Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: sibylle berg

Ins Netz gegangen (26.3.)

Ins Netz gegan­gen am 26.3.:

  • Fahrrad­boom und Fahrradin­dus­trie — Vom Draht­e­sel zum “Bike” — ein sehr schön­er, langer, vielfältiger, bre­it­er und inten­siv­er text von gün­ter brey­er zur sit­u­a­tion des fahrrads als pro­dukt in deutsch­land: her­stel­lung, ver­trieb, verkauf in deutsch­land, europa und asien — mit allem, was (ökonomisch) dazu gehört …
  • Geset­zge­bung: Unsinn im Strafge­set­zbuch | ZEIT ONLINE — thomas fis­ch­er legt in sein­er zeit-kolumne unter dem titel “Unsinn im Strafge­set­zbuch” sehr aus­führlich dar, warum es im deutschen recht ein­fach schlechte, d.h. handw­erk­lich verp­fuschte, para­graphen gibt und fordert, in dieser hin­sicht auch mal aufzuräu­men

    Ein Beispiel für miss­glück­te Geset­zge­bung und insti­tu­tion­al­isierte Ver­ant­wor­tungslosigkeit – und ein Aufruf zur Reparatur

  • Anti­semitismus: Was heißt “N.soz”? | ZEIT ONLINE — adam soboczyn­s­ki über den ver­dacht (der sich bis­lang nicht erhärten oder wider­legen lässt), dass die hei­deg­ger-aus­gabe möglicher­weise philol­o­gisch nicht sauber erstellt wurde (was insofern prob­lema­tisch ist, als der zugang zum nach­lass nur eingeschränkt möglich ist und die hei­deg­ger-aus­gabe eh’ schon keine kri­tis­che ist — was bei einem philosophen dieses ranges & ein­flusses eigentlich notwendig wäre)

    Hätte der mas­sive Anti­semitismus des Philosophen Mar­tin Hei­deg­ger früher belegt wer­den kön­nen? Das fragt sich mit­tler­weile auch der Ver­lag der umstrit­te­nen Gesam­taus­gabe und ver­langt jet­zt den Her­aus­ge­bern Rechen­schaft ab.

  • Musik — Der vol­lkommene Musik­er — Süddeutsche.de — rein­hard brem­beck würdigt zum 90. geburt­stag pierre boulez und seine eigentlich irren leis­tun­gen:

    Boulez, der an diesem Don­ner­stag seinen 90.Geburtstag feiert, ist der vol­lkommene Musik­er. Er ist Kom­pon­ist, Diri­gent, Forsch­er, Intellek­tueller, Pro­voka­teur, Päd­a­goge, Ensem­ble- und Insti­tutsgrün­der in Per­son­alu­nion. Und das alles nicht nur im Neben‑, son­dern im Haupt­beruf. Damit ste­ht er heute zwar allein da, er knüpft aber an ein bis in die Roman­tik dur­chaus gängiges Berufs­bild an, das Musik­er nur gel­ten lässt, wenn sie möglichst all diese Tätigkeit­en gle­icher­weise ausüben.
    Boulez ist von Anfang an ein Prak­tik­er gewe­sen. Aber ein­er, der sich nie seine Träume durch die Ein­schränkun­gen und faulen Kom­pro­misse der Prax­is kor­rumpieren ließ.

  • Pierre Boulez: “Sprengt die Opern­häuser!” | ZEIT ONLINE — eine geburt­stagswürdi­gung für pierre boulez von felix schmidt, die sich stel­len­weise schon fast wie ein nachruf liest …

    Boulez hat dem Musik­be­trieb einen gewalti­gen Stoß ver­set­zt und ihm viel von sein­er Gedanken­leere aus­getrieben. Die Langzeit­fol­gen sind unüber­hör­bar.

  • Ille­gale Down­loads machen dem E‑Book-Markt Sor­gen — ein etwas selt­samer artikel von clemens voigt zur pira­terie bei ebooks: eigentlich will er gerne etwas panik ver­bre­it­en (und pira­terie mit dem dieb­stahl physich­er gegen­stände gle­ich­set­zen) und lässt deshalb aus­führlich die abmah­nan­wälte wal­dorf-from­mer zu wort kom­men und anbi­eter von pira­terie-bekämp­fungs-soft­ware. ander­er­seits wollen die ver­leger diese panikmache wohl nicht so ganz mit­machen … — deswe­gen bleibt das etwas ein­seit­ig …
  • Selb­st­bild ein­er Uni­ver­sität « erlebt — françois bry über das prob­lema­tis­che ver­ständ­nis von wis­senschaft & uni­ver­sität, dass “kinderu­nis” ver­mit­teln kön­nen:

    Die Fam­i­lien­vor­lesung war unter­halt­sam. Lehrre­ich war sie insofern, dass sie ein paar Vorstel­lun­gen auf den Punkt brachte:
    Ein Pro­fes­sor ist ein Star.
    Eine Vor­lesung ist eine ein­drucksvolle Schau.
    Ver­ste­hen, worum es bei ein­er Vor­lesung geht, tut man wenn über­haupt außer­halb des Hör­saals.

  • Fehlende Net­zneu­tral­ität für Telekom-Kun­den spür­bar | daniel-weber.eu — daniel weber erk­lärt, wie die telekom den fehlen­den zwang zur net­zneu­tral­ität aus­nutzt und warum das auch für ganz “nor­male” kun­den schlecht ist
  • Autoren nach der Buchmesse — Sibylle-Berg-Kolumne — SPIEGEL ONLINE — sibylle berg ist gemein — zu ihre kol­le­gen schrif­stellern und den vertretern des lit­er­ar­jour­nal­is­mus:

    Auf allen Kanälen wur­den Schrift­steller wieder über ihr Schrift­steller­tum befragt, und sie gaben mit schiefgelegtem Kopf Auskun­ft. Warum Leute, die schreiben, auch noch reden müssen, ist unklar. Aber sie tun es. Es wird erwartet. Da muss irgen­dein Anspruch befriedigt wer­den, von wem auch immer. Da muss es wabern, tief und kapriz­iös sein. Das muss sein, denn das Schreiben ist so ein unge­mein tiefer Beruf, dass jed­er gerne ein wenig von der lei­den­den tiefen Tiefe spüren mag.

