Kann man einen Roman als Palindrom schreiben? Oder ein Palindrom als Roman schreiben und lesen? Titus Meyer versucht es zumindest. Andere DNA heißt das Ergebnis (natürlich selbst eines der vielen Palindrome in diesem Palindrom), das – wie schon sein Band mit Palindrom-Gedichten – bei Reinecke & Voß erschienen ist. Ich habe jetzt nicht kontrolliert, ob das wirklich ein Palindrom ist. 56 Seiten sind zwar für einen Roman erst einmal nicht viel Text, aber sehr, sehr, sehr viel, um ein Palindrom zu überblicken. Ich vertraue da also mal Autor und Verlag …
Gegliedert ist Andere DNA als lose Folge von kurzen Abschnitten (meist 1–2 Seiten, manchmal auch mehr) mit so schönen Titeln wie „Sinnetennis“, „Banale Magd“ oder „Einsiedelei“, aber auch eher generisch („Tod“, „Zeit“, „Moral“ zum Beispiel). Hier gibt es tatsächlich so etwas wie thematische Zusammenhänge der wilden syntaktischen Konstruktionen Meyers. Als ganzes konnte ich dem Buch aber weder einen kohärenten Inhalt noch ein wirkliches Thema entnehmen. Darum geht es wohl auch gar nicht. Denn mit Erzählen hat das hier natürlich nichts zu tun. Es ist ja schon die Frage, ob man so etwas überhaupt Schreiben nennen kann. Und wer schreibt dann hier? Der Autor oder die Regel?
Aber wahrnehmen lässt sich trotzdem etwas. Die Sprache selbst, aber auch die bereits erwähnten Sinnzusammenhänge oder Sinnkonstrukte, die lassen sich also beobachten. Aber meist nur granular: Ein paar Sätze, viel mehr sind das selten („Einsiedelei“ ist so ein Fall, wo das auch mal über längere Strecke gelingt) – dann stolpert der Text wieder, der Sinn löst sich in alle Richtungen auf. Ich konnte das nur in kleineren Dosen lesen, nach ein paar wenigen Sätzen schon fängt der Kopf an zu schwirren.
Es gibt dabei durchaus schöne Stellen, wo auf einmal neue, gewagte, schöne Formulierungen aufblitzen. Auf irgendwelche Zusammenhänge darf man aber wirklich nicht zu sehr hoffen. Vor allem aber stellte sich mir immer wieder die Frage: Kann man das lesen? Und: Wie liest man so etwas eigentlich? Klassisches hermeneutisches Lesen funktioniert jedenfalls überhaupt nicht, das wird ganz schnell klar. Ich habe mich dann oft beim Lesen quasi selbst beobachtet und gemerkt, wie man aus kleinsten Hinweisen Zusammenhänge, ja sogar „Geschichten“ konstruieren will. Bis man – oder eben der Text – sich wieder bremst und sich irgendwann einfach der Sprache ausliefert, auch wenn das trocken und wüst scheint.
Und natürlich hat Andere DNA auch Momente einer Leistungsschau nach dem Motto: Seht her, auch das kann „Sprache“, das kann Literatur (und so etwas vertracktes bekomme ich als Autor hin …): Die Technologizität der Sprache pur sozusagen als literarischen Text verkörpern und aufzeigen. Ob das aber mehr ist? Ich bin mir nicht so sicher. Etwas anderes ist es auf jeden Fall. Und dann schwingt natürlich auch noch ein gewisses kompetitives Moment – ein so langes Palindrom gab es noch nie! – immer etwas mit. Insgesamt aber habe ich das dann doch eher als proof of concept denn als mögliche (Weiter)Entwicklung einer zeitgemäßen, zeitgenössischen Literatur gelesen. Aber vielleicht habe ich dabei auch zu sehr von der Oberfläche ablenken lassen, wer weiß …
Titus Meyer: Andere DNA. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. 56 Seiten. ISBN 9783942901208.
Viel zu lange gewartet mit der nächsten Aus-Lese, deswegen ist das jetzt eine Auslese der Aus-Lese …
Friedrich Forssman: Wie ich Bücher gestalte. Göttingen: Wallstein 2015 (Ästhetik des Buches, 6). 79 Seiten.
