Es dient nicht der Entschuldigung der derzeit im Namen Allahs ausgeübten Verbrechen, mögliche historische Parallelen sichtbar und auf die Gewaltpotentiale in allen Religionen aufmerksam zu machen. Aber es verhindert eine falsche, essentialistische Sicht auf den Islam, den es so wenig wie das Christentum gibt. Die muslimischen Religionskulturen in Europa sind in sich höchst vielfältig und durch ganz unterschiedliche kollektive Erfahrungen geprägt. Muslime in Kreuzberg, deren Eltern oder Großeltern einst aus der Türkei kamen, teilen nicht die traumatisierenden Erinnerungen an koloniale Fremdherrschaft, die für viele französische, noch vom Algerien-Krieg geprägte Muslime kennzeichnend sind.
Nach den Anschlägen von Paris und nun auch Brüssel ließ sich im politischen Betrieb eine Reaktion beobachten, die nur als falsches semantisches Investment bezeichnet werden kann: Staatspräsidenten, Regierungschefs und Parteivorsitzende beschworen einhellig „die Werte Europas“ oder „des Westens“, die man gegen alle terroristischen Angriffe verteidigen werde. […]
Aber mit Werte-Rhetorik ist niemandem geholfen.
„Wert“ war ursprünglich ein Begriff der ökonomischen Sprache, und seine Einwanderung in ethische Debatten und juristische Diskurse hat nur dazu geführt, die freiheitsdienliche Unterscheidung von gesetzlich kodifizierten Rechtsnormen und moralischen Verbindlichkeiten zu unterlaufen. Deshalb ist es fatal, wenn Vertreter des Rechtsstaates diesen im Kampf gegen den Terrorismus nun als eine „Wertegemeinschaft“ deuten.
für einen theologen auch fast überraschend, aber natürlich absolut richtig und ein punkt, der immer wieder gestärkt und verdeutlicht werden muss (weil er so gerne vergessen wird):
Für wirklich alle gilt allein das Recht, und deshalb sind Rechtsbrecher zu verfolgen und zu bestrafen.
My Heroic and Lazy Stand Against IFTTT | Pinboard Blog — der pinboard-gründer/betreiber maciej cegłowski erklärt, warum es seinen (übrigens sehr empfehlenswerten) service nicht mehr bei ifttt gibt. die kurzfassung: deren unverschämten, erpresserischen bedingungen für entwickler
Das Thema der „Vogue“ ist: „Langeweile“. Sowohl in den Anzeigen als auch in der Fotostrecke. „Komm Baby, stell Dich mal so hin und schau so pikiert, als würdest Du an einen völlig verkochten Grünkohl denken.“ Die Mädchen sind dünn, die Gesichter leer, die Klamotten teuer. In den Sechzigern gab es einen Dr. Oetker-Spot, in dem eine Frau am Herd steht, ein Fertiggericht zaubert und ein Sprecher sagt: „Eine Frau hat zwei Lebensfragen: Was soll ich anziehen? Und was soll ich kochen?“ Die Frauen der „Vogue“ haben sogar nur eine Lebensfrage, und selbst die macht ihnen offensichtlich keinen Spaß.
Ingeborg Bachmann: “In mir ist die Hölle los” | ZEIT ONLINE — der germanist Joseph McVeigh durfte frühe briefe von ingeborg bachmann benutzen und zitieren und ist nun sicher, dass man das werk der autorin nur biographisch verstehen kann. zum glück ist die “zeit” gegenüber solchem methodischen unsinn etwas skeptischer …
“Ich habe keine Matratzenschnüffelei betreiben wollen”, sagt Biograf McVeigh, “aber wenn man die zerstörerische Wirkung der beiden katastrophal gescheiterten Beziehungen auf das Leben von Ingeborg Bachmann nicht berücksichtigt, kann man ihr späteres Werk kaum verstehen.”
“Unabdingbare Erschütterung”, “verfallene Gemäuer”, “die Begegnung zweier Menschen im Zenit des Untergangs einer verlorenen Welt” — der Umschlagtext hält sich nicht zurück. Dabei ist Weisenfels eigentlich ein ziemlich seltsamer Roman: Zwei (ehemalige) Freunde treffen sich im Familiensitz des einen, einem verfallenden Schloss, dass gefüllt ist mit Artefakten der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte — aber nicht mit Menschen. Die beiden wandeln durch die Gemäuer und durch die Sammlungen und durch die Erinnerung an eine Welt oder eine Epoche, die nicht mehr verfügbar ist — eine Unternehmung, die ganz folgerichtig nur mit dem Tod enden kann. Es war nicht so sehr der plot, der mir schwerfiel, sondern die sehr seltsame Prosa, die Sofsky hier pflegt. Das ist ein unentwegtes Deklarien, Dozieren und Deklamieren, sowohl der Figuren als auch des Erzählers. Überhaupt die Figuren, die sind auch sehr seltsam — nämlich eigentlich nur (noch) als Maske, als Rolle oder als Platzhalter präsent und damit untote Hüllen, leblose Überreste einer einst lebendigen Welt (dem christlichen Abendland, das mit seiner Tradition und Bildung so gerne beschworen wird, aber schon lange nicht mehr lebendig ist …). Religion und ihre Anziehungskraft, aber auch ihre Ausprägungen, Praxen und Theologien spielen eine große Rolle, vor allem aber ein ganz wörtlich genommenes Leben „in“ Kulturen: Wenn hier überhaupt noch Leben ist, dann im Überrest der Kultur, nicht aber in dem, was man Welt nennen möchte.
Der Verlust der Bildung und der Kultur ist sozusagen die Grundthese, von der aus dieser Text geschrieben ist. Der kokettiert aber zugleich selbst auf allen Ebenen und aufdringlich permanent damit, mit dem Bildungswissen seiner Protagonisten bzw. deren Erzähler: Tabak, Whiskey, Renaissance-Malerei, Kunstmusik des 19. Jahrhunderts, Literatur, Enzyklopädistik, Skulpturen — alles ist hier da, präsent und wird erzählt. Man könnte auch sagen: Das ist lauter bedeutungsschwangeres Wissen-Geklingel … Denn die Idee ist schnell klar, ebenso schnell zeigen sich Längen im Text, der manchmal recht zäh daherkommt. Denn auch ihm gelingt natürlich nicht das, was im und mit dem Schloss versucht wird: Der Versuch, den ewigen Prozess des Zerfallens und Verfalls anzuhalten, den Verlust zu vermeiden: Deshalb das manische Sammeln und Rekonstruieren verlorener Bildungs- und Kulturgüter — ein Versuch, der nahezu zwangsläufig mit dem Verlust der Erinnerungen, des Selbst und des Lebens — also dem Tod — enden muss.
Mit dem “dünnen Faden” konnte Strobel mich nicht so recht begeistern. “Schnörkellose Schilderungen des mühsam unterdrückten Alptraums im Häuschen im Grünen” verspricht der Schutzumschlag. Das trifft die Erzählungen auch ziemlich genau, verschweigt aber, dass sie dabei eher fad herüberkommen — unter anderem, weil das Muster schnell erkannt ist: Es geht um einbrechende Gefahren, Drohung, Androhungen und Streit. Immer wieder wird der Alltag durch ein plötzlich über die Protagonisten herbrechendes Unheil, ein Unglück und Tragik, in der Realität des Figurenlebens oder auch nur in Gedanken, Träumen und Ahnungen, unterbrochen. Das besondere bei Strobel ist dabei, dass gerade die Momente der Erwartung des Unheils, das spürbare, aber (noch) nicht zu benennende (und damit auch nicht zu hegende) Brodeln unter der Oberfläche des gewönlichen Alltags eine große Rolle spielt. Vieles ist und bleibt dabei auffallend unspezifisch — nicht nur Ort, Raum und Zeit, sondern vor allem die Figuren selbst. Das kann man natürlich aus dem erzählten Geschehen — etwa dem Nebeneinanderleben der Paare, der ausgestellten Nicht-Kommunikation — motivieren. Das wird auch dementsprechend ganz unauffällig erzählt, in unmarkiertem Stil und unmarkierter Form. Lauter Normalität — oder eben leider oft: Mittelmaß — also. Klar, der “mühsam unterdrückte Alptraum” ist da: unter den Oberflächen brodelt es gewaltig. Aber der Text verrät das kaum, seine „schnörkellose Schilderungen“ bleiben selbst schrecklich oberflächlich und vom Geschehen oder dessen Ahnung und Ankündigung gänzlich unberührt. Wofür dann die Stilverknappung, die künstliche Kunstlosigkeit gut ist, erschließt sich mir also nicht wirklich. Alles in allem überzeugen mich diese Erzählungen also leider überhaupt nicht.
Die Sprache. Sie ist ein unzureichendes Hilfsmittel, und sie ist das einzige Hilfsmittel. Ein schönes Dilemma. (131)
Peter Neumann: geheuer. Dresden: edition azur 2014. 88 Seiten.
Eine maritime Gedichtsammlung. Das Meer mit seiner Bewegung, der Grenze zwischen Land und Wasser, der (möglichen) Fremde und den unbeherrschten und unbeherrschbaren Gewalten spielt hier — der Titel weist darauf hin und das Titel“bild” unterstützt das noch — eine große Rolle. Sind das also Naturgedichte? Nunja, Natur taucht hier eher und vorrangig als Impuls für Wahrnehmung des Menschen und für Poesie auf, sie steht nicht für sich selbst und wird auch nicht so wahrgenommen und beschrieben. Neumanns Gedichte eröffnen oft und gerne einen großen Raum (der Imagination), ohne den auch nur annäherungsweise auszuloten und ohne das auch überhaupt zu wollen. Gewissermaßen wird eine Tür geöffnet, der Blick des Lesers in den Raum gewiesen — und dann alleine gelassen. Schön gemacht und deutlich zeigt das Gedicht “buddelschiff” dieses Verfahren:
das gefühl einer langen reise aufgeklappte masten und takelage, das englische
schiffstau zum reißen gespannt der wind humpelt auf eingeschlafenen beinen
durch die schmale öffnung im flaschenhals flaut ab, ein helles pfeifen (55)
Typisch für Neumanns Gedichte ist außerdem ihre Kürze. Immer wieder sind sie durch das Anreißen von solchen Augenblicken der (erkenntnishaften) Wahrnehmung, die dann aber nicht weitergeführt und ausgearbeitet wird, gekennzeichnet. Selten sind sie länger als 10/12 Verse. Formal scheinen sie mir vor allem dem Fließen, dem Flow verpflichtet, ohne erkennbare Regelhaftigkeit. Die Gedichte stehen zwar gerne in Gruppen von drei Versen, aber einen Grund erkenne ich dafür nicht …
Durch die inhaltliche und formale Kürze — wenn man das mal so nennen mag — kommt es manchmal zur Überfülle der visuellen und sprachlichen Bilder, die angehäuft, nebeinander gesetzt werden, aber im Text kaum beziehungen zueinander haben — außer eben dem vor allem als (ausgesparten) auslösenden Moment der Erinnerung an ein Gefühl, eine Empfindung, eine beobachtende Wahrnehmung. Das (fast) rein bildliche Sprechen wirkt dabei für mich etwas übersättigend — man darf wohl nicht zu viel am Stück lesen, dann wird die kunstvolle Schönheit dieser Gedichte schnell etwas schal. Aber es lohnt sich, immer wieder zurück zu kommen.
Jörg Döring, Felix Römer, Rolf Seubert: Alfred Andersch desertiert. Fahnenflucht und Literatur (1944–1952). Berlin: Verbrecher 2015. 277 Seiten.