    (das beste kann ich nicht zitieren, das muss man selb­st lesen …)

  • Rus­s­land: Was Putin treibt | ZEIT ONLINE — gerd koe­nen als (zeit-)historiker über ukraine, rus­s­land und was putin so umtreibt … (und die kom­mentare explodieren …)
  • Woh­nungs­bau: Es ist zum Klotzen | ZEIT ONLINE — han­no rauter­berg rantet über den ein­fall­slosen woh­nungs­bau in ham­burg — gilt aber so ähn­lich auch für andere städte …

    Häuser wer­den streng rasiert geliefert, oben alles ab. Das alte Spiel mit Trapez- und Trep­pengiebeln, mit Walm‑, Sat­tel- oder Mansard­däch­ern, ein Spiel, das Häusern etwas Gemütvolles ver­lei­ht, auch etwas Behü­ten­des, scheint die meis­ten Architek­ten kaum zu inter­essieren. Es regiert die kalte Logik des Funk­tion­al­is­mus, sie macht aus dem Wohnen eine Ware. Und da kann ma…

  • Ukraine: Frei­heit gibt es nicht umson­st | ZEIT ONLINE — geigerin Lisa Bati­ashvili zur sit­u­a­tion in der ukraine und europa sowie seine werte
  • Son­nen­fin­ster­n­is: Ein Main­stream der Angst­mache — Feuil­leton — FAZ — Main­stream der Angst­mache
  • Amerikanis­ch­er Drohnenkrieg — Was die Regierung unter Aufk­lärung ver­ste­ht — Süddeutsche.de — die süd­deutsche über die unfähigkeit der bun­desregierung, sich ans völk­er­recht zu hal­ten (wollen), hier beim drohnenkrieg der usa:

    Jenen “Frage­bo­gen”, auf dessen Beant­wor­tung die Bun­desregierung ange­blich so gedrun­gen hat, erachteten die Amerikan­er jeden­falls “als beant­wortet”, teilte das Auswär­tige Amt jüngst auf Fra­gen der Linkspartei-Abge­ord­neten Andrej Hunko und Niema Movas­sat mit. Man sehe die Angele­gen­heit damit als “gek­lärt” an, schrieb eine Staatssekretärin. Die Fra­gen bleiben also weit­ge­hend unbeant­wortet. Und die Bun­desregierung nimmt das ein­fach so hin. “Das Auswär­tige Amt will keine Aufk­lärung, inwiefern US-Stan­dorte in Deutsch­land am tödlichen Drohnenkrieg der US-Armee in Afri­ka und Asien beteiligt sind”, kri­tisieren die Par­la­men­tari­er Hunko und Movas­sat. “Das ist nicht nur undemokratisch, son­dern es erfüllt den Tatbe­stand der Strafvere­it­elung.”

  • Deutsch­land: Am Arsch der Welt | ZEIT ONLINE — david hugen­dick haut den deutschen das abend­land um die ohren

    Das Abend­land ist ein deutsch­er Son­der­weg von Kul­tur, Geist, Stolz, Volk und Wein­er­lichkeit. Warum dieses Geis­ter­re­ich der Gefüh­le nicht totzukriegen ist. Eine Polemik

Aus-Lese #39

Lud­wig Winder: Der Thron­fol­ger. Ein Franz-Fer­di­nand-Roman. Wien: Zsol­nay 2014. 576 Seit­en.

winder, thronfolger

Ein schön­er und guter Roman eines vergesse­nen Autors zu einem bekan­nten The­ma. Lud­wig Winder, in der Zwis­chenkriegszeit ein berühmter Autor und Jour­nal­ist, hat mit dem “Franz-Fer­di­nand-Roman” Der Thron­fol­ger ein richtig gutes Buch geschrieben, das lei­der lange Zeit ziem­lich vergessen war. Der Wiener Zsol­nay-Ver­lag hat es jet­zt (mit einem Nach­wort des Spezial­is­ten Ulrich Weinzierl) neu aufgelegt — und so kon­nte ich auch diesem Roman, der 1937 das erste mal erschienen ist, ken­nen ler­nen.

Winder erzählt das Leben des Erzher­zogs Franz Fer­di­nand trotz der aus­führlichen Darstel­lung in strenger Chronolo­gie des Lebens. Und weil er stilis­tisch dabei erstaunlich lock­er bleibt, lässt sich das trotz der etwas lan­gat­mi­gen Anlage und Struk­tur sehr gut lesen. Denn im Kern ist es eben ein starkes, lebendi­ges Porträt des Erzher­zo­ges — der war ja, wenn man Winder glauben mag (und es gibt keinen Grund, das nicht zu tun), alles andere als ein leibenswürdi­ger Charak­ter: Spröde, harsch, krankhaft ehrgeizig und mis­strauisch — ein Mis­an­throp rein­sten Geblüts sozusagen. Die radikale per­son­ale Per­spek­tive macht das zu einem dicht­en Porträt ein­er his­torischen Fig­ur, ohne sie vorzuführen oder zu verurteilen. Inter­es­sant wird das auch dadurch, dass im Hin­ter­grund des Textes immer die Frage mitschwingt: hätte die Geschichte nicht auch ganz anders aus­ge­hen kön­nen? Das “fak­tis­che” Ende ist ja bekan­nt — hier wird aber immer wieder mit der Möglichkeit gespielt, dass die Geschichte des 20. Jahrhun­derts in der Fig­ur Franz Fer­di­nands auch andere Poten­zen und Poten­ziale gehabt hätte — die aber ungenutzt bleiben (und vielle­icht auch ein­fach bleiben müssen).

Unter­dessen wur­den in den Kon­feren­zsälen der Gen­er­al­stäbe, Min­is­te­rien und Botschaften, in den Salons der Muni­tions­fab­rikan­ten, in den Schlössern und auf den Vergnü­gungsy­acht­en der Staat­sober­häupter, in den Klubz­im­mern der Abge­ord­neten, in den Spielz­im­mern der Offizier­skasi­nos, in den armen Mansar­denkam­mern jugendlich­er Ver­schwör­er die Pläne aus­ge­heckt, die zum Kriege führen soll­ten. Leicht­fer­tige Diplo­mat­en, ehrgeizige Gen­eräle, ver­brecherische Geschäftemach­er und halb­wüch­sige Patri­oten, deren nation­al­is­tis­ch­er Rausch sich unverse­hens in Blu­trauseh wan­delte, arbeit­eten einan­der in die Hände, ohne es zu wis­sen. Sie jagten einan­der Angst ein, um die Ver­nun­ft zu töten. Sie woll­ten die Welt mit Angst erfüllen, um die Ver­brechen, die sie planten, zu entschuldigen. Sie sagten den Völk­ern, der Feind gönne ihnen das Leben nicht und wolle ihnen den Leben­sraum verkürzen. Sie forderten den Feind her­aus, den ersten Schuss abzugeben, das Sig­nal zum großen Massen­mord. Sie hat­ten Angst vor dem ersten Schuss, den sie inbrün­stig ersehn­ten. (454)

Dominik Dom­brows­ki: Fremdbestäubung. Köln: par­a­siten­presse 2014. 44 Seit­en.

dombrowski, fremdbestäubungGute Gedichte scheinen mir das zu sein, der “Güte” schw­er zu fassen sind: Da sind starke, anziehende Bilder, die ganz wun­der­bar selb­stver­ständlich wirken. Da ist die Bewe­gung der Sprache, die sich unge­hin­dert und wie von selb­st enfal­tet. Und das Fortschre­it­en im Text und der Welt, auch in der Zeit: immer weit­er, nicht ras­ten, nicht ruhen … Da ist die szenis­che Nar­ra­tion, die immer wieder auf­taucht. Die Rei­hung von kurzen Sequen­zen, die geschnit­ten (Cut!) Bilder, die Real­ität und Sprache miteinan­der kom­mu­nizieren lassen (oder auch nicht), zumin­d­est in Beziehung set­zen, sie aufeinan­der tre­f­fen lassen. Schade nur, dass der Band von Dom­brows­ki so kurz ist …

Archivare
Schiffe zu fal­ten den Eis­bären
dort unten
wo ihnen die Schollen
weg­brechen
haben
wir jet­zt nicht
das Papi­er

So fil­men wir
weit­er ihr
polares Treiben
vom Hub­schrauber aus (30)

Hans Pleschin­s­ki: Der Holzvulkan. Ein deutsch­er Fes­t­brief. Mit einem Nach­wort von Gus­tav Seibt. München: Beck 2014 (tex­tu­ra). 96 Seit­en.

pleschinski, holzvulkanEine kuriose Erzäh­lung eines kuriosen Geschehens der an Kuriositäten nicht ger­ade armen deutschen Geschichte: Der Erzäh­ler triff auf die Geschichte, die sich in Form eines Art Führers und Erzäh­lers sowie der traumhaften Verge­gen­ständlichung der his­torischen Baut­en und Ansicht­en darstellt und zeigt. Es geht um einen etwas aus­ge­flippten deutschen Her­zog des 17. Jahrhun­dert, den Anton Ulrich von Braun­schweig-Wolfen­büt­tel, der nicht nur (extrem ausufer­nde) Romane schrieb, son­dern auch als Feste-Arrangeur und Mäzen sein kleines HZer­zogtüm­chen zu einem europäis­chen Zen­trum der Kün­ste und der repräsen­ta­tiv­en Darstel­lung machen wollte — und damit so grandios und krachend scheit­ert, dass es Pleschin­s­ki wun­der­baren Stoff zum Erzählen gibt. Und auf den weni­gen Seit­en macht er das aus­ge­sprochen lebendig und sym­pa­thisch, mit raf­finierten erzäh­lerischen Volten, die dem Gegen­stand des Illu­sion­sthe­aters wun­der­bar angemessen sind — und zugle­ich ein Beispiel, wie man kun­stvoll Geschichte (nach-)erzählen kann. Also: eine schöne, unter­hal­tende und auch belehrende Lek­türe für zwis­chen­durch (zumal das Büch­lein bei Beck auch nett gemacht und um einige Kupfer­stichen ergänzt wurde).

Deutsches Barock ist den Deutschen am fremdesten, weil’s dort nicht mal um Gemütlichkeit ging (75)

Patrick Maisano: Mez­zo­giorno. Salzburg u.a.: müry salz­mann 2014. 152 Seit­en.

maisano, mezzogiornoEin schönes und gelun­ge­nes erzäh­lerisches Exper­i­ment, dieses Debüt von Maisano: Zwei Erzäh­ler — auch noch bei­de Architek­ten — stre­it­en sich um die Wahrheit des Erzäh­lens, der Erin­nerung und der Deu­tung der Gegen­wart. Zugle­ich ist das auch ein Stre­it zweier Lebensen­twürfe: Der geniale, faule und organ­isierte Architekt gegen den ord­nungs­fix­ierten, unternehmerischen, aber ideen­losen Bauin­ge­nieur und Plan­er.
Die Men­schen bleiben allein, die Fam­i­lien tauchen als Idee und Erzäh­lung öfter und wirk­lich­er auf als in der “wahren” Real­ität: Patricks trock­enes Bericht­en und Toms unbeschw­ertes Fab­u­lieren konkur­ri­eren um den Leser — glaub­haft sind natür­lich bei­de nicht, wie sich zuse­hends her­ausstellt. Dass bei­den Pro­tag­o­nis­ten und Erzäh­lern am Ende dann ganz sym­bol­isch und reell der Boden und das Fun­da­ment unter den Füßen wegrutscht — das Chalet, in dem sie sich befind­en, fällt einem Bergrutsch zum Opfer — ist dann fast schon zu offen­sichtlich. Aber bis dahin hat man beim Lesen an diesem ras­an­ten Text eine Menge Vergnü­gen gehabt.