„Ein Buch ist schön, wenn die Gestaltung zum Inhalt paßt.“ (71) — in diesem kleinen, harmlosen Satz steckt eigentlich schon das gesamte gestalterische Credo Forssmans (dessen Name ich immer erst beim zweiten Versuch richtig schreibe …) drin. Forssman, als Gestalter und Setzer der Spätwerke Arno Schmidts schon fast eine Legende, inzwischen auch durch die Neugestaltung der Reclamschen “Universal Bibliothek” in fast allen Händen, will in diesem kleinen Büchlein — 79 Seiten sind nicht viel, wenn es um Buchgestaltung, Typographie, Herstellung und all das drumherum gehen soll — zeigen, wie er selbst Bücher gestaltet, das heißt, nach welchen Kriterien er arbeitet. Ein Werkstattbericht soll das sein — und das ist es auch, nicht nur, weil es so aussieht.
Locker plaudert er, könnte man sagen, über die Arbeit an der Herstellung eines Buches. Das betrifft letztlich all die Aspekte, die über den “reinen” Text als Inhalt hinausgehen: Typographie, Satz, Format, Herstellung, Umschlag und vieles mehr. Forssman plaudert, sage ich, weil er sich dezidiert als Theorie-Verächter darstellt. Letztlich sind das alles Regel- und Geschmackfragen: Ein Buch ist schön, wenn es gut ist — und es ist gut, wenn es schön ist. Viel mehr steckt da eigentlich nicht dahinter. Forssman sieht Buchgestaltung ausdrücklich als Kunsthandwerk, das bestimmten Regeln gehorcht. Die — und den guten Geschmack bei der Beurteilung ihrer Anwendung — lernt man, indem man andere Bücher der Vergangenheit (und Gegenwart) anschaut und studiert. Freiheit und Tradition bzw. Regel sind die Pole, zwischen denen jeder Kunsthandwerker sich immer wieder verortet. Beim Lesen klingt das oft traditioneller und langweiliger, als Forsmanns Bücher dann sind. Das liegt wahrscheinlich nicht zuletzt daran, dass er sehr stark auf eine ausgefeilte und konsequente Durchgestaltung des gesamten Buches Wert legt — vom Bindungsleim bis zur korrekten Form der An- und Abführungsstriche hat er alles im Blick. Und, darauf weist er auch immer wieder hin, Regelhaftigkeit und Tradition heißt ja nicht, dass alles vorgegeben ist: Es gibt Freiheitsgrade, die zu nutzen im Sinne einer Interpretation des vorliegenden Textes die Aufgabe des Buchgestalters ist. Und dabei gilt dann doch wieder:
Die Beweislast liegt immer beim Veränderer, in der Typographie erst recht. (42)
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer. 479 Seiten.
Ein ganz schöner Brocken, und ein ganz schön heftiger dazu. Nicht wegen der literarirschen Form, sondern wegen des Inhalts — der ist nicht immer leicht verdaulich. Es geht um Bulgarien unter sozialistischer/kommunistischer Herrschaft, genauer gesagt, um die “Arbeit” und die Verbrechen der Staatssicherheit. Das erzählt Trojanow auf der Grundlage von Archivakten, die zum Teil auch ihren Weg ins Buch gefunden haben (seltsamerweise werden sie — und nur sie — in kleinschreibung angekündigt …). Trojanow konstruiert eine Geschichte aus zwei Polen — Macht und Widerstand natürlich — die sich in zwei Männern niederschlagen und recht eigentlich, das wird ganz schnell klar, personifizieren. Die sind dadurch für meinen Geschmack manchmal etwas eindimensional geworden: Der eine ist eben die mehr oder weniger reine Verkörperung des Prinzipes Widerstand, der anderen der Macht (bzw. des prinzipienlosen Opportunismus). In abwechselnden Kapiteln wechselt auch immer die Perspektive entsprechend. Geschickt gelingt Trojanow dabei ein harmonischer Aufbau, der Informationen sehr harmonisch und allmählich weitergibt. Seinen hauptsächlichen Reiz zieht Macht und Widerstand vielleicht aber doch daraus, dass es sozusagen Literatur mit Wahrheitsanspruch ist, den Fiktionalitätspakt also aufkündigt (und daran im Text durch die eingestreuten Aktenübersetzungen, die sonst für den literarischen Text wenig tun, immer wieder erinnert). Das macht die Bewertung aber zugleich etwas schwierig: Als rein literarischer Text überzeugt es mich nicht, in seiner Doppelfunktion als Literatur und historisch-politische Aufklärung ist es dagegen großartig.
