eine intensive und denkaufwändige lektüre: reinhard jirgl: abtrünnig. roman aus der nervösen zeit. münchen: hanser 2005. ich bin jetzt nach einer langen – mehrere wochen – lesereise bis ans ende vorgedrungen. und ich kann jedem nur empfehlen, sich dieser erfahrung, die manchmal zwar den charakter eines exerzitiums annehmen kann, zu unterziehen. den jirgl, schon lange einer meiner favoriten unter den noch lebenden und schreibenden autoren, hