Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: theorie

Bücherreihe

Aus-Lese #52

Ich pro­bie­re mal wie­der etwas Neu­es … Da ich mei­ne Mel­dun­gen „Aus-Lese“ mit einer kur­zen sub­jek­ti­ven Skiz­ze der jewei­li­gen Lek­tü­re und mei­nes Ein­dru­ckes dazu ver­se­hen habe, bedeu­tet das einen (zwar klei­nen) gewis­sen Auf­wand, der mich in der letz­ten Zeit weit­ge­hend davon abge­hal­ten hat, die Serie fort­zu­füh­ren. Also gibt es jetzt einen neu­en Ver­such im deut­lich redu­zier­ten For­mat …

Hei­mi­to von Dode­rer: Unter schwar­zen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. Mün­chen: Deut­scher Taschen­buch-Ver­lag 1973. 153 Sei­ten. ISBN 978−3−423−00889−1.

Der schma­le Band mit Erzäh­lun­gen – über­wie­gend aus den 1950er und 1960er Jah­ren – hat es nicht geschafft, mei­ne respekt­vol­le Distanz zu Dode­rer zu ver­rin­gern. Ich erken­ne (und schät­ze) die Kunst­fer­tig­keit und das Stil­be­wusst­sein des Autors, aber davon abge­se­hen blei­ben mir die Tex­te (das ging mir mit sei­nen Roma­nen ähn­lich) eher fremd.

Wolf­gang Schul­ler: Cice­ro. Dit­zin­gen: Reclam 2018 (Reclam 100 Sei­ten). 101 Sei­ten. ISBN 978−3−15−020435−1.

Eine net­te kur­ze Fei­er­abend­lek­tü­re, die den Men­schen Mar­cus Tul­li­us Cice­ro flott, unter­halt­sam, auch poin­tiert por­trä­tiert. Dabei klingt das gro­ße (selbst­ver­ständ­li­che) Fach­wis­sen der römi­schen Geschich­te immer mit. Mir fehlt aller­dings etwas die genaue­re und aus­führ­li­che­re Beschäf­ti­gung mit den Inhal­ten von Cice­ros Wer­ken. Der Band bleibt (absicht­lich) weit­ge­hend (nicht nur, aber doch über­wie­gend) am Äuße­ren von Cice­ros Leben. – Natür­lich wäre das auch viel ver­langt, bei­des auf 100 Sei­ten zufrie­den­stel­lend zu erle­di­gen, das ist mir durch­aus bewusst. Für mei­nen Geschmack hät­te eine zumin­dest teil­wei­se Ver­schie­bung des Fokus aber den­noch gut getan.

Ger­hard Pop­pen­berg: Herbst der Theo­rie. Erin­ne­run­gen an die alte Gelehr­ten­re­pu­blik Deutsch­land. Ber­lin: Matthes & Seitz 2018 (Fröh­li­che Wis­sen­schaft 111). 239 Sei­ten. ISBN 978−3−95757−386−5.

Ein fas­zi­nie­ren­der Text. Ich könn­te aber nur schwer genau sagen, was das eigent­lich ist – und wor­auf der Text hin­aus will. Auf der Suche nach so etwas wie einer geis­ti­gen Signa­tur der BRD liest Pop­pen­berg Autoren und ihre Rück­bli­cke auf die letz­ten Jahr­zehn­te. So kom­men Phil­ipp Felsch, Frank Wit­zel, Ulrich Raulff und Fried­rich Kitt­ler gemein­sam in den Blick, wer­den genau (!) gele­sen und mit durch­aus sujek­ti­ve gefärb­ten Dar­stel­lun­gen und Erin­ne­run­gen kom­bi­niert. Das klingt jetzt viel selt­sa­mer als es im Text ist. Der ist näm­lich durch­aus fas­zi­nie­rend und gelehrt – eine über­aus anre­gen­de Mischung und auch eine anre­gen­de Lek­tü­re.

Valen­tin Sen­ger: Kai­ser­hof­stra­ße 12. 4. Auf­la­ge der Neu­aus­ga­be. Frank­furt am Main: Schöff­ling 2012. 316 Sei­ten. ISBN 978−3−89561−485−9.

senger, kaiserhofstraße 12 (cover)Roman oder auto­bio­gra­phi­sche Erzäh­lung – eigent­lich ist das ja egal. Was es auf jeden Fall ist: Eine – ange­sichts des Sujets – erstaun­lich leich­te und leicht­fü­ßi­ge Erzäh­lung der jüdi­schen Fami­lie Sen­ger vor und wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Das ein­zig­ar­ti­ge dar­an ist, das merkt der Erzäh­ler auch selbst, wie wun­der­voll das gelingt: Ein Wun­der ist das Über­le­ben, ein Wun­der ohne Stau­nen. Natür­lich gibt es, ganz klas­sisch, Schwie­rig­kei­ten zu über­win­den. Aber um Ende siegt doch die Leich­tig­keit, das Leben, die fast unver­schäm­te Unver­nunft und Unbe­sorgt­heit des Erzäh­lers und sei­ner Fami­lie. Das gan­ze ist sehr direkt, unmit­tel­bar erzählt – ein Text, dem man sich kaum ent­zie­hen kann (und es ja eigent­lich auch nicht möch­te). Die meis­ten­teils knap­pen Kapi­tel, fast Erin­ne­rungs­bruch­stü­cke (vor allem im ers­ten Teil, der frü­hen Kind­heit des Erzäh­lers) machen dne Text auch gut zugäng­lich und kon­su­mier­bar – sicher­lich auch ein Fak­tor, der zum Erfolg des Buches, das seit 1978 in meh­re­ren Auf­la­gen und Aus­ga­ben (und Ver­la­gen) erschie­nen ist.

Nor­bert Frei/​Christian Morina/​Franka Maubach/​Maik Tänd­ler: Zur rech­ten Zeit. Wider die Rück­kehr des Natio­na­lis­mus. Ber­lin: Ull­stein 2019. 224 Sei­ten. ISBN 978−3−550−20015−1.

frei et al., zur rechten zeit (cover)Der Titel kün­digt eigent­lich eher eine Streit­schrift an: „Wider die Rück­kehr des Natio­na­lis­mus“. Das kann der Band aber kaum ein­lö­sen. Was er aber kann, und das durch­aus recht gut und über­zeu­gend: Hin­ter­grün­de für Ent­wick­lun­gen geben. Die Autor*innen bie­ten näm­lich eine Rück­schau auf die deut­sche Geschich­te seit 1945, in West und Ost, mit dem Fokus auf die diver­sen rech­ten, natio­na­lis­ti­schen Strö­mun­gen, Dis­kus­sio­nen und Par­tei­en, von der Ent­na­zi­fi­zie­rung bis in die unge­fäh­re Gegen­wart. Das ist als Ein­ord­nung und Argu­men­ta­ti­ons­hil­fe gut gemacht und gut zu nut­zen. Die gesamt­deut­sche Per­spek­ti­ve ist dabei durch­aus hilf­reich – unsi­cher bin ich aller­dings, ob Bücher wie die­se ihr Ziel wirk­lich errei­chen kön­nen …

Ins Netz gegangen (27.2.)

Ins Netz gegan­gen am 27.2.:

Aus-Lese #10

ZEIT-Geschich­te, 2/​2013: Anders leben. Jugend­be­we­gung und Lebens­re­form in Deutsch­land um 1900. 114 Sei­ten.

Das Heft bie­tet vor allem eines: Vie­le schö­ne Bil­der luf­ti­ger oder gar nicht beklei­de­ter Men­schen … Die Tex­te haben mich näm­lich die­ses Mal etwas ent­täuscht: Joa­chim Rad­kau haut im ein­lei­ten­den Über­blicks­ar­ti­kel erst mal kräf­tig auf alle ande­ren His­to­ri­ker aller Pro­ve­ni­en­zen ein, die die (Lebens-)Reformbewegungen der Jahr­hun­dert­wen­de sowie­so alle falsch ver­stan­den haben (im Gegen­satz zu ihm selbst). Inter­es­sant ist dann noch der Text über den „Mon­te Veri­tà“, Andre­as Molitors Text über die Darm­städ­ter Mat­hil­den­hö­he hin­ge­gen bleibt flach – wie vie­le ande­re Bei­trä­ge auch. Ins­ge­samt sicher eines der schlech­te­ren Hef­te – mit der Geschich­te einer Idee kommt die Redak­ti­on mit ihren gewohn­ten Mit­teln offen­bar nicht zuran­de: Das ist nur eine lan­ge Rei­hung von Ein­zel­phä­no­me­nen, die kaum ein gro­ßes oder nur ein grö­ße­res Bild erge­ben.