John Hirst: Die kürzeste Geschichte Europas. Hamburg: Atlantik 2015. 206 Seiten.
Eine interessante Lektüre bietet diese Geschichte Europas, sie ist durchaus erfrischend, die extreme Verknappung. Aber halt auch immer wieder problematisch — vieles fehlt, vieles ist ungenau bis fehlerhaft. Aber um Vollständigkeit (der behandelten Themen oder der Darstellung) kann es in einer “kürzesten Geschichte” natürlich überhaupt nicht gehen.
Hirst geht es im ersten Teil — „Die kürzeste Version der Geschichte“ überschrieben — vor allem um die Formierung Europas: Wie wurde Europa das, was es heute ist (oder vor wenigen Jahren war)? Er stützt sich dabei vor allem auf drei Phänomene und siedelt das maßgeblich im Übergang von Antike zu Mittelalter an: Europa ist die Verbindung von der „Kultur des antiken Griechenlands und Roms“, dem Christentum und der „Kultur der germanischen Krieger“. Immer wieder betont er, dass Europa als Idee und Gestalt eben maßgeblich eine Mischung sei. Und die versteht man nur, wenn man ihre Genese im Blick hat (das alles gilt übrigens für ihn bis in die Jetztzeit — ich bin mir nicht sicher, ob er dabei nicht doch die Macht & Notwendigkeit der Geschichte überschätzt …): Nur mit Kenntnis dieser Wurzeln versteht man also die Gegenwart. Er fasst seine Überlegungen zum Zusammenwirken seiner Grundfaktoren immer wieder in schönen Diagrammen zusammen, die dann zum Beispiel so aussehen:
(Seite 31)
(Seite 61)
Die ersten Teile — wo es um die eigentliche Geschichte und Formierung Europas als Europa geht — sind dabei gar nicht so schlecht: Natürlich ist das alles sehr verkürzt, aber übrigens auch gut lesbar. Danach, wo es unter Überschriften wie „Einfälle und Eroberungen“, „Staatsformen“, „Kaiser und Päpste“ um Linien und Tendenzen der europäischen Geschichte in Mittelalter und Neuzeit geht, wird es für meinen Geschmack aber zu episodisch und auch historisch oft zu ungenau. In der Konzeption fehlt mir zu viel Kultur und Kulturgeschichte: Hirst geht weitestgehend von klassischer politischer Geschichte aus, ergänzt das noch um etwas Philosophie und ein bisschen Religion. Und: Hirst denkt für meinen Geschmack auch zu sehr in modernen Begriffen, was manchmal zu schiefen Bewertungen führt (übrigens auch anderen bei Historikern (immer noch) ein beliebter Fehler …)
Manche Wertung und Einschätzung stößt bei mir auf größeren Widerstand. Manchmal aber auch einfaches handwerkliches Pfuschen, wenn Hirst etwa Davids Zeichnung „Schwur im Ballhaus“ unhinterfragt als getreues Abbild einer wirklichen Handlung am Beginn der Französischen Revolution liest und interpretiert (dass er den Leser sonst mit Quellen nicht weiter behelligt, ist natürlich dem Format geschuldet). Seltsam fand ich auch sein Bild der mittelalterlichen Kirche vor Gregor VII und ihr Verhältnis zur Politik: „Örtliche Machthaber und die Monarchen Europas hatten sie [die Kirche] untergraben, schlechtgemacht und ausgeplündert.“ (149) — eindeutiger kann man kaum Position beziehen …
Damit ist Hirst insgesamt also sicher nicht die letzte Autorität zur Geschichte Europas, nichtsdestotrotz aber durchaus eine stimulierende Lektüre. So weit wie Gustav Seibt, der das in der SZ ein “Meisterwerk der Vereinfachung” nannte, würde ich allerdings nicht gehen.
Roland Barthes: Der Eiffelturm. Berlin: Suhrkamp 2015. 80 Seiten.