Eine schöne Gemeinschaftsarbeit ist dieses Buch über Alfred Andersch, seine letzten Tage als Soldat im Zweiten Weltkrieg, seine Gefangenschaft und vor allem die literarische — oder eben autobiographische? — Verarbeitung dessen in mehreren Anläufen in der Nachkriegszeit, mit der sich Andersch auch und gerade im öffentlichen Diskurs sehr eindeutig und nachhaltig positionierte. Eine Arbeit des biographisches Forschens also. Aber nur bedingt biographisch, denn die drei Autoren betonen wiederholt, dass es nicht primär darum geht, die biographische Dimension fiktionaler Texte in den Blick zu nehmen (das wäre ja auch unsinning und wenig hilfreich), sondern darum, die spezifische Situation von Desertion, Kriegsende und Nachkriegszeit bzw. vor allem ihre Deutung in der Retrospektive zu untersuchen. Da Andersch die autobiographische Dimension der “Kirschen der Freiheit” stark forciert — und damit in der Lektüre und Diskussion des Textes auch erfolreich ist -, lässt sich das vertreten. Zumal die drei Autoren aus Germanistik und Geschichtswissenschaft sich mit weit(er)gehenden Deutungen und Spekulationen zurückhalten, sondern einen starken Fokus auf die Rekonstruktion der Ereignisse um Alfred Andersch im Krieg in Italien, um die (Möglichkeit der) Niederschrift und literarischen Bearbeitung solcher Erlebnisse in der Nachkriegszeit richten. Das ist, auch wenn ich mich für Andersch nur am Rande interessiere, gerade in der Vereinigung verschiedener fachlicher Perspektiven, sehr interessant und aufschlussreich — und trotz der teilweise sehr akribischen Aufarbeitung der militärhistorischen und werkstrategischen Zusammenhänge auch sehr gut — zu lesen.
Jules Renard: Das Leben wird überschätzt.Berlin: Matthes & Seitz 2015. 72 Seiten.
Diese ganz kleine — aber auch ausgesprochen feine — Auswahl aus dem “Journal” Jules Renards hat der inzwischen leider verstorbene Henning Ritter besorgt und auch selbst übersetzt, der Verlag Matthes & Seitz hat sie in seiner überaus empfehlenswerten Reihe “Fröhliche Wissenschaft” nun veröffentlicht. Das hier vorgelegte ist zwar chronologisch — von 1890 bis 1910 — an- und zugeordnet, aber dennoch kein eigentliches Tagebuch, sondern eher eine Notate-Sammlung (Ritter selbst hat sein ähnliches Unternehmen “Notizhefte” genannt). Man könnte auch sagen: Das sind Extrem-Aphorismen. (Zu überlegen wäre freilich, ob das im Original auch so ist, oder ob das erst durch die darauf abzielende Auswahl des Herausgebers so erscheint.) Denn was Ritter ausgewählt hat und hier veröffentlicht wird, das sind lauter kleine und knackige, treffende und totale Sätze. Das hat natürlich immer wieder ein Hang zum Apodiktischen, beruht aber andererseits auf einer genauen Beobachtung der Welt und ihrer Kunst, die sich mit einer ausgefeilten Präzision der genauesten Formulierung paart.
Ich denke nicht nach: Ich schaue hin und lasse die Dinge meine Augen berühren. (13)
Oft geht es in den Miniatur-Einträgen um die Literatur, noch mehr um das Schreiben an sich, aber auch um die Felder der Kritik und des Journalismus — lauter Zeitlosigkeiten also. Das Ich, sein selbst und seine Tugenden wird dabei genauso unbarmherzig und oft hart beobachtet wie die anderen um ihn und um die Jahrhundertwende herum. Da kann ich sehr viel Zustimmungsfähiges finden — man nickt dann beim Lesen immer so schön mit dem Kopf … -, auch pointiert Überraschendes, aber auch Fragliches. Gerade in seiner Haltung zur Welt, die vor allem aus seiner Absolutierung seiner Individualität resultiert, sehe ich nicht nur Vorbildhaftes.
Das Recht eines Kritikers ist es, seine Grundsätze einen nach dem anderen zu verleugnen, seine Pflicht ist es, keine Überzeugung zu haben. (5) Was ist das Leben, wenn es nur mit Augen gesehen wird, die nicht Augen von Dichtern sind? (22)
außerdem unter anderem gelesen:
Alexander Osang: Im nächsten Leben. Reportagen und Porträts. Berlin: Ch. Links 2010. 254 Seiten
Heinrich Detering: Vom Zählen der Silben. Über das lyrische Handwerk. München: Stiftung Lyrik Kabinett 2009. 28 Seiten.
Hans-Werner Richter: Die Geschlagenen. München: Kurt Desch 1949. 459 Seiten.
Siri Hustvedt: The Blazing World. London: Sceptre 2014. 379 Seiten.
Jürgen Kaube: Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems. Springe: zu Klampen 2015 (Zu Klampen Essay). 174 Seiten.
Isabella Straub: Das Fest des Windrads. Berlin: Blumenbar 2015. 348 Seiten.
Daniel Martin Feige: Philosophie des Jazz. Berlin: Suhrkamp 2014. 142 Seiten.
Thomas Hecken: Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF. Bielefeld: Transcript 2006. 158 Seiten.
Harald Welzer, Dana Giesecke, Luise Tremel (Hrsg.): FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16. Geschichten vom guten Umgang mit der Welt. Schwerpunkt Material. Frankfurt am Main: Fischer 2014. 544 Seiten.
Benjamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen. Berlin: Verbrecher 2015. 107 Seiten.
Die digitale Edition der Tagebücher des reformierten Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg (1599–1656) aus dem Zeitraum von 1621 bis 1656 erschließt einen quantitativ wie qualitativ ganz einzigartigen Brennspiegel der deutschen und europäischen Geschichte sowie der vielfältigsten Diskurse während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Darüber hinaus weist die Quelle einen außergewöhnlich hohen Anteil an verbalisierter zeitgenössischer Subjektivität auf, der dem Text stellenweise sogar literarische Qualität verleiht. Die transdisziplinäre Bedeutung des Werkes bettet sich in eine Vielzahl von Forschungsinteressen und ‑kontexten ein. Dazu zählen nicht nur die jüngsten Untersuchungen zur klassischen Politik- und Militärgeschichte, zu frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen, zur Sozial‑, Alltags- und Geschlechtergeschichte, zur Konfessionalisierung, zu verschiedenen Aspekten des Dreißigjährigen Krieges, zur Hof- und Adelsforschung oder zur Sprach‑, Literatur- und allgemeinen Kulturgeschichte, sondern auch zu Themen wie der Geschichte der Emotionen und des Traumes in jener Epoche. Als eine den gegenwärtigen wissenschaftlichen Standards entsprechende digitale Edition wird sie den verschiedensten Forschungsperspektiven eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten bieten können. Das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht unübertroffene, im Landeshauptarchiv Dessau-Roßlau aufbewahrte Diarium besteht aus 23 Bänden mit ungefähr 17.400 größtenteils eigenhändig in deutscher (ca. 87%), französischer (ca. 11%), italienischer (ca. 1%), lateinischer, spanischer und niederländischer Sprache beschriebenen Seiten.
das ist ein ziemlich aufwendiges, großes und langes projekt:
Das auf 12 Jahre angelegte DFG-Projekt beginnt mit einer dreijährigen Pilotphase, innerhalb welcher zunächst die knapp 1.500 Seiten umfassende Periode vom Januar 1635 bis August 1637 transkribiert und veröffentlicht wird. Deren besonders dichte und vielseitige Niederschriften stellen ein geeignetes Feld zur Bewährung und Justierung der editorischen Grundsatzentscheidungen hinsichtlich der Wiedergabe und Kommentierungstiefe der Texte in den Grenzen des zeitlich Möglichen dar. Außerdem versprechen sie einen Ertrag, der paradigmatisch die wissenschaftliche Bedeutung des gesamten Fürstentagebuches zeigt.
Verschollene Bücher zum Ersten Weltkrieg entdeckt — georg giersberg erzählt in der faz (etwas wirr) die geschichte der offiziösen wirtschaftsgeschichte des ersten weltkrieges aus den zwischenkriegsjahren nach, die offenbar so brisant war, dass die veröffentlichung damals nach dem druck untersagt wurde und die entsprechenden studien (fast) verschwunden sind
bruckner-online.at ist ein umfangreich angelegtes Anton Bruckner-Internetportal (Webarchiv), in dem neben der elektronischen Dokumentation handschriftlicher Quellen auch Kompositionen, relevante Personen und Orte enthalten sind. Zudem werden von allen Handschriften, Erstdrucken und der Alten Gesamtausgabe vollständige Digitalisate zur Verfügung gestellt.
David Garrett: Habt mich bitte lieb! | ZEIT ONLINE — julia spinola hat sich david garret mit den brahmssonaten angehört und war nicht begeistert. deshalb schreibt sie einen erstklassigen verriss:
David Garrett will endlich wieder als seriöser Musiker verstanden werden und geht mit den Violinsonaten von Johannes Brahms auf Tournee
sehr amüsant auch die leserinnenstimmen — unter den fanboys und ‑girls finden sich so ziemlich alle pseudoargumente gegen kritik, die seit jahrhunderten widerlegt sind … (und viel hass auf jemanden, der ihr idol nicht vergöttert) — sehr amüsant …
Vom Mythos der technischen Institution « Michalis Pantelouris — michalis pantelouris liefert ein paar hintergründe zu legitimation, zielen und problemen (u.a. demokratietheoretische, von den ökonomischen ganz abgesehen) der teilnehmer der “troika”:
Politische Institutionen sind niemals einfach technisch, aber die hierzulande weitgehend unkritische Darstellung der Troika-Institutionen als solche, die einfach nur die Einhaltung von bereits ausgehandelten Verträgen überwachen sorgt dafür, dass jeder ihr Widersprechende automatisch als Vertragsbrecher wahrgenommen werden muss. Das ist es, was viele Medien mit der neuen griechischen Regierung machen: Um eine Diskussion um ihre Politik zu vermeiden, ziehen sie die Diskussion ins Unpolitische, ins Technische: Verträge sind einzuhalten; Die Regierung ist inkompetent (was man politisch ja kaum sein kann); Sie wollen “Reformen zurückdrehen”. Die Wahrheit ist eine andere: Die Troika hat eine Politik vertreten, eine Ideologie, die in Wahrheit nirgends in Europa eine Mehrheit hat. Es gibt auch in Deutschland keine neoliberale Mehrheit. Es sind zwei unterschiedliche Dinge, ob man auf die Einhaltung von Verträgen pocht, oder ob man einem anderen Land eine Politik aufzwingt, und dann eine, die ganz explizit von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Mit dem Mythos der rein technischen Eingriffe wird die Abschaffung der Demokratie verschleiert.
Grabungen in der St. Johanniskirche in Mainz — markus schug über die spektakulären ausgrabungen unter der johanniskirche in mainz, wo schon zu merowinigischer zeit eine große kirche stand …
Petitionen: Petition 58168 — eine wunderbare petition (die sicher erfolglos bleiben wird, aber trotzdem — im sinne der bewusstseinsbildung — notwendig ist): Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass homöopathische Behandlungsmethoden nicht mehr als Satzungsleistung von gesetzlichen Krankenkassen gezahlt werden dürfen. — das ist übrigens schon der gesamte text der petition.
Einführung in den Fefismus. | H I E R — mspr0 erklärt fefe (und den “fefismus”) und rechnet gleicht mit ihm ab — und verbalisiert damit ziemlich genau mein eigenes unbehagen mit fefe …
Fefe ist mehr als der Mensch, es ist mehr als das Blog. Zusammen mit seinem Lesermob ist es eine Hassmaschine. Diese Shitstormkultur gegen alles, was ihnen Fremd ist, ist kaum noch ohne Godwingepulle zu beschreiben.[…] Die Nerdszene leidet extrem unter dem Fefismus. Es wird Zeit, dass es in ihr zu einer Form der Selbstaufklärung kommt. Ne…
Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Berlin: List 2012. 236 Seiten
Naja, das war keine so lohnende Lektüre … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Vertrauenspunkte zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teilweise blöd: Ein junges Mädchen zieht kurz vor den Sommerferien auf dem Bauernhof der Familie ihres älteren Freundes ein, vernachlässigt die Schule und gibt sich lieber einer seltsamen geheim gehaltenen Beziehung zu dem mehr als doppelt so alten Nachbarbauern hin, die vor allem auf ihrer Ausnutzung und ihrem Missbrauch (körperlich, sexuell und psychisch) beruht und natürlich tragisch enden muss … Das Setting im Sommer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Grenze ist auch nicht so spannend, gibt aber Gelegenheit, ein bisschen (freilich nur wenig) Politik und Geschichte einzuflechten — und ist natürlich ein Spiegel der Figur Maria: In der Zwischenzeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwachsene — spiegelt sich das Land zwischen DDR und BRD … Aber da die Figuren alle reichlich blass bleiben, von der Erzählerin über ihre Restfamilie bis zu Johannes und Henner, kann sich da sowieso kaum etwas entfalten. Das merkt man sehr deutlich an der mühsam inszenierten Intertextualität: Maria wird gerne als begeisterte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monatelang an Dostojewskis Die Brüder Karamasow herum, was natürlich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lektüre hier immer ausschließlich eine identifikatorische …). Auch die Komposition von Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist nicht weiter bemerkenswert, eher kleinteilig angelegt, mit Schwächen in der Zeitgestaltung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschenbuch (ganze zwei Seiten vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhnlich ist.
alles in allem die übersteigerten Gefühle einer Siebzehnjährigen in den Wirrungen einer unruhigen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)
Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Wien, München: Fritz Molden 1966. 419 Seiten
Eine schöne Idee der kontrafaktischen Geschichte: NS-Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen und sich die halbe Welt untertan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel ersetzt — oder ist das ein Mord und Staatsstreich? Die entsprechenden Vermutungen kursieren und geben der Handlung im gleichzeitigen Bürgerkrieg und dem durch die beiden Großmächte entfesselten atomaren Krieg ordentliche Verwicklungen und Handlungsantrieb. Dazwischen treibt Höllriegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der verschwörungstechnisch in die große Politik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Figur: wenig Ahnung, dafür aber viel Situationsgeschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit seiner Liebe bzw. seinem Begehren nach der (scheinbar) idealen (in ideologischer, d.h. rassentypologischer Sicht), aber unter normalen Umständen unerreichbaren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desillusionierend im Tod — allerdings nicht durch Verstrahlung (das hätte noch etwas gedauert), sondern im Gefecht. Schön an Basils Roman ist die konsequente Weiterführung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ideologie mit ihren Auswüchen, den Gruppen, dem Einheitswahn, der unerschöpflichen Kategorisierungssucht etc. Insgesamt leidet das Buch aber daran, dass es diese kontrafaktische Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Handlungen sprechen lässt. Wunderbar sprechend sind dagegen die vielen, vielen Namen … Jedenfalls eine durchaus unterhaltsame Lektüre.
Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hatte seinen Meldegänger zum großen Rapport nach Walhall gerufen. (50)
Jürgen Buchmann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des ExterThals, nach denen Diariis Seiner Hoch Ehrwürden Herren Martinus Oestermann, weiland Pfarrer an St. Jakobi zu Almena. Leipzig: Reinecke & Voß 2014. 46 Seiten
Eine wunderbare Spielerei ist dieses kleine, feine Büchlein (schon die ISBN: in römischen Ziffern, eine echte Fleißarbeit …), eine nette Camouflage, echtes Schelmenstück (der Autor scheint ein in der Wolle getränkte Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philologische Fantasy (der Bezug auf Tolkien taucht sogar im Vorwort auf), nur in die Vergangenheit verlegt: Es handelt sich um den (fiktiven) Bericht eines gelehrten Landpfarrers, der von einer Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekannt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Morphologie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist eingebettet und kombiniert mit dem Tagebuch der „Entdeckung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Kriminalfall des Verschwindens sowohl des Pfarrers als auch seiner Informantin (ein Wechseln ins Elfenreich liegt ganz märchentypisch nahe, weil keine Leiche gefunden wird …). Leider fehlt ausgerechnet die Lexik der Elfensprache in den “Aufzeichnungen”, so dass die Fragmente, die „Oestermann“ „überliefert“, dummerweise unverständlich bleiben (aber wer weiß, vielleicht haben sie ja sogar eine Bedeutung? — Das wäre eine schöne Aufgabe für einen Computer mit einem findigen Programmierer …). Das ganze ist von Buchmann verflixt geschickt vorgetäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder parodiert worden. Von dem Drumherum ist allerdings nicht alles gelogen — das „Gelehrten-Lexicon“ von Jöcher z.B., aus dem zitiert wird, gibt es durchaus — allerdings ohne den hier abgedruckten Eintrag zu Oestermann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seiten beanspruchen die “überlieferten” Texte samt editorischen Vorworten und Anhängen von dem kleinen Leipziger Dichter-Verlag Reinecke & Voß sehr schön herausgebracht worden, mit angenehm passendem Satz und schönen Schriften.
Wir fassen die Lettern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)
Ulf Stolterfoht: Das deutsche Dichterabzeichen. Leipzig: Reinecke & Voß 2012. 49 Seiten
Und gleich noch ein schmales Bändchen von Reinecke & Voss, den Hörspieltext Das deutsche Dichterabzeichen. des großen Lyrikers Ulf Stolterfoht. Dichtung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reguliertes, entbehrungsreiches Handwerk inszeniert (ein bisschen wie eine moderne Variante der Meistersinger …), das ist ganz nett ausgedacht. Zugleich ist es aber auch noch eine “Systematik“ der Lyrik mit verschiedenen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:
Wildtexte, die noch vor Zeiten weite Teile Europas besiedelten, haben sich mittlerweile den immer spezielleren Anforderungsprofilen unterworfen. (17)
Weiter geht es im belehrenden Gespräch über die Dichter-Ausbildung, also die handwerkliche Komponente des Dichtens. Weiteres, ganz wichtiges Thema: Die kompetitive Komponente des Dichtens, die Lesungen und die Wettbewerbe. Das führt Stolterfoht als Zirkus vor, als eine Art Dressur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possierlich, gut für die Unterhaltung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und vergleichende Komponente der Dichtung übergestülpt wird, ist das natürlich — daraus macht der Text kein großes Geheimnis — eine Parabel auf den deutschen Literaturbetrieb der Gegenwart. Aber eine — ganz wie es das Thema verlangt — unterhaltende, in der sich durchaus — schließlich ist Stolterfoht selbst ein intelligenter Teilnehmer — wahre und treffende Beobachtungen finden:
Im Zeitalter hoch entwickelter Prosa hat das Gedicht an Bedeutung verloren. in dem Maße aber, in dem es aus seiner natürlichen Umgebung verschwindet, wächst seine Beliebtheit als domestizierter Wettbewerbstext. (7)
Schön auch kurz vor Schluss:
Etwas ganz besonderes verbirgt sich hinter der Bezeichnung „Vielseitigkeitsprüfung“: Der Dreikampf nämlich aus Lyrik, lyrischer Übersetzung und Poetologie — das alles an drei aufeinander folgenden Tagen. (40)
Mit diesem Buch habe ich mir Kempowski verleidet, das ist zum Abgewöhnen … Hamit — die dialektale Variante von “Heimat” — ist ein Tagebuch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kempowski heißt das: Er kann wieder Rostock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingekerkert war. Weitere Themen des Tagebuchs: Die Medien — wie sie über Politik und über ihn berichten -, die Fertigstellung von Alkor, Zwistigkeiten, Besuche etc. Dazwischen taucht noch die Sammlung von Tagebüchern und Erinnerungen anderer Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Politik der Gegenwart spielt natürlich eine Rolle, gerade hinsichtlich des Vereinigungsprozesses. Das ist aber auch der Bereich, wo Kempowski vor allem seinen Animositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und wenigen anderen) hat niemand je etwas kapiert, sehen alle die Widersprüche und Probleme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tagebuch, es ist mindestens zwei Mal überarbeitet (und damit endgültig literarisiert) worden. Aber auch die Anmerkungen aus den 2000ern verstärken die Tendenz der Besserwisserei noch lassen ihn als den einzigen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen einfach nicht erreichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressentiments gegen so ziemlich alle und jeden (mit Ausnahme vielleicht bestimmter Bereiche der Vergangenheit). Und eine große Eitelkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Literaturbetrieb, die Medien und die Kritik, aber auch sein Verlag, alle verkennen seine Genialität und seine Leistungen. Dabei ist er doch unersetzlich, wie er ganz typisch bescheiden festhält:
Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschichten zurück. (284)
Was würden wir Armen also nur ohne ihn tun!
Mir war der Kempowski, der sich hier zeigt, jedenfalls ausgesprochen unsympathisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Verdienst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschwert er sich immer wieder darüber, dass er Restaurantrechnungen bezahlen muss/soll: total ichzentriert eben, der Schreiber dieser Seiten, der sich vor allem durch seine Kauzigkeiten — wie die total kontingent scheinende Ablehnung der Worte „Akzeptanz“ und „Dirigat“ (329) — auszeichnet.
Wenn niemand eine Biographie über mich schreibt, tue ich es eben selbst. (177)
Jürg Halter: Wir fürchten das Ende der Musik. Gedichte. Göttingen: Wallstein 2014. 72 Seiten
“Für sich” steht als Widmung in diesem Gedichtband. Und das stimmt einerseits, andererseits aber auch überhaupt nicht. Zwar stehen die Gedichte erst einmal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber andererseits bleiben sie auch gerade nicht “für sich”, denn Halter geizt nicht mit intertextuellen Anspielungen und Verweisen. Gerade die Musik spielt da durchaus eine große Rolle. Und dennoch: Man muss diese Intertextualitäten nicht erkennen, man muss ihnen schon gar nicht nachgehen (obwohl das durchaus spannend sein könnte, das systematisch zu tun), um die Lyrik Halters verstehen zu können. Oder zumindest glauben zu können, etwas verstanden zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie geradezu erzählend, ihre Metaphern bleiben leicht nachvollziehbar, die Form klar und übersichtlich. Manchmal wirkt das mit dem lockeren Sprachduktus, dem leichten Ton mir aber auch etwas zu plätschernd, zu prosa-nah, zu wenig formbestimmt für Lyrik. Doch gibt es durchaus schöne und spannende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Verwurzelung Halters und Tradition und Intertextualität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kultur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anregendes Spiel mit sich selbst immer wieder zu beobachten, die Selbstreflextion des Lyrikers und des Gedichtes zu erkennen. Interessant ist auch das immer wieder auftauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Trennende von Vergangenheit und Gegenwart abzielt, sondern auf den Übergang, die fließende Entwicklung: Vom Holozän bis zum Jetzt und dem Augenblick sind einzelnen Momente kaum zu fassen und zu bestimmen:
Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)
Nicht alles ist sprachlich oder inhaltlich sehr stark, gerade im Abschnitt IV („O, aufgeklärtes Leben, unsere Droge!“ überschrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefunden zu haben. Die Digital-Skepsis in „Hypnose“ ist zum Beispiel ziemlich oberflächlich und billig. Dazwischen gibt es aber immmer wieder schöne Momente, die das Lesen dennoch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wiederholende Szene“:
Die sich leerenden Straßen an einem Sommerabend in einer kleinen Stadt. Das Rücklicht des letzten Busses, ein leichter Wind, der geht. Im Ohr ein Lied über das Ende einer Freundschaft.