Jörn Rüsen: Kann ges­tern bes­ser wer­den? Zum Beden­ken der Geschich­te. Ber­lin: Kad­mos 2003 (Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Inter­ven­tio­nen, Bd. 2). 160 Sei­ten.

Vier Essays über Geschich­te an sich, als Pro­blem und Lösung, über die Ver­ant­wor­tung von His­to­ri­kern gegen­über der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart und der Zukunft – all die­se Grund­satz­fra­gen beim Nach­den­ken über und Arbeit mit und an der Geschich­te eben. Das ist alles sehr reflek­tiert, aber auch sehr tro­cken und strikt theo­re­tisch: typisch Rüsen eben … Typisch für ihn ist auch, immer von einer (exis­ten­zia­lis­ti­schen) „Anthro­po­lo­gie des His­to­ri­schen“ aus­zu­ge­hen und dar­aus sei­ne Über­le­gun­gen zu Wert und Gestalt der Geschich­te zu ent­wi­ckeln.

Ger­hard Falk­ner: Per­ga­mon Poems. Gedichte+Clips (dt-en). Über­ta­gen von Mark Ander­son. Ber­lin: kook­books 20012. 64 Sei­ten + DVD.

Zu dem Per­ga­mon Poems auf Papier und Sil­ber-/Matt­schei­be habe ich die­se Woche schon ein biss­chen etwas geschrie­ben: klick.

Edgar Allan Poe: Die Geschich­te der Arthur Gor­don Pym aus Nan­tu­cket. Über­setzt von Hans Schmid, her­aus­ge­ge­ben von Hans Schmid und Micha­el Farin. Ham­burg: mare­buch­ver­lag 2008. 525 Sei­ten.

Ein schön gemach­tes Buch, mit aus­führ­li­chem Begleit­ma­te­ri­al, einer neu­en, gut les­ba­ren Über­set­zung mit reich­li­cher Kom­men­tie­rung (auch wenn mich die Fuß­no­ten fast ein biss­chen zu sehr ablen­ken beim Lesen des Haupt­tex­tes). Vor allem aber ein wirk­lich groß­ar­ti­ger Roman, ein Hoch­fest des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lens – denn das ein­zi­ge, das sicher ist, ist, dass nichts sicher ist, was hier erzählt wird … – da hilft auch die Beteue­rung des Erzäh­lers nicht viel:

Ich berich­te die­se Umstän­de ganz detail­ge­treu, und ich berich­te sie, wohl­ver­stan­den, exakt so, wie sie uns erschie­nen. (199)

Davon darf man sich den Spaß aber nicht ver­der­ben las­sen. Im Gegen­teil, der schlitz­oh­ri­ge Erzäh­ler ist ein nicht uner­heb­li­cher Grund, war­um die­se Aben­teu­er­ge­schich­te einer See­rei­se mit blin­dem Pas­sa­gier, Meu­te­rei, Schiffs­bruch, Süd­see-Han­del, Süd­pol-Expe­di­ti­on und Kämp­fen mit Ein­ge­bo­re­nen … so unter­halt­sam daher­kommt und so ein raf­fi­nier­ter Text ist.

Netzfunde der letzten Tage (15.4.–17.4.)