Zum 100. Geburtstag des großen Roland Barthes hat Suhrkamp seinen kleinen Text über den Pariser Eiffelturm in einem schön gemachten Büchlein mit ergänzenden Fotos veröffentlicht (das bei mir allerdings schon beim ersten Lesen zerfiel …). Barthes untersucht nicht nur, was der Eiffelturm eigentlich ist — nämlich ein (annähernd) leeres Zeichen -, sondern vor allem, was er bedeutet und was er mit Paris und dem Beobachter oder besser Betrachter macht. So konstatiert er unter anderem, dass der Eiffelturm einen neuen Blick (aus der Höhe eben) auf die Stadt als neue Natur, als menschlichen Raum ermöglicht und eröffnet. Und damit ist der Eiffelturm für Barthes die Materialisation dessen, was die Literatur im 19. Jahrhundert schon längst geleistet hatte, nämlich die Ermöglichung, die Struktur der Dinge (als “konkrete Abstraktion”) zu sehen und zu entziffern. Der besondere Kniff des Eiffelturms besteht und darin, dass er — im Unterschied zu anderen Türmen und Monumenten — kein Innen hat: „Den Eiffelturm besichtigen heißt sich zu seinem Parasiten, nicht aber zu seinem Erforscher machen.“ (37), man gleitet immer nur auf seiner Oberfläche.
Damit und durch die Etablierung eines neuen Materials — dem Eisen statt dem Stein — verkörpert der Eiffelturm einen neuen Wert — den der funktionellen Schönheit. Gerade durch seine Nutzlosigkeit (die ihn vor seiner Erbauung so suspekt machte) befähigt ihn besonders — weil keine tatsächliche Nutzung sich mit einmengt -, zum Symbol der Stadt Paris zu werden: “Der Eiffelturm ist durch Metonymie Paris geworden.” (51) — und mehr noch, er ist “die ungehemmte Metapher” überhaupt: “Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt.” (63). Genau das ist es natürlich, was ihn für den strukturalistischen Semiotiker Barthes so interessant und anziehend macht. Und diese Faszination des Autors merkt man dem Text immer wieder an.
Michael Fehr: Simeliberg. 3. Auflage. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2015. 139 Seiten.
Grau nass trüb ein Schweizer Wetter ziemlich ab vom Schuss (5)
- so fängt das “Satzgewitter” von Michael FehrsSimeliberg an. Die Methode bleibt über die fast 140 Seiten gleich: Die Sätze der harten, schweizerisch gefärbten Prosa werden durch ihre Anordnung der Lyrik angenähert (das typographische Dispositiv ist sogar ganz unverfälscht das der Lyrik), statt Satzzeichen benutzt Fehr Zeilenumbrüche. Diese zeilenweise Isolierung von Satzteilen und Teilsätzen verleiht dem Text nicht nur eine eigenartige Gestalt, sondern auch ein ganz eigenes Leseerlebnis: Das ist im Kern “echte” Prosa, die durch ihre Anordnung aber leicht wird, den Boden unter den Füßen verliert, ihre Festigkeit und Sicherheit (auch im Bedeuten und Meinen) aufgegeben hat: Sicher im Sinne von unverrückt und wahr ist hier kaum etwas, die Form lässt alles offen. Dabei ist die erzählte Geschichte in ihrem Krimicharakter (der freilich keine “Auflösung” erfährt) beinahe harmlos: Ein abgelegener Hof, seltsame Todesfälle, eine gigantische Explosion, eine Untersuchung, die Konfrontation von Dorf und Stadt, von Einheimischen und Zugezogenen. Genau wie die Geschichte bleibt alles im Ungefähren, im Düsteren und Schlammigen — die Figuren sind Schattenrisse, ihre Motivation wie ihre Sprache bruchstückhaft. Und genau wie die Menschen (fast) alle seltsame Sonderlinge sind, ist auch der Text sonderbar — aber eben sonderbar faszinierend, vielleicht gerade durch seine Härte und die abgründige Dunkelheit, die er ausstrahlt. Und die Fehr weder mildern will noch kann durch eine “angenehmere”, das heißt den Lesererwartungen mehr entsprechende, Erzählweise.
Auch wieder ein nettes, sympathisches Büchlein: In über 60 kurzen Geschichten, Anekdoten, Skizzen hinterfragt Henrici (den man sich wohl als alter ego des Literaturwissenschaftlers Frey vorstellen darf) den Alltag der Gegenwart, unser Tun und unser Sprechen. Das ist einfach schön verspielt, verliebt ins Spielen, genauer gesagt, ins Wortspiel: Durch das spielerische Arbeiten mit gedankenlos geäußerten Worten und Sätzen, mit Gemeinplätzen, hinsichtlich ihres Klanges und ihrer Semantik bringt Frey immer wieder die Bedeutungen zum Tanzen. Das sind oft oder sogar überwiegend gar keine weltverändernden Beobachtungen, die diese Miniaturen erzählen. Aber sie haben die Kraft, das Alltägliche, das Normale, das man immer wieder als Gegeben unhinterfragt einfach so hinnimmt und weiterführt, für die Beobachtung und Inspektion zu öffnen: Denn im spielerischen Verdrehen der Worte zeigt Frey immer wieder, was die eigentlich leisten (können), wenn man sie nicht bloß unbedacht äußert, sondern auch in banalen Situationen auf ihre Möglichkeiten und Bedeutungen abklopft — da kommt Erstaunliches, oft ausgesprochen Komisches dabei heraus. Eine sehr sympathische (und leicht zugängliche) Art des (Sprach)Philosophierens …
Zu diesem ganz wunderbaren Büchlein mit dem zauberhaften Titel Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung von Titus Meyer, das voller faszinierend artistischer Sprachkunstwerke steckt, habe ich schon vor einiger Zeit ein paar Sätze verloren: klick.
Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Herausgegeben von Kathrin Passig und Marcus Gärtner. RM Buch und Medien 2015. 141 Seiten.
Bilder deiner großen Liebe ist ein unveröffentlichtes und auch unfertiges Manuskript aus dem Nachlass Wolfgang Herrndorfs, das Kathrin Passig und Marcus Gärtner (die mit Herrndorf eng bekannt/befreundet waren) zur Veröffentlichung “arrangiert” haben. Denn das vorhandene Textmaterial setzt an verschiedenen Stellen des geplanten Romans an und ist auch unterschiedlich stark ausgearbeitet. Das merkt man auch beim Lesen — einiges passt (etwa chronologisch und topographisch) nicht zusammen, an einigen Stellen brechen Episoden mit Stichworten oder Halbsätzen ab. Trotzdem liest man eben Herrndorf: Wieder eine Art Road-Novel, diesmal von der “verrückten” Isa auf ihrem Weg durch das Land berichtend, wobei sie einige spannende Begegnungen erlebt. Ein sehr bunter, etwas chaotischer und deutlich unfertiger Text — ich bin mir nicht sicher, ob Herrndorf damit ein Gefallen getan wurde, das noch zu veröffentlichen. Sicher, das ist nett zu lesen. Aber in dieser Form ist es eben überhaupt nicht auf der Ebene, auf der Herrndorfs andere Texte angesiedelt sind. Für Herrndorf-Fans sicher ein Muss, die anderen können das ohne großen Verlust auslassen.
Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. (7)
außerdem noch gelesen:
Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird. Graz, Wien: Droschl 2015. 298 Seiten.
Ulrike Almut Sandig: Grimm. Gedichte. Nach den Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm, hg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold: Wege durch das Land 2015 (Wege durch das Land 23). 32 Seiten.
Urs Faes: Und Ruth. Frankfurt am Main, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg 2001 [Suhrkamp 2001]. 181 Seiten.
Monique Schwitter: Eins im Andern. 5. Auflage. Graz: Droschl 2015. 232 Seiten.
Thomas Melle: Raumforderung. Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 200 Seiten.
Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Wien: Residenz Verlag 2015. 452 Seiten.
Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2014. 253 Seiten.
Das ist mal ein Buch, das mir wirklich so manche Nuss zu knacken gegeben hat: Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung von Titus Meyer, erschienen im rührigen kleinen Verlag Reinecke & Voß, dessen Programm lauter so abseitige Kostbarkeiten enthält (und der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat). Selten war (und bin) ich mir so andauernd unklar, wie ich zu den hier versammelten Texten stehe. Und das ist zunächst mal ein sehr gutes Zeichen — heißt es doch, dass die Texte anregen: zum Denken, zum Prüfen, zum Überlegen und auch zum Knobeln. Denn alle Texte in Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung beruhen auf einer palindromischen und/oder anagrammatischen Struktur. Und die muss man (wenn man will, gnädigerweise gibt der Band auch eine “Auflösung” an) erst einmal entschlüsseln, um das zugrundelegende Formprinzip zu erkennen und zu verstehen.
