzufrieden­heit” (blödes Wort, viel zu viel …) mit vie­len Tex­ten — weil sie ein­fach sind, was und wie sie sind und nicht irgend­was ver­mit­teln, erzählen, zeigen, beweisen sollen und wollen — und daran scheit­ert dann mein kryp­to-hermeneutis­ches Lesen zumin­d­est beim ersten Durch­gang regelmäßig, es stolpert sozusagen beim Gang auf der “Hermeneu­tik­treppe” (um einen der schö­nen Mey­er­schen Neol­o­gis­men zu ver­wen­den). Aber das macht gar nichts: Denn erstens ist das ein guter Anlass, mal wieder über Lek­türeer­wartun­gen und Lesetech­niken nachzu­denken und andere Herange­hensweisen zu proben, und zweit­ens zeigt es eben, dass Lit­er­atur mehr sein kann als nur sinnhaftes Erzählen oder Beschreiben in Prosa oder Lyrik (und dann sog­ar richtig gut wird). Gut, das ist natür­lich über­haupt keine neue Beobach­tung und ger­ade in zeit­genös­sis­ch­er Lyrik merkt man das auch an anderen Stellen — aber eben nicht so wie bei Mey­er, der das Lesen auf seine Form viel stärk­er zurück­wirft als andere Autorin­nen das ver­mö­gen.

Der Ver­gle­ich mit dem Free Jazz passt vielle­icht auch insofern, als aus diesen Gedicht­en immer wieder eine große Frei­heit spricht. Das ist natür­lich para­dox: Frei­heit in ein­er kün­stlichen, stren­gen Form — aber ger­ade sie ist es, die sie ermöglicht, weil sie das Sin­ndik­tat ein­fach aufhebt. Auch wenn ich das in mein­er Lek­türe sehr stark mache, heißt das aber auch nicht, dass die Mey­er­sche Lyrik vol­lkom­men sinnbe­fre­it ist. Mit etwas Spürsinn und Kreativ­ität kann man hier dur­chaus faszinierende Zusam­men­hänge find­en (ganz egal, ob die vom Autor intendiert oder gese­hen wur­den …) — nicht immer gelingt das für ganze Gedichte, aber doch für einzelne Wort- und Vers­grup­pen. Dann kom­men aber wieder Brüche, “ent­täuschte” Erwartun­gen, Wider­sprüche und Kon­fronta­tio­nen ins Spiel. Und in diesem Zusam­men­spiel aus strenger (nachger­ade math­e­ma­tis­ch­er) Kon­struk­tion und Inko­hären­zen auf allen Sin­nebe­nen ist das Lyrik, die unbe­d­ingt heutig, aktuell ist.

Und noch ein Gedanke, der beim Lesen in diesem Band immer wieder kommt: Sprache ist eine Wun­dertüte. Und das ist natür­lich ein Punkt, für den ich mich immer wieder neu begeis­tern kann … Mey­er löst Sprache wie nur wenig Lit­er­atin­nen aus dem Korsett der All­t­agsver­wen­dung und ihrer “nor­malen” Bedeu­tung: Das ist ja immer die Krux für Sprachar­beit­er, dass ihr Medi­um und Mate­r­i­al so nor­mal, so alltäglich ist (und deshalb so wenig kun­stvoll — auswe­ichen nur im “Stil”) — oder es wird schnell sehr fremd (Joyce oder Schmidt zum Beispiel, selb­st dem in dieser Hin­sicht viel harm­loseren Jir­gl wird das immer wieder vorge­hal­ten). Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung ist auch in ander­er Hin­sicht eine sprach­liche Wun­dertüte — und daran zeigt sich vielle­icht erst die Meis­ter­schaft Mey­ers: Auch wenn die Kon­struk­tion­sprinzip­i­en gle­ich oder ähn­lich sind, so haben doch alle daraus resul­tieren­den Gedichte ihren eige­nen Ton, ihr eigenes Set­ting, ihren speziellen Klang, ihren indi­vidu­ellen Stil von ver­spiel­ten Clownereien bis zu düsteren Nach­den­klichkeit­en.

Auf jeden Fall kann ich nur rat­en, das unbe­d­ingt selb­st auszupro­bieren — wenige Lek­türen sind so anre­gend im eigentlichen Sinne. Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung ist faszinierend und schön, streng und ver­spielt, spaßig und tief­sin­nig. Und damit ist es ein­fach ein gutes Buch, denn es nötigt der Leserin viel Aktiv­ität ab: Das kann man nicht ein­fach so wegkon­sum­ieren, hier muss man mitar­beit­en. Aber auch: Hier darf und kann man das! Und sich­er ist auch: Mey­ers Texte bieten viele Möglichkeit­en, eigene Zugänge zu find­en, über die kon­struk­tive Schärfe natür­lich, aber auch über das Moment der Klan­glichkeit und der sprach­lichen Raf­fi­nesse über­haupt, aber auch für Wort­bil­dungs­fans gibt es hier ganz tolle Ent­deck­un­gen (der Titel ver­weist ja schon darauf, darüber alleine — der Schlussvers aus “Wurm­lochdich­tung” — ließe sich noch aus­giebig nach­denken …) zu machen — da ist für (fast) jeden etwas dabei …

Staat­sex­a­m­en­sangst?
Staat, Sex, Amen sangst
du Rabe. Leben?
Dura­bel eben!18

Titus Mey­er: Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 83 Seit­en. ISBN 9783942901154.

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