Lutz Seil­er: im felder­latein. Berlin: Suhrkamp 2010. 102 Seit­en.

seiler, felderlatein“daheim an den gedicht­en” ist Lutz Seil­er: Auch wenn er jet­zt für seinen Roman “Kru­so” so sehr gelobt ist: Er ist vor alle­dem ein vortr­e­f­flich­er und aus­ge­sprochen kluger Lyrik­er. Schon pech & blende hat das gezeigt, im felder­latein gelingt es erneut: Hier ist eine eigene Stimme und ein eigen­er Denke. Seil­ers Gedichte machen immer wieder die Zeit selb­st zum The­ma:

[…] immer

in der schwebe, die
schätze dieser zeit

- eine Zeit, die sich in der Erin­nerung zeigt oder als Gegen­wart der Ver­gan­gen­heit im Augen­blick der Empfind­ung und Wahrnehmung. Vor allem aber geht es ihm immer wieder um die Ver­bidun­gen und Verknüp­fun­gen von Natur, Men­sch und eben Zeit. Ein Gedicht wie “im felder­latein” macht das beson­ders deut­lich. Schon der Titel verknüpft alle drei Bere­iche: Den Men­schen mit sein­er Sprache — aber ein­er Sprache, die “aus­gestor­ben” ist, die Sprache der Ver­gan­gen­heit ist, aber in unser­er Gegen­wart immer noch lebt; und diese Sprache der Men­schen eben schon im Kom­posi­tum verknüpft mit der Natur der “Felder” — die, sobald sie Felder sind, ja auch schon mit dem kul­tivieren­den und abgren­zen­den Men­schen in Verbindung ste­hen. Dort, also “im felder­latein”, heißt es:

im ner­ven­bün­del dreier birken:
umrisse der exis­tenz & alte for­men
von geäst wie
schwarz­er mann & stum­mer
stromab­nehmer. all

die falschen schei­t­el, sauber
nachge­zo­gen im archiv
der glat­ten über­liefer­ung. gern

sagst du, es ist die kälte, welche
dinge hart im auge hält, wenn
große flächen schlaf wie
winkelschleifer schleifen in
den zweigen. so

sagt man auch: es ist ein baum
& wo ein baum so frei ste­ht
muß er sprechen

Und das zeigt sich auch in Vers­grup­pen, die deut­lich machen, dass dem Men­schen (noch) längst nicht Zugriff auf alles eigen ist:

du weißt noch immer
nicht, daß es dich gibt, doch
was geschieht
ist begrif­f­en, ins brüchige dunkel
entleert sich das haus (48)

In seinem flanieren­den Streifen durch Land­schaften, Ver­gan­gen­heit­en und Typen (Rück­kehr ist der entschei­dende Begriff heir, nicht die Ankun­ft!) gelin­gen Seil­er jeden­falls immer wieder großar­tige Gedichte, die als konzen­tri­erte, starke Schöp­fun­gen der Sprache und des Denkens so etwas wie Bestand­sauf­nah­men sind (nicht ohne Grund ist “inven­tur” eines der besten gedichte in diesem band):

[…] & unter der erde

liegen die toten
& hal­ten die enden wurzeln im mund (49)

Moni­ka Rinck: I am the zoo. Ostheim: Peter Engstler 2014. 52 Seit­en.

rinck, zooWie schon bei Helle Ver­wirrung und Hasen­hass belässt es Rinck auch hier nicht bei der Schrift, beim Text allein, son­dern arbeit­et mit Zeich­nun­gen zuam­men. Genauer gesagt: Sie arbeit­ete mti der Zeich­ner­in Nele Brön­ner zusam­men. Die legte täglich eine von 24 Zeich­nun­gen vor, zu der Rinck tex­tete, was wiederum Brön­ner zur näch­sten Zeich­nung ver­an­lasste etc: Die gegen­seit­i­gen Rück­kop­plun­gen entwick­eln sich hier Seite für Seite zu ein­er Fabel — ein­er fabel­haften, phan­tastisch-spielerischen Geschichte. “Irri­tierte Ver­heißung” heißt es ein­mal im Text — und das passt recht gut: Gegen­seit­ige Irri­ta­tion beflügelt die Phan­tasie, die immer neues, anderes, unge­plantes ver­heißt. Und das dann nicht unbe­d­ingt ein­löst: Dieses Buch (ich scheue mich, nur vom Text zu sprechen, die Zeich­nun­gen sind schließliche ele­mentar­er Teil des Werkes) ist nie lang­weilig, weil die Entwick­lung zwar zu beobacht­en ist, aber nie vorherse­hbar wird. Und weil dazu noch die Sprache Moni­ka Rincks zwis­chen Prosa und Lyrik schwankt, wenn man das so sagen darf, ihre poet­is­che Qualtiät des Klangs und der Nicht-Alltäglichkeit beson­ders betont, ist das ein Werk ganz nach meinem Vergnü­gen: Ein Buch, das mit dem Unter­ti­tel Geschicht­en vom inneren Biest gar nicht so schlecht umschrieben ist.

Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. München: Hanser 2015. 256 Seit­en.

berg, tagIn gewiss­er Weise ist das wieder ein typ­is­ch­er Sibylle-Berg-Roman — und das ist ja schon ein­mal ein guter Start. Der Klap­pen­text des übri­gens sehr schön gemacht­en und in feinem Leinen gebun­de­nen Buch ver­heißt:

Chloe und Ras­mus sind seit fast zwanzig Jahren ver­heiratet, und ja, alles bestens, man hat sich entwick­elt, man ist sich ver­traut. Aber dass dieses Leben nun ein­fach so weit­erge­hen soll, ist auch nicht auszuhal­ten. […] Sibylle Berg stellt die Frage, die alle Paare irgend­wann ein­mal beschäftigt: Ist Sex leben­snotwendig? Oder doch eher die Liebe?