Mei­ne Netz­fun­de für die Zeit vom 15.4. zum 17.4.:

feldforschung oder erzählung?

am wochen­en­de gele­sen: tho­mas meine­ckes schma­les bänd­chen feld­for­schung (frank­furt am main: suhr­kamp 2006). der unter­ti­tel behaup­tet, das sei­en erzäh­lun­gen. ich habe da so mei­ne zwei­fel.
eigent­lich war ich bis­her von meine­ckes schrift­stel­le­ri­schen arbei­ten immer recht ange­tan: tom­boy habe ich vor eini­gen jah­ren mit gro­ßem ver­gnü­gen gele­sen, dann auch holz und The church of John F. Ken­ne­dy sehr genos­sen. die vor­ein­stim­mung auf die­sen band, der als &gdquo;narrativer Bei­trag zur im AUgust 2006 eröff­ne­ten Aus­set­lung ‚das ach­te feld. geschlech­ter, leben und begeh­ren in der kunst sein 1960‘“ ent­stand, war also durch­aus posi­tiv. den hin­ter­grund zitie­re ich aus dem klap­pen­text des­halb so aus­führ­lich, weil er wahr­schein­lich nicht ganz unwe­sent­lich für die form des tex­tes bzw. der elf stü­cke ver­ant­wort­lich ist. vor allem aber, weil er so auf­fäl­lig noch ein­mal das wort „nar­ra­tiv“ bemüht. denn das ist eigent­lich der knack­punkt bei die­sem werk: wird hier über­haupt erzählt? ist es erzäh­len, wenn sei­ten­lang die dis­kus­si­on einer eng­lisch­spra­chi­gen mai­ling­lis­te über drag queens und kings bzw. ihre zwi­schen­stu­fen und über­la­ge­run­ge und deren ange­mes­se­ne und kor­rek­te bezeich­nung zitiert wird? oder ist das zitat nur fik­ti­on? die per­so­nen­na­men sind jeden­falls real und könn­ten auch – nach einer kur­zen inter­net­su­che – zu den ent­spre­chen­den aus­sa­gen pas­sen. eigent­lich ist es aber egal, denn die wirk­lich­keit ist offen­bar nur noch der/​ein/​text – und das heißt ja auch, dass wirk­lich­keit (und erst recht natür­lich mime­sis) kein kri­te­ri­um mehr ist. also, die fra­ge bleibt aber auch unab­hän­gig von der fik­tio­na­li­tät die­ser pas­sa­ge: was wird hier eigent­lich erzählt? natür­lich geht es um geschlecht(er), um ihrer kon­struk­ti­on, wahr­neh­mung etc. – fast hät­te ich geschrie­ben: das übli­che meine­cke-the­ma. aber noch ein­mal: ist das erzählt? es wir ja nur „be“-schrieben, nur situa­tio­nen geschil­dert. nur ganz sel­ten geschieht etwas, gibt es ent­wick­lun­gen und nur in weni­gen ansät­zen gibt es so etwas wie zeit. und das scheint mir doch schon ein merk­mal von erzäh­len zu sein, dass zeit in irgend einer form anwe­send ist, eine rol­le spielt. wenn über­haupt noch res­te sozu­sa­gen von dem, was man geläu­fig unter erzäh­len fasst, zu fin­den sind, sind sie ganz meine­cke-typisch neu­tra­li­siert1: das grund­sätz­li­che prä­sens zum bei­spiel. die unklar­heit von gender/​sex der erzähl­stim­me – wo es sie noch gibt. zum bei­spiel in mis­ter gay, der rekon­struk­ti­on eines über­falls auf eine schwu­len­bar, bei der es natür­lich auch wie­der um die ver­schwim­men­den gren­zen geht: die über­gän­ge von rea­li­tät in fik­ti­on, von bericht (des­sen stil­mit­tel vor­herr­schen) zur erzäh­lung zum dreh­buch, von psy­schi­cher „nor­ma­li­tät“ zu „krank­heit“ usw. usf. oder, auch eine eher spe­zi­el­le art des erzäh­lens: ody­see, wo der text nur noch aus einer zeit­ta­fel und der – deu­ten­den – über­schrift besteht.
da lie­ße sich bestimmt noch viel mehr dazu sagen. aber ob es sich lohnt? denn immer wie­der dreht es sich aber – in die­ser häu­fung dann auch schon sehr pene­trant – um die unklar­hei­ten des geschlechts, sei­ne kon­struk­tio­nen, sei­ne iden­ti­tä­ten (und deren kon­struk­tio­nen)2 und so wei­ter: „schon als klei­ner jun­ge war sie“ (63). wer das aber kapiert hat – und die meine­cke-leser ken­nen das ja eh‘ schon -, dem ist eigent­lich auch schon alles klar, was die­se tex­te wol­len. und der rest ist vor allem lang­wei­le.

Show 2 foot­no­tes

  1. ein typi­scher anfang bei meine­cke geht z.b. so: „bras­sai, unter dem unga­ri­schen namen gyu­la halá­sz gebo­ren im sie­ben­bür­gi­schen kron­stadt, rumä­nisch bra­sov, wovon er sein pseud­onym pho­ne­tisch ablei­te­te, des­sen lebens­weg von öster­reich-ungarn über deutsch­land nach frank­reich führt, in den frü­hen 1930er jah­ren, auf sei­nen nok­tur­nen foto­gra­fi­schen streif­zü­gen durch das soge­nann­te gehei­me paris, augen­blick­lich im le mono­cle, einer, wie er sich, hete­ro­nor­miert, aus­drückt, aus­schließ­lich dem schö­nen geschlecht gewid­me­ten bar, in wel­cher sämt­li­che frau­en, die wir­tin, sie hört auf den namen lulu de mont­par­nas­se, die andern­orts leicht­be­klei­de­ten bar- und ani­mier­mäd­chen, die kell­ne­rin­nen, selbst die gar­de­ro­bie­re, män­ner­klei­der tra­gen.“ (58) und das ist gera­de ein­mal der ers­te absatz, es geht noch fünf sei­ten so wei­ter.
  2. „er brach­te mir bei, was ich war, denn ich hat­te ja nie zuvor von fag hags gehört.“ (104)

was ist pop?

die ewi­ge fra­ge, wahr­schein­lich eh‘ nicht wirk­lich umfas­send und zufrie­den­stel­lend zu beant­wor­ten… aber stel­len muss man sie halt doch immer wie­der, sonst kommt man ja gar nicht vor­an, beim nach­den­ken über phä­no­me­ne des pop. dass pop mehr ist als chart­hits und main­stream-pop­mu­sik der seich­ten sor­te, inklu­si­ve ihrer kul­tur­in­dus­tri­el­len, markt­ka­pi­ta­lis­ti­schen ver­wer­tungs­or­gi­en und mar­ke­ting­kam­pa­gnen, ist ja inzwi­schen hof­fent­lich den ver­nünf­ti­gen (!) klar. aber was ist pop dann? wal­ter grass­kamp, michae­la krüt­zen und ste­phan schmitt haben beim fischer-taschen­buch-ver­lag einen klei­nen band mit „zehn ver­su­chen“ (so der unter­ti­tel) zur posi­ti­ons­be­stim­mung des pop in den ver­schie­de­nen kul­tu­rel­len fel­dern her­aus­ge­ge­ben. damit ist auch schon deut­lich, was ein gro­ßes man­ko an die­sem büch­lein ist: inhalt und titel pas­sen gar nicht so gut zusam­men. was pop als sol­cher und über­haupt ist, weiß man hin­ten­ach näm­lich immer noch genau­so wenig wie vor beginn der lek­tü­re. das hat wohl auch mit der ent­ste­hung des ban­des zu tun. ent­stan­den ist der näm­lich aus einer gemein­sa­men vor­le­sungs­rei­he der drei münch­ner kunst­hoch­schu­len (aka­de­mie, hoch­schu­le f. film & fern­se­hen, hoch­schu­le für musik & thea­ter), die eini­ge mehr oder weni­ger beru­fe­ne gast­red­ner ver­sam­mel­te, deren tex­te hier vor­lie­gen.

in der ein­lei­tung wen­det sich der her­aus­ge­ber grass­kamp auf für mich reich­lich befremd­li­che wei­se gegen die ver­meint­lich erstar­ken­de, „ein­fluss­rei­che neu­er schu­le“ (11) der „posi­ti­on der theo­rie­feind­lich­keit“. ich weiß nicht, ob ich das ziel rich­tig iden­ti­fi­ziert habe… aber wenn, dann scheint mir grass­kamp hier doch sehr, sehr weit zu sim­pli­fi­zie­ren. und von einem sehr aus­ge­wähl­ten, typisch kunst­ge­schicht­li­chen stand­punkt aus zu urtei­len. denn natür­lich, das wer­den die hier ange­grif­fen in der regel selbst zuge­ben, ist theo­rie­lo­sig­keit ein schwe­res man­ko. aber die fra­ge ist eben, ob sie immer so theo­rie­los sind, wie es – zuge­ge­ben – leicht den anschein hat. womit sie aber unbe­dingt recht haben, ist die tat­sa­che, dass pop sich auch dar­in von „her­kömm­li­chen“, ande­rern kul­tur­ma­ni­fes­ta­tio­nen der­art unter­schei­det, dass die übli­chen, in den kunst‑, lite­ra­tur und kul­tur­wis­sen­schaft ent­wi­ckel­ten instru­men­te der erfor­schung, die her­me­neu­ti­schen ver­fah­rung, das hier prak­ti­zier­te bemü­hen um ver­ständ­nis, nicht aus­rei­chen, den pop in sei­ner spe­zi­fi­schen form zu erfas­sen und zu ver­ste­hen. mög­lich ist, dass sie hilf­reich sein kön­nen, aber mit ihnen allein wird ein wirk­lci­hes ver­ständ­nis der pop­p­hä­no­me­ne kaum gelin­gen. dazu kommt natür­lich auch noch die schlich­te tat­sa­che, dass vie­les, was – nicht nur in mei­nem ver­ständ­nis – auch und noch pop ist, über­haupt nur zu fin­den, wahr­zu­neh­men ist, wenn man mehr oder weni­ger stark im und mit dem pop lebt. wenn das dann alles in die arbeit über den pop ein­fliesst (die selbst evtl. sogar wie­der zum pop wer­den kann…), muss man noch lan­ge nicht „urba­ner bar­bar“ sein, wie gross­kamp unter­stellt.

aber wei­ter zum rest: was sehr schnell beim lesen auf­fällt und was mich ziem­lich genervt hat: pop ist hier zunächst mal pop-art. und sonst kaum etwas. selbst die eigent­li­che pop-musik kommt erst spä­ter zu wort. von der pop­li­te­ra­tur (wel­cher auch immer) ganz zu schwei­gen, die fällt mal ein­fach so kom­plett unter den tisch… rudolf zwir­ners auf­satz „pop art in den usa“ ist denn auch ein total­aus­fall, falls man sich davon irgend eine ant­wort auf die fra­ge „was ist pop?“ erhoff­te. hier gibt es nur einen kur­zen, sub­jek­ti­ven abriss der pop-art eines zeit­ge­nos­sen. neben der pop-art noch sehr domi­nant in den meis­ten tex­ten: das krei­sen um die (un-)möglichkeit der unter­schei­dung zwi­schen „hoher“ und „nie­de­rer“ kunst (wobei pop natür­lich, ganz umstands­los und reflek­ti­ons­frei, der letz­te­ren zuge­ord­net wird).

so, wei­ter geht es mit boris groys und dem „pop-geschmack“. den ver­or­tet groys im gespür und inter­es­se für die zahl: dem pop­per gefällt, was vie­len gefällt… ist auf den ers­ten blick viel­leicht ein­leuch­tend, aber dann ins­ge­samt doch irgend­wie blöd und falsch. denn für solch einen pop-geschmack gibt es ja nur noch main­stream. und alles, was nicht main­stream ist, wäre dann kein ech­ter, rich­ti­ger, guter, … pop. nun ja, da bin ich bes­se­res von groys gewohnt. immer­hin gibt es ein paar licht­bli­cke. ein paar rich­ti­ge ein­bli­cke. z.bsp., wenn er beob­ach­tet: „in die­sem sin­ne ist der pop-geschmack eine fort­set­zung, eine fort­schrei­bung des avant­gar­dis­ti­schen geschma­ckes. der pop-geschmack kon­sti­tu­iert sich näm­lich dad­urt, dass er den kom­men­tar, d.h. die wor­te, durch zah­len ersetzt.“ (101) „die pop-sen­si­bi­li­tät ist näm­lich so kon­stru­iert, dass ihr trä­ger im pri­mä­ren akt der wahr­neh­mung eines kunst­werks die zah­len sei­ner ver­brei­tung mit wahr­nimmt, mit­fühlt, mit­denkt.“ (101f.) beim lesen die­ser pas­sa­gen kom­men mir dann doch zwei­fel – mög­li­cher­wei­se hat groys doch so unrecht gar nicht (was aber frag­lich bleibt: sei­ne aus­schließ­li­che fun­die­rung des pop-geschmacks auf den zah­len – da spielt sicher noch mehr mit…). denn kurz dar­auf heißt es sehr rich­tig: „der pop-geschmack ist […] ein reflek­tier­ter geschmack – er nimmt nicht nur das kunst­werk, son­der auch sei­nen kon­text wahr und beur­teilt bei­de gleich­zei­tig.“ (102) – beim abtip­pen fällt mir gera­de doch noch etwas deut­lich posi­ti­ves an die­sem auf­satz und dem gan­zen band auf: pop wird ohne zwei­fel als kunst (an)erkannt. selbst das ist ja heu­te nicht selbst­ver­ständ­lich… aber wei­ter zu groys: die ver­bin­dungs­li­ni­en, die er zwi­schen avant­gar­de und pop zieht, geben zu den­ken. denn die kom­men­ta­ti­ve rezep­ti­on ist nur ein teil. bei­de ver­bin­det außer­dem der ver­lust der geschich­te und der mas­sen, sowie ein signi­fi­kan­ter orts­wech­sel: „als ort der pro­fes­sio­nel­len kunst fun­giert heu­te also nicht mehr das muse­um, son­dern die sta­tis­tik.“ (105) das pro­blem frei­lich bleibt: so wahr das an sich ist, groys über­treibt in der ver­ab­so­lu­tie­rung die­ses fak­tums. des­halb mischen sich auch immer wie­der selt­sa­me und fal­sche state­ments unter den text – ein bei­spiel: „der pop-kon­for­mis­mus ist dage­gen ein glo­bal­kon­for­mis­mus – er ori­en­tiert sich an glo­ba­len infor­ma­ti­ons­flüs­sen, die ihm die infor­ma­tio­nen dar­über ver­mit­teln, was für die gro­ßen mehr­hei­ten in der gro­ßen außen­welt als ange­sagt gilt.“ (108) so weit mal dazu, das kom­men­tie­re ich jetzt mal nicht wei­ter…

auf groys folgt ein kennt­nis­rei­cher auf­satz des musik­wis­sen­schaft­lers (vom ber­li­ner insti­tut für popu­lä­re musik) peter wicke: sound­tracks. pop­mu­sik und pop-dis­kurs. immer­hin einer, der gemerkt hat, dass der begriff „pop“ nicht von der pop-art erfun­den wur­de. enjott schnei­der erzählt dage­gen in mei­nen augen viel blöd­sinn, was die rol­le und den cha­rak­ter des films angeht – aber da ken­ne ich mich kaum noch aus … lorenz engell lie­fert dage­gen eine schlüs­si­gen, inter­es­san­ten bei­trag zum tv-pop, in dem er drei prin­zi­pi­en des fern­se­hens und des­sen ent­wick­lungs­über­gän­ge mit den phä­no­men des pop kurz­schließt und zu erklä­ren ver­sucht – ein ansatz, der durch­aus charme hat. michae­le krüt­zen führt das dann in einer detail­stu­die zu mtv und deren video-music-award, das tref­fen von madon­na, spears und agui­lera im zei­chen des pop und des events, des tv und sei­nen pseu­do-events sowie den pseu­do-events zwei­ter ord­nung fort. den abschluss schließ­lich macht ulf pos­ch­ardt, hier noch kein fdp-anhän­ger, der erstaun­lich tref­fend pop als „öffent­li­ches gesicht“ zu beob­ach­ten ver­sucht, als (mög­lich­keit der) iden­ti­täts­kon­sti­tu­ti­on, wie er sie in ers­ter linie anhand von pop-vide­os nach­weist. das gan­ze unter­nimmt er v.a. vor dem hin­ter­grund der vir­tu­el­len rea­li­tät der maschi­nen, des com­pu­ters, die zur visu­el­len fäl­schung des gesichts als zei­chen der iden­ti­tät führt. damit ist natür­lich ein pro­blem offen­sicht­lich: das ver­schwin­den der iden­ti­tät, das pop revi­die­ren soll­te, ist zugleich auch ein teil des pop – als reak­ti­on auf die­ses pro­blem. „iden­ti­tät bleibt so dog­ma­tisch, als sowie­so kon­stru­iert, in der mög­lich­keits­form haf­tend.“ (254). das ist zwar ein­leuch­tend und wahr­schein­lich auch rich­tig und wahr, erklärt aber immer noch nicht: „was ist pop?“ das fra­ge­zei­chen bleibt mun­ter ….