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin: Rowohlt 2013. 447 Seiten.
Das Blog von Wolfgang Herrndorf, eben “Arbeit und Struktur”, habe ich erst recht spät wahrgenommen und dann auch immer etwas gefremdelt. Hier, in seiner Ganzheit, wirkt das sehr anders. Und jetzt ist Herrndorfs Weblog “Arbeit und Struktur” wirklich so großartig, wie es viele Rezensenten beschreiben. Aber nicht, weil es so besonders direkt und “authentisch” ist (das ist es nicht, es ist Literatur und sorgfältig bearbeitet), sondern weil es den Eindruck von Ehrlichkeit und skrutinöser Selbstbefragung vermitteln kann — gerade in den schwierigen Situationen, z.B. dem Empfang der Diagnose, den Berechnungen der verbleibenden Lebenszeit. Und weil es schonungslos die Schwierigkeiten recht unmittelbar darstellt. Etwa auch die Verzweiflung, dass es in Deutschland kaum möglich ist, als todkranker Mensch sein Lebensende wirklich selbst zu bestimmen. Schon früh tauchen die Überlegungen zu einer “Exitstrategie” (79) auf. Deutlich merkt man aber auch einen Wandel in den drei Jahren: vom lockeren (beinahe …) Anfang, als Herrndorf sich vor allem in die Arbeit (an Tschick und Sand) flüchtet, hin zum bitteren, harten Ende. Das manifestiert sich auch in der Sprache, die dichter und härter, ja kantiger wird. Natürlich geht es hier oft um die Krankheit, den Hirntumor (die “Raumforderung”), aber nicht nur — er beschreibt auch die kleinen Siege des Alltags und die Segnungen der Arbeit, die poetischen Gedanken: “Arbeit und Struktur” dient auch als Form der Therapie, die manchmal selbst etwas manisch wird, manchmal aber auch nur Pflicht ist; ist aber zugleich auch eine poetische Arbeit mit den entsprechenden Folgen.
Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus. Im Überschwang spontaner Selbstdramatisierung erkennbar falsch und ungenau Beschriebenes wird oft erst im Nachhinein neu beschrieben. (292)
Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt. (401)
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahnsinn I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012 (1983). 153 Seiten.
Den Klassiker der Diskurstheorie habe ich jetzt endlich auch mal gelesen — nicht so sehr um des Themas, also der Untersuchung der Erzählung der Befreiung der Sexualität, willen, sondern der Methode willen. Foucault zeigt ja hier, wie Machtstrukturen in Diskursen und Dispositiven sich realisieren, hier am Beispiel der Sexualität und der Entwicklung des Sprechens über sie, also der Regulierung von Sexualität in der Neuzeit Europas. Insbesondere die Ubiquität von Macht(strukturen) ist entscheidene, die auch nicht irgendwie zentral gesteuert sind (und gegenteilige Ergebnisse haben können: “Ironie dieses Dispositivs: es macht uns glauben, daß es darin um unsere ‚Befreiung‘ geht.” (153)).
Entscheidend ist hier ja Foucaults neuer Begriff von Macht, der über den Diskurs & nichtdiskursive Formationen geprägt ist. Dazu noch die Idee der Dispositive als Sammlung von Umsetzungsstrategien, die über Diskurse hinaus gehen und z.B. hier auch pädagogische oder architektonische Programme umfasst — das ergibt die Beobachtung der Macht von “unten”, die im Geständnis der Sexualität Verhaltensweisen und Ordnungen der Gesellschaft aushandelt.
Mara Genschel: Referenzfläche #3.
Dieses kleine, nur bei der Autorin selbst in limitierter Auflage zu bekommende Heft ist ein einzigartiges, großes, umfassendes Spiel mit Worten und Texten und Bedeutungen und Literatur oder “Literatur”: Zwischen Cut-Up, Montage, experimentell-avantgardistischer Lyrik, Ready-Mades und wahrscheinlich noch einem Dutzend anderer Künste vagabundieren die sprachspielerischen Text‑, Sprach‑, und Wortfetzen, die sich gegenseitig ergänzen, permutieren und variieren. Einige davon sind wirklich im wahrsten Sinne des Wortes Fetzen: Ausrisse aus anderen Texte, aus journalistischen oder handschriftlich-privaten Erzeugnissen, die hier montiert und geklebt sind. Manches hinterlässt einfach Ratlosigkeit, manches ruft ein amüsantes Augenbrauenheben hervor — und manche Seite begeistert einfach. Ob das Scharlatanerie oder Genialität ist — keine Ahnung, ehrlich gesagt. Langweilig ist es aber auf jeden Fall nicht.
Peter Handke: Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog. Berlin: Suhrkamp 2012. 70 Seiten.
Ich habe oft solch eine Lust, zu erzählen, vor allem diese Erfahrung — diese Geschichte. Aber sowie ich bedrängt werde mit ‚Erzähl!‘: Vorbei der Schwung. (9)
Ein karges Stück, das allein von seiner Sprache lebt: “Ein Mann” und “Eine Frau” sitzen sich gegenüber und führen einen Dialog. Nun ja, sie reden beide, aber nicht immer miteinander. Offenbar gibt es vorher vereinbarte Regeln und Fragen, deren Verstöße manchmal moniert werden. Es geht um viel — um die Geschichte und Geschichten, ums Erzählen und die Erinnerung. Aber auch um Licht und Schatten, Anziehung, Geborgenheit und Entfremdung oder Ernüchterung, um Begehren und Liebe. Dahinter steht ein spielerisch-erzählerisch-tastendes Ausloten der Beziehung(smöglichkeiten) zwischen Mann und Frau. Das Ganze — es sind ja nur wenige Seiten — ist poetisiert bis zum geht nicht mehr. Genau darin aber ist es schön!
Zum Glück ist das hier zwischen uns beiden kein Drama. Nichts als ein Sommerdialog. (43)
Laß uns hier schweigen von Liebe. Höchsten vielleicht ein bißchen Melancholie im November.(49)
Mord: Der Paragraf | ZEIT ONLINE — Niedrige Beweggründe sollten kein Maßstab mehr sein Der Mord-Paragraf des Strafgesetzbuches muss dringend überarbeitet werden. Beileibe nicht nur, weil er von Nazi-Juristen formuliert wurde.
Archaeology in Greece Online — An indispensible tool for researchers in all disciplines who wish to learn about the latest archaeological discoveries in Greece and Cyprus, Archaeology in Greece Online/Chronique des fouilles en ligne is a richly illustrated topographical database with a mapping feature to locate field projects within sites and regions.
Es ist eine aktive Welt und es kommt darauf an, wie man spricht. Es ist doch ganz egal, wovon man spricht, Hauptsache, es wird anständig erzählt.
Die Sprache ist ein lebendiges Ding und nicht etwas, was schon festgelegt ist. Was man übrigens auch sehen kann, wenn die Kleinlebendigen kommen, die kleinen Kinder, wenn sie die Sprache nachbilden wollen und Vor- und Nachsilben ausprobieren.
Und natürlich, ganz zentral:
Die Sprache lebt, wie gesagt. Es ist Leben, konkret, nicht Spielerei.
(Die Fragen von Dorothea von Törne kommen mir allerdings durchaus seltsam vor, wie hingeschmissene Brocken, die warten, ob Erb irgendwie darauf reagieren mag …
The war diaries of Dieter Finzen in both world wars: Ende — Das Tagebuch von Dieter Finzen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ist vollständig online — mit dem 23. Oktober 1940 enden die Eintragungen, und damit ist auch das Blog mit den zeitversetzten Veröffentlichungen seiner Tageseinträge zu einem Ende gekommen. Spannend ist die Lektüre trotzdem …
die Anzahl der Romane, die mittlerweile von Spiegel-Redakteuren neben ihrem Job verfasst werden, korreliert auffällig mit dem Qualitätsverlust im Blatt.
BMW i3: Carsharing bestimmt das Autofahren von morgen — SPIEGEL ONLINE — Margret Hucko interviewt für den Spiegel den Verkehrsplaner Konrad Rothfuchs, der halbwegs optimistisch ist, dass die Situation in den Städten sich in nächster Zeit doch allmählich ändern wird — nicht so sehr aus ökologischen oder ökonomischen Gründen, sondern weil Zeit und Raum knapper werden:
aber schauen Sie mal mit welcher Selbstverständlichkeit die Autos die Straßen dominieren. Es ist ja nicht nur Raum weg. Autos stellen ein großes Unsicherheitsproblem dar […]
Die derzeit noch relativ hohe Durchschnittsgeschwindigkeit in deutschen Städten sinkt weiter kontinuierlich. Damit wird ein Umstieg oder ein Rückschritt aufs Auto eher unwahrscheinlich. Weniger der ökologische Gedanke veranlasst uns, Bus und Bahn zu nehmen. Vielmehr zählt der Faktor Zeit. […] Dem öffentlichen Nahverkehr gehört die Zukunft.
Eigentlich hat der alte Affe Männlichkeit nur Angst. Wenn er ein Mann wäre, wüsste er, dass das in Ordnung ist. Aber so wird er manchmal ziemlich fies. Dann sagt er Sachen wie “Feminismus ist hasserfüllt und verhasst – lasst ihn uns töten!” und merkt nicht einmal, wie sehr er sich damit entlarvt. Denn spätestens dann weiß man ganz genau, wie man mit ihm umzugehen hat: Gib dem Affen keinen Zucker!/
„Am Anfang bekam die ganze Gemeinde mit, wenn wir Metallrahmen herstellten“, erzählt Hollants. „Die Maschine brauchte so viel Spannung, dass immer kurz das Licht ausging, wenn wir sie eingeschaltet haben.“
Tagebuchseiten von Hitlers Chef-Ideologen Rosenberg gefunden — Süddeutsche.de — Offenbar sind weitere Teile des Tagebuchs von Alfred Rosenberg aufgetaucht — aber nichts genaues weiß man nicht:
Nun, fast 67 Jahre nach Rosenbergs Hinrichtung, tauchen weitere Papiere auf: Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, liegen dem United Staates Holocaust Memorial Museum 400 Seiten vor. Möglicherweise stammen die nun aufgetauchten Papiere von Kempner oder aus dem Bestand von Kempners Sekretär. Es soll sich um eine lose Sammlung von Tagebuchnotizen handeln, die Rosenberg zwischen 1936 und 1944 abgefasst hat.
Venedig — Venice, as rendered by Ottoman admiral and cartographer Piri Reis in his Kitab‑i Bahriye, a book of portolan charts and sailing directions produced in the early 16th century
Das Abendland geht in Deutschland immer sofort und irrsinnig schnell unter, wenn man eine Neuerung wagt, etwas gegen das Gewohnheitsrecht unternimmt.
Gerade finde ich dieses spannende Projekt: Das Kriegstagebuch des Soldaten Dieter Finzen wid gerade (zeitversetzt) als Blog veröffentlicht (von dem Kriegstagebuch-Archiv). Zu Finzen, deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg, heißt es dort:
In Mori (Stockelsdorf) bei Lübeck aufgewachsen, habe ich nach Absolvieren des Abiturs meinen Militärdienst im FR 86 angetreten. Dort werde ich seit über einem Jahr in der Fernsprechabteilung eingesetzt. In diesem Blog veröffentliche ich mein Kriegstagebuch um 93 Jahre versetzt.
Publiziert wird das recht detaillierte, genau beobachtende und reflektierende Tagebuch nicht nur mit englischen, französischen und italienischen Übersetzungen, sondern auch mit einigem Zusatzmaterial — mit Fotos der Lagezeichnungen des Autors, anderen Fotografien und Karten etwa. Eine sehr reichhaltige Fundgrube!