Und das passt schon ganz gut: Berg erzählt (wieder ein­mal) aus der Hölle der Selb­stfind­ung eines ziem­lich frus­tri­erten Paares. Es geht in wech­sel­nder Per­spek­tive aus der Sicht der bei­den Pro­tag­o­nis­ten Ras­mus und Chloe um das Abnutzen der Gefüh­le, um das Lei­den am Leben, um die unendliche ernüchternde und nüchterne Auswe­glosigkeit des All­t­ags. In kurzen Kapi­tel und klar­er, knap­per und präzis­er Prosa beschreibt Berg die aufdäm­mernde Katas­tro­phe der Paar­beziehung, das Umschla­gen, die völ­lige Zer­störung und Neuschaf­fung. Das ist Lit­er­atur, die kurzfristig unter­hält und nach­haltig ver­stören kann, wie Richard Käm­mer­lings ganz richtig beobachtet hat. Und genau diese Kom­bi­na­tion aus Unter­hal­tung und Ver­störungspoten­zial, aus Humor und tiefem, dun­klem Ernst ist es, was mir an Bergs Büch­ern immer wieder zusagt.

Die Aufre­gung. Hat sich abgenutzt, wie alle Gefüh­le, ich hat­te jedes schon ein­mal. Es wird kein neues dazukom­men. Das ist das Grauen der mit­tleren Jahre. Die Langeweile und die noch allzu nahe Erin­nerung an Zeit­en, in denen alles zum ersten Mal passierte. (50)

außer­dem gele­sen:

  • Helene Hege­mann: Axolotl Road­kill. Berlin: Ull­stein 2010. 204 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Shang­hai fern von wo. 2. Auflage. München: btb 2010. 508 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Landgericht. 5. Auflage. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2012. 495 Seit­en.
  • Rüdi­ger Bit­tner & Susanne Kaul: Moralis­che Erzäh­lun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014 (Kleine Schriften zur lit­er­arischen Ästhetik und Hermeneu­tik, Band 5). 74 Seit­en.
  • Frank R. Ankersmit: Die his­torische Erfahrung. Berlin: Matthes & Seitz 2012. 112 Seit­en.
  • Mark Row­lands: Der Läufer und der Wolf (siehe nebe­nan im Lauf­blog)

Ins Netz gegangen (15.6.)

Ins Netz gegan­gen am 15.6.:

  • WM ver­sus The­ater: Sibylle Berg über deutsche Kul­tur — SPIEGEL ONLINE — wie eigentlich immer ist sibylle bergs kolumne diese woche sehr gut:

    Wenn Deutsch­lands Mannschaft nicht gewin­nen sollte, was für eine wun­der­bare Vorstel­lung! Tausende weinen­der Fußball­fans liegen sich heulend in den Armen. Und trösten einan­der schul­terk­lopfend mit den Worten: Ach komm, Schwamm drüber. Denk nur an unsere iden­titätss­tif­tende Kul­tur. Ja, du hast recht, Rudi, lass uns gle­ich mal wieder in ein gutes Berg-Stück gehen.

  • Der Briefwech­sel zwis­chen Schiller und Goethe — “Es ist unbe­grei­flich, wie eine Unklugheit auf die andere fol­gt und wie incor­ri­gi­bel er in seinen Schiefheit­en ist.”
  • Forschungsplatz Orgel­bank: Gerd Zach­er (1929–2014) | nmz — neue musikzeitung — Ein schön­er Nachruf von Georg Beck:

    Dass er sich seine Orgel­bank mit Vor­liebe als Forschungsplatz ein­gerichtet hat, war Wirkung fes­ter Überzeu­gung: „Kom­po­si­tions-Anwalt“ wollte er sein. Auf allen Feldern, dem des his­torischen Erbes wie dem der Zeitgenossen­schaft, musste sich für ihn die Inter­pre­ta­tion vor der Kom­po­si­tion ver­ant­worten. Egotripps  ver­achtete er. Ander­er­seits: Die „Köni­gin“ unter den Instru­menten, dies war ihm wichtig, sollte Staat machen, sollte neue Klei­der haben und sie auch stolz aus­führen. Dafür hat sich Gerd Zach­er eben­so einge­set­zt wie für neue For­men kirchen­musikalis­ch­er Prax­is, was für ihn mit der Fort- und Weit­er­bil­dung sein­er Hör­er notwendig zusam­men­fiel.

  • Last Week Tonight with John Oliv­er (HBO): FIFA and the World Cup — YouTube — Die FIFA als die Kirche des Fußballs: Ein wun­der­bar­er Überblick von John Oliv­er (Last Week Tonight with John Oliv­er)
  • Wie das Inter­net die Wahrnehmung von Men­schen verän­dert | schneeschmelze | texte — Der (bish­er) beste — und vielle­icht ehrlich­ste — Nachruf auf Frank Schirrma­ch­er:

    Das einzige, das sein Tod markiert, ist das Ende des Feuil­letons. Ein let­ztes Auf­bäu­men der Pressekonz­erne, um „Debat­ten“ zu insze­nieren, cross­me­di­al. Das kon­nte er.

  • “heute-show” im ZDF — Da lacht der Ochsen­frosch — Medi­en — Süddeutsche.de — Detlef Esslinger bringt mein Unbe­hange an/mit der “heute-show” gut auf den Punkt:

    Die “heute-show” gilt als Ret­ter der deutschen Fernsehsatire. Dabei scheuen die Pointen der ZDF-Sendung niemals ein Klis­chee. Eine Hal­tung erken­nt man bei den Mach­ern nicht.

  • Emser Depesche: Der Über­liefer­ungszusam­men­hang | Aktenkunde — Hol­ger Berwinkel set­zt seinen detail­lierten Bericht der aktenkundlichen Unter­suchung der berühmten “Emser Depesche” fort. Da find­et sich auch die schöne Anmerkung:

    Aus der Lit­er­atur ken­nen wir die mod­erne Archivsig­natur, R 11674, und auch Blattzahlen: 209–214. Also kön­nten wir uns sofort auf Abekens Bericht aus Ems stürzen. Viele Forsch­er tun das auch und verzicht­en darauf, “ihre” Funde im Akten­zusam­men­hang zu kon­tex­tu­al­isieren. Sie tun das auf eigene Gefahr.

Ins Netz gegangen (1.9.)

Ins Netz gegan­gen am 1.9.:

  • Klausuren und Sibylle Berg. | ats20.de — Han­jo anlässlich ein­er Kor­rek­tur zu einem Kurz­text von Sibylle Berg:

    Merk­satz für die näch­ste Deutschar­beit also: Autoren sind immer min­destens drei Größenord­nun­gen cool­er als der Deutschlehrer, der ihre Geschicht­en mit­bringt.

  • Vier Mod­er­a­toren sind vier zuviel: Das TV-Duell — ein Vorschlag zur Güte « Ste­fan Nigge­meier — Ste­fan Nigge­meier hat einen guten Vorschlag, wie man Diskus­sio­nen zwis­chen Kan­z­ler­in/-kan­di­dat­en span­nend machen kön­nte:

    Ich hätte einen Vorschlag für eine neue, bess­er Form des »TV-Duells«: Wir verzicht­en auf die Mod­er­a­toren. Nicht nur auf zwei oder drei, son­dern auf alle vier.

  • Bil­dung: Die Stunde der Propheten | ZEIT ONLINE — Mar­tin Spiewak zeigt in der “Zeit”, was an den The­sen, Behaup­tun­gen und Forderun­gen von Hüther & Co. dran ist: Wenig bis nichts:

    Mit neu­ro­bi­ol­o­gis­ch­er Forschung hat das wenig zu tun. Genau genom­men kommt die Hirn­forschung in Hüthers Vorträ­gen kaum noch vor. Der Biologe ver­traut auf die Magie, die Wörter wie “präfrontaler Kor­tex”, “emo­tionale Zen­tren im Mit­tel­hirn” oder “neu­ro­plas­tis­che Boten­stoffe” im Pub­likum ent­fal­ten. “Applied Neu­ro­science” nen­nt Hüther diese inzwis­chen per­fek­tion­ierte Kun­st­form.

    Später heißt es noch, eben­falls sehr tre­f­fend:

    Doch mit Stu­di­en oder anderem päd­a­gogis­chen Klein-Klein schla­gen sich Ger­ald Hüther und die anderen Bil­dung­spropheten nicht herum. Umset­zung­sprob­leme, die end­lose His­to­rie didak­tis­ch­er Illu­sio­nen, die Wider­ständigkeit des Unter­richt­sall­t­ags: für sie kein The­ma. Die Refor­mjünger verkaufen der Repub­lik stattdessen lieber einzelne Vorzeigeein­rich­tun­gen wie eine Berlin­er Pri­vatschule als Leit­bild – dabei hat diese bish­er noch nicht einen Jahrgang durchs Abitur gebracht.

  • Land­tagswahl: Hes­sen für Ein­steiger | ZEIT ONLINE — Lenz Jacob­sen war mit Hans Eichel in Hes­sen (“Ein Dazwis­chen-Land, ein Redak­teur­salb­traum.” nen­nt Jacob­sen das) unter­wegs und hat einen lau­ni­gen Text mit­ge­bracht, der sich vor allem dadurch ausze­ich­net, dass er fast keine Infor­ma­tion bein­hal­tet.

Vielen Dank für nichts

Was, ver­dammt noch mal, macht ein glück­lich­es Leben aus, und ist es möglich, bei­de For­men auszupro­bieren? (174f.)

Grausam ist alles: Grausamkeit beherrscht die Men­schen, die Gesellschaften, die Natur, die Sys­teme, die Län­der, die Wel­ten, das Leben — alles. Grausam ist auch dieses Buch, auf die typ­is­che Sibylle-Berg-Weise. Näm­lich getarnt als scho­nungslose Offen­le­gung der Wirk­lichkeit — und ihrer Leere. Schön hyper­bolisch ist das, wirk­lich schön, insofern die Grausamkeit des Stoffes und der Sprache eben doch immer wieder in Schön­heit umschlägt. Und es wird immer stärk­er. Angekom­men ist Sibylle Berg nun bei absoluter, per­ma­nen­ter Endzeit(-stimmung): Ganz alleine ist Toto.

Blut sah jed­er gerne, wenn es nicht das eigene war, Prügeleien sah jed­er gerne, wenn er nicht selb­st ver­prügelt wurde, Aggres­sio­nen und Pein­lichkeit­en, ohn­mächtige Kinder, gefal­l­ene Kinder, das sah man sich doch gerne an, und wenn man nicht beteiligt war, sah man sich auch gerne Unfälle an, doch nicht, um zu begreifen, wie schnell ein gesun­der Kör­p­er zu einem geschun­de­nen Kör­p­er wird, son­dern um sich zu freuen, dass ein­er weniger zur Konkur­renz gehörte. (66)

Die zen­trale Fig­ur von Sibylle Bergs Roman Vie­len Dank für das Leben ist eine selt­same Fig­ur: Es wird nicht ganz klar, ob Toto Her­maph­ro­dit, Inter­sex­ueller, Zwit­ter oder was auch immer ist. Zunächst lebt er als Junge, später dann als Frau. Aber genau­so unglück­lich. Eben­so egal ist es auch, ob Toto sich in der DDR befind­et, wo er aufwächst, im Elend des sozial­is­tis­chen Kinder­heims und auf dem Dorf, bei einem Bauerne­hep­aar. Oder eher neben ihm, denn Toto ist immer, von Anfang an, von der Geburt an, als dem Arzt der erste Satz “Es ist ein …”, mit dem üblicher­weise die Geschlecht­szuschrei­bung erfol­gt, misslingt, schon von diesem Moment ist Toto an ein Außen­seit­er. Aber ein totaler. Nicht, dass er über­haupt je eine Chance gehabt hätte, daran etwas zu ändern. Später freilich, nach der etwas selt­sam-unbeteiligt-unfrei­willi­gen Flucht in die BRD, die eher eine Mit­nahme ist (irgend­wann in den späten 80ern muss das sein, aber alles im Text — fast alles — ist merk­würdig (und manch­mal angestrengt) zeit- und ort­los), später gibt es von seit­en Totos aus einige zaghafte Ver­suche der behut­samen (Pseudo-)Eingliederung in das, was sich da Gesellschaft nen­nt. Aber irgend­wie ist Toto am Rande, als Beobachter der anderen, steck­enge­blieben — ihre/seine einzige mögliche Rolle von frühen Zeit­en an, in der sie kon­se­quent drin­bleibt. Wed­er zaghafte Ver­suche pos­i­tiv­er Emo­tio­nen (etwa die Liebe in Phnom Penh) oder Schmerzen (der Beina­he-Totschlag …) befreien ihn/sie daraus (wobei das befreien auch schon fraglich wäre — ist das eine Befreiung? Oder ist Toto als Nicht-Teil, als sich-selb­st-alles-Seien­der (vielle­icht meint das sein selt­sam kurios­er Name?) freier als die “Norm”-Entwürfe dessen, was man gemein­hin Leben nen­nt …

Und darum geht es ja irgend­wie immer, das ist mehr als deut­lich: Gutes Leben, die ganzen Ideen und Vorstel­lung davon, wie man/wir seine/unsere Zeit auf Erden zu ver­brin­gen haben — das sind eben alles nur Möglichkeit­en, nur Ideen, denen genau­so wenig Sinn inhärent ist wie ihren Gegen­teilen. Da hil­ft auch das überirdis­che Sin­gen fern jed­er Prä­gung durch Bil­dung oder andere Musik, das Toto betreibt und das regelmäßig bei den Zuhör­ern Gefühlsaus­brüche & Weinen her­vor­ruft, nicht.

So großar­tig Vie­len Dank für das Leben in manchen Teilen ist, es scheinen doch auch einige Län­gen durch. Und manch­mal wird der Ton­fall ner­vend, dieses Dozieren der Schlechtigkeit der Welt, der Men­schen, der Natur, des Kap­i­tal­is­mus, des Sozial­is­mus, des allen (vor allem in den “Kommentar”-Teilen “Der Anfang”, “Die Mitte”, “Das Ende” ist das überdeut­lich, es schlägt aber auch son­st manch­mal arg auf­fäl­lig durch, dann kom­men nur noch bloße Phrasen bei her­aus …). Aber dann gibt es eben doch immer wieder auch diese faszinierende Klarheit der Berg’schen Prosa, die ver­let­zend wie Chiru­gen­stahl durch die Wirk­lichkeit schnei­det:

Degener­iert mögen sie sein, von Tumoren zer­set­zt, doch die ster­ben nicht aus, die gewöh­nen sich an alles. Die Men­schen. (315)

Und die Endzeit hört ja auch ein­fach nicht auf, es bleibt ein­fach immer schreck­lich, kaum noch steiger­bar, aber irgend­wie doch im per­ma­menten Ver­fall. “Und weit­er.” sind dann auch in diesem Sinne wun­der­bar tre­f­fend alle Kapi­tel der Toto-Hand­lung über­schrieben, die nicht nur durch die drei Kom­mentare, son­dern auch durch vere­inzelte Kapi­tel mit Aus­blicke in Neben­hand­lun­gen unter­borchen wer­den (unter denen Kasimir als eine Art Begleit- oder Gegen­fig­ur zu Toto her­aussticht: Kasimir, der mit Toto im Kinder­heim aufwächst, mit dem ihm kurz so etwas wie Fre­und­schaft (und Ver­lan­gen) verbindet, dass dann in sys­tem­a­tis­chen Hass umge­formt wird von einem erwach­se­nen Kasimir, der ganz und gar im Sys­tem aufge­ht, und einen ela­bori­ert-per­fi­den Plan der Ver­nich­tung Totos aus­getüftelt hat …) Nun ist das natür­lich kein Kul­turpes­sis­mus alter Sorte, der sich eine wie auch immer phan­tasierte bessere Zeit zurück­wün­scht. Das ist ein­fach totale (manch­mal vielle­icht auch total­itätre?) Desil­lu­sion­ierung­sprosa. Das muss einem gefall­en, son­st wird man sich hier nur quälen. Und gequält wer­den, von diesem glob­alen Scheit­ern.

Ein Gefühl war nicht geplant gewe­sen. (367)

Sibylle Berg: Vie­len Dank für das Leben. München: Hanser 2012. 400 Seit­en. 21,90 Euro. ISBN 978–3‑446–23970‑8

Sommer, also

Sehn­sucht, Verk­lärung, Erin­nerung, Erwartung, Träume — und viel Hoff­nung, aber auch viel Real­itätsver­lust, ‑vernei­n­ung und ‑ver­wweigerung:
All das packt Sibylle Berg in einen kleinen Text “Som­mer, also”.

Der richtige Som­mer aus der Erin­nerung fand zu Hause statt und hat­te mit geschlosse­nen Fen­ster­lä­den zu tun und mit leeren Stun­den und Asphalt, und ein­er fiebri­gen Erwartung.

Und das lese ich just an dem Tag, an dem es hier wirk­lich som­mer­lich (gewor­den) ist … Und nutze die Gele­gen­heit, nicht nur Frau Bergs Büch­er zu empfehlen, son­dern auch ihre Web­site und ihr am besten auch noch bei Twit­ter zu fol­gen (und dann die feine Lin­ie zwis­chen Fan und Stalk­er nicht über­schre­it­en …).

Wir hof­fen. Der Som­mer ist zu etwas metapho­rischem gewor­den, zum Traum des per­fek­ten Daseins in ein­er luzi­den Umge­bung die nur aus fre­undlichen halb­nack­ten Men­schen beste­ht, und Som­mer­löch­ern in den Medi­en, in denen Raum für solche Texte ist, weil es ger­ade keine Eurokriese gibt und keine Rohstoff Han­dels ‑Hor­rormel­dun­gen, keine Aus­beu­tun­gen ander­er Men­schen und Län­der, kein Unter­gang, kein Blade Run­ner Wet­ter vor der Woh­nung die vielle­icht bald nicht mehr unsere ist, weil das Vier­tel gen­der­i­fiziert wurde.

“Ich war froh, …

… dass ich nicht dem Zwang unter­lag, einem Bild entsprechen zu müssen, das ich mir von mir gemacht hat­te.” (Sibylle Berg, Der Mann schläft, 10)

menschheitsfehler

aus dem heuti­gen newslet­ter von frau berg:

“Nicht zum ersten Mal, aber deut­lich in Neon­farbe begreife ich: DIE WISSEN ALLE NICHT, WAS SIE TUN. Die Men­schheit ist die Rasse, die sich ver­mut­lich am meis­ten über­schätzt.” -

auch son­st (mal abge­se­hen von den invek­tiv­en gegen marathon­läufer ;-) ) ein schönes kleines textlein mit den typ­is­chen berg-beobach­tun­gen … es ist ja immer wieder nett, sich selb­st und die eige­nen beobach­tun­gen und ein­schätzun­gen mit diesen spo­radisch here­in­flat­tern­den textstück­en aus der schweiz bestätigt zu wis­sen. der erken­nt­niswert ist zwar nicht immer sehr hoch, aber präg­nante, oft ätzende und gar nicht so men­schen­fre­undliche (aber dazu beste­ht ja lei­der oft genug auch kein anlass) for­mulierun­gen find­en sich da drin immer wieder schöne — siehe oben.

einsamkeit und traurigkeit allerorten

so etwas gibt es wohl nur bei sibylle berg. auch ihr neuestes buch die fahrt (recht forsch und großzügig als „roman” etiket­tiert) kreist wieder um ihre ganz eige­nen the­men, die sie immer wieder neu auf­greift, neu abklopft und in ihrem lakonis­chen anti-stil vor­führt: die ein­samkeit des (post-) mod­er­nen men­schen, das altern, das bewusst­sein bzw. das bewusst-wer­den des alterns. das wirkt, in dieser manch­es mal fast mon­strös anmu­ten­den bal­lung (und dur­chaus auch ein­seit­i­gen sichtweise …) manch­es mal aus­ge­sprochen depres­siv und bedrück­end. aber sibylle berg wäre nicht sibylle berg, wenn nicht die möglichkeit des glücks doch noch ab und an irgend­wo hin­durch schim­mern würde: immer­hin ist sie auch in der fahrt mehr als nur the­o­retisch gegeben, einige aus dem reich­halti­gen fig­ure­narse­nal schaf­fen es, der sinnlosigkeit (momen­tan zumin­d­est) zu entrin­nen (wobei mir  natür­lich sofort ein ander­er titel bergs ein­fällt: ein paar leute suche das glück und lachen sich tot). aber die stärk­sten momente hat die fahrt — und das unter­schei­det sie von den bish­eri­gen büch­ern der autorin — nicht nur dann, wenn sie die sinnlosigkeit und absur­dität des urlaubens und des reisens beschreibt, son­dern in den bericht­en aus den elends­ge­bi­eten. denn das sind zweifel­los einige der berührend­sten, aufwüh­lend­sten beschrei­bun­gen des elends des lebens, die hier eingestreut sind — ger­ade im kon­trast zu den „luxus”-problemen den anderen fig­uren. ihre wirk­mächtigkeit ver­danken diese abschnitte auch der tat­sache, dass berg sie durch nichts mildert, nichts erk­lären will, son­dern nur — als qua­si geset­ztes gegen­bild — beschreibt — und damit wirkungsvoller die men­schen anklagt, die so etwas zulassen, als es jede stre­itrede ver­möchte. und das kün­st­lerisch beein­druck­ende ist dann auch noch die tat­sache, dass sich selb­st diese zunächst als mutwillige fremd­kör­p­er eingestreut erscheinen­den pas­sagen wun­der­bar in das konzept des buch­es fügen — die (verge­bliche? weil nur zufäl­lig von erfolg gekrönte?) suche nach sinn und glück im irdis­chen leben … auf jeden fall ein großar­tiges leseer­leb­nis!

gut find­et die fahrt auch kristi­na maidt-zinke in der süd­deutschen zeitung: „Mit der roman­tis­chen Vorstel­lung, dass die Men­schen in den Armut­szo­nen der Erde zufrieden­er lebten als die über­fresse­nen Abendlän­der, wird in diesem Fahrten-Buch gründlich aufgeräumt. […] DIe stärk­sten Momente ihrer Prosa aber sind nach wie vor die, in denen sie die fortschre­i­t­ende Verkom­men­heit und Abgewrack­theit des Plan­eten sowie die grassierende Unzurech­nungs­fähigkeit sein­er Bewohn­er mit der ihr eige­nen Has­s­lust aus­malt: Die Schärfe ihres schrä­gen Blicks ist unnachahm­lich.” (SZ 232, 9.10.2007, Beilage zur Frank­furter Buchmesse, S. 3)

sibylle berg: die fahrt. köln: kiepen­heuer & witsch 2007.

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