porno-pop noch einmal

so, jetzt ist auch der rest des ban­des bewäl­tigt – mit durch­aus zwie­späl­ti­gen ein­drü­cken. aber wie soll­te es bei einem sam­mel­band auch anders sein. der anfang war ja sehr viel­ver­spre­chend, der rest aller­dings lei­der nicht immer genau­so span­nend. clau­dia gehr­ke hat einen etwas wir­ren erfah­rungs­be­richt (rot­käpp­chen und die por­no­gra­fie) bei­gesteu­ert, in dem sie von der publi­ka­ti­on „mein heim­li­ches auge“ berich­tet und den schwie­rig­keit des umgangs damit, was ins­be­son­de­re an der schwie­rig­keit einer kla­ren (juris­ti­schen) defi­ni­ti­on von por­no­gra­phie liegt. jörg met­tel­man hat in fle­sh for fan­ta­sy. das por­no-pop-for­mat dage­gen sehr schön die kon­stan­ten und vari­an­zen des por­no her­aus­ge­ar­bei­tet, ins­be­son­de­re auf theo­re­ti­scher ebe­ne recht erquick­lich. er beob­ach­tet dabei neben ande­rem vor allem den ver­lust der erre­gung, die mit dem obs­zö­nen und sei­ner über­schrei­tung ver­bun­den war. die hin­wen­dung zur kunst voll­zieht zunächst hol­ger liebs, der in spul mal vor, alter vor allem die gegen­sei­ti­ge befruch­tung von kunst und por­no­gra­fie in den blick nimmt – nicht sehr span­nend, weil nicht beson­ders viel dabei her­aus kommt. kath­rin rög­g­la ver­zwei­felt dann an ihren figu­ren, die ficken wol­len, wenn sie nicht sol­len bezie­hungs­wei­se umge­kehrt und so wei­ter… die­mar schmidt nimmt in zwi­schen den medi­en die trans­me­dia­li­tät als por­no­gra­phi­sche bewe­gung (und die por­no­gra­phie als inter­me­dia­le unter­neh­mung) mit bezug auf schnitz­lers traum­no­vel­le und kubricks anleh­nung, eyes wide shut, in den blick. das schien mir aber vor allem kuri­os, nicht ganz klar ist mir gewor­den, war­um er so dar­auf beharrt, dass inter­me­dia­li­tät ein por­no­gra­phi­sches phä­no­men sei. dem rap wen­det sich flo­ri­an wer­ner mit „por­no­gra­phy on wax“? zu. schlüs­sig unter­sucht er rap-tex­te, ins­be­son­de­re von emi­nem, auf den vor­wurf der por­no­gra­phie (ins­be­son­de­re natür­lich im zusam­men­hang mit der mut­ter­be­schimp­fung) und erkennt sie als im grun­de als auf­klä­re­ri­sche por­no­gra­phie: ankla­ge und stil­mit­tel zugleich, gefan­gen in der ambi­gui­tät des under­dogs im main­stream etc… und sven­ja flaß­pöh­ler ver­sucht mit shake your tits!, die rol­le der frau bzw. ihrer stel­lung zwi­schen mensch und sex-objekt in diver­sen schat­tie­run­gen anhand der bei­spie­le madon­na, chris­ti­na agui­lera und brit­ney spears zu beleuch­ten. aber das bleibt ziem­li­ches wischi-waschi…

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