Zu einem Ende bin ich damit immer noch nicht gekommen, weiterhin habe ich eigentlich keine wirkliche Position: auf der einen Seite steht die Bewunderung ob der Kunstfertigkeit und die Begeisterung am Rätseln. Auf der anderen Seite aber auch viel Ratlosigkeit, weil ich (mich) oft nicht so recht entscheiden kann, ob die Gedichte wirklich für sich allein stehen können oder doch nur ein Beispiel für abstrakte Formüberlegungen und ‑spielereien sind. Vielleicht ist das falsch gedacht, aber wenn ich ihre Produktionsbesonderheiten und damit aber auch ihre formale Bedingtheit probeweise außen vor lasse, sind mir viele Texte auch nach mehrmaligem Lesen noch fremd: Ich finde keinen Ansatzpunkt, der mir eine Annäherung ermöglicht. Andere zünden sofort, machen Spaß oder öffnen neue Perspektiven — tun also genau das, was ich mir von Gedichten erhoffe.
Also doch alles wie bei einem gewöhnlichen Lyrikband? Durchaus (auch der Titel ist ja durchaus vorstellbar) — aber schon der Vergleich ist ja wiederum eigentlich falsch. Denn was ist denn so außergewöhnlich an Meyers Werken? Doch eigentlich nur die Seltenheit und Konsequenz ihrer formalen Gestalt und deren Entstehung, die in großen Teilen aktueller Lyrik so nicht vorkommet. Und schon gar nicht so offengelegt vorkommt: Denn Meyer gibt im Inhaltsverzeichnis zu jedem Text das Bau- & Formprinzip an, mit dem Verweis auf sein Ordnungsschema legt der Dichter sozusagen seine Werkstatt bloß und macht damit auch deutlich, dass seine Texte immer eine dezidierte Form haben (und hat mir in einigen Fällen überhaupt erst verraten, wie der Text funktioniert …). Das ist vielleicht der größte Unterschied zu manch anderer aktueller Lyrik, die sich um formale Momente wenig bis gar nicht kümmert (mit Ausnahme von rhythmischen und klanglichen Aspekten eventuell) oder aus anderen Gründen auf gewöhnlichere, traditionellere Momente setzt. Was Meyer aber davon abgesehen auf jeden Fall auszeichnet, ist der Umstand, dass seine Lyrik ihre Schriftlichkeit konsequent ernst nimmt, sie fast schon zelebriert, den Buchstaben (und manchmal auch größere Entitäten wie etwa Silben) als für sich stehende Werte in der und für die Lyrik ins Zentrum rückt. Von Buchstaben-Palindromen über Zeilen-Buchstaben-Palindrome, Sator-Quadrat und das verrückte Vertikalpalindrom (bei dem der Text nach einer 180°-Drehung den gleichen Text gibt!) über Silben- & Wort-Palindrome zu Anagrammgedichten, Pangrammgedichten (mit allen Buchstaben des Alphabets) und Schüttelreimen reicht die Bandbreite der konstruktivistischen Gedichte (wenn ich die mal vorübergehend so nennen mag) bei Meyer denn auch — man kann Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung denn auch durchaus als Kompedium der seltenen Formen lesen.
Monstrum, dies aufgrund seelischster Meisten vergaste Zaumtier Palindrom.Aprilmond (die Schlussverse)
Vielleicht zeigen Meyers Texte aber doch mehr als nur den kunstfertigen Umgang mit Sprache, der eine gewisse artifizielle Freude am vertrackten Rätselhaftigkeit meines Erachtens nicht verbergen kann. Vielleicht geht es hier auch um die Negierung oder besser noch, die Zerstörung von Sinnerwartungen: Man könnte vielleicht sagen, erst solche Gedichte sind der Free Jazz der Lyrik, denn selten (na gut, Dada funktioniert auf dieser Ebene ähnlich) bis gar nicht wird die Materialität der Sprache der Lyrik so radikal gedacht und umgesetzt. Vielleicht kommt ja daher meine initiale “Unzufriedenheit” (blödes Wort, viel zu viel …) mit vielen Texten — weil sie einfach sind, was und wie sie sind und nicht irgendwas vermitteln, erzählen, zeigen, beweisen sollen und wollen — und daran scheitert dann mein krypto-hermeneutisches Lesen zumindest beim ersten Durchgang regelmäßig, es stolpert sozusagen beim Gang auf der “Hermeneutiktreppe” (um einen der schönen Meyerschen Neologismen zu verwenden). Aber das macht gar nichts: Denn erstens ist das ein guter Anlass, mal wieder über Lektüreerwartungen und Lesetechniken nachzudenken und andere Herangehensweisen zu proben, und zweitens zeigt es eben, dass Literatur mehr sein kann als nur sinnhaftes Erzählen oder Beschreiben in Prosa oder Lyrik (und dann sogar richtig gut wird). Gut, das ist natürlich überhaupt keine neue Beobachtung und gerade in zeitgenössischer Lyrik merkt man das auch an anderen Stellen — aber eben nicht so wie bei Meyer, der das Lesen auf seine Form viel stärker zurückwirft als andere Autorinnen das vermögen.
Der Vergleich mit dem Free Jazz passt vielleicht auch insofern, als aus diesen Gedichten immer wieder eine große Freiheit spricht. Das ist natürlich paradox: Freiheit in einer künstlichen, strengen Form — aber gerade sie ist es, die sie ermöglicht, weil sie das Sinndiktat einfach aufhebt. Auch wenn ich das in meiner Lektüre sehr stark mache, heißt das aber auch nicht, dass die Meyersche Lyrik vollkommen sinnbefreit ist. Mit etwas Spürsinn und Kreativität kann man hier durchaus faszinierende Zusammenhänge finden (ganz egal, ob die vom Autor intendiert oder gesehen wurden …) — nicht immer gelingt das für ganze Gedichte, aber doch für einzelne Wort- und Versgruppen. Dann kommen aber wieder Brüche, “enttäuschte” Erwartungen, Widersprüche und Konfrontationen ins Spiel. Und in diesem Zusammenspiel aus strenger (nachgerade mathematischer) Konstruktion und Inkohärenzen auf allen Sinnebenen ist das Lyrik, die unbedingt heutig, aktuell ist.
Und noch ein Gedanke, der beim Lesen in diesem Band immer wieder kommt: Sprache ist eine Wundertüte. Und das ist natürlich ein Punkt, für den ich mich immer wieder neu begeistern kann … Meyer löst Sprache wie nur wenig Literatinnen aus dem Korsett der Alltagsverwendung und ihrer “normalen” Bedeutung: Das ist ja immer die Krux für Spracharbeiter, dass ihr Medium und Material so normal, so alltäglich ist (und deshalb so wenig kunstvoll — ausweichen nur im “Stil”) — oder es wird schnell sehr fremd (Joyce oder Schmidt zum Beispiel, selbst dem in dieser Hinsicht viel harmloseren Jirgl wird das immer wieder vorgehalten). Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung ist auch in anderer Hinsicht eine sprachliche Wundertüte — und daran zeigt sich vielleicht erst die Meisterschaft Meyers: Auch wenn die Konstruktionsprinzipien gleich oder ähnlich sind, so haben doch alle daraus resultierenden Gedichte ihren eigenen Ton, ihr eigenes Setting, ihren speziellen Klang, ihren individuellen Stil von verspielten Clownereien bis zu düsteren Nachdenklichkeiten.
Auf jeden Fall kann ich nur raten, das unbedingt selbst auszuprobieren — wenige Lektüren sind so anregend im eigentlichen Sinne. Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung ist faszinierend und schön, streng und verspielt, spaßig und tiefsinnig. Und damit ist es einfach ein gutes Buch, denn es nötigt der Leserin viel Aktivität ab: Das kann man nicht einfach so wegkonsumieren, hier muss man mitarbeiten. Aber auch: Hier darf und kann man das! Und sicher ist auch: Meyers Texte bieten viele Möglichkeiten, eigene Zugänge zu finden, über die konstruktive Schärfe natürlich, aber auch über das Moment der Klanglichkeit und der sprachlichen Raffinesse überhaupt, aber auch für Wortbildungsfans gibt es hier ganz tolle Entdeckungen (der Titel verweist ja schon darauf, darüber alleine — der Schlussvers aus “Wurmlochdichtung” — ließe sich noch ausgiebig nachdenken …) zu machen — da ist für (fast) jeden etwas dabei …
Staatsexamensangst? Staat, Sex, Amen sangst du Rabe. Leben? Durabel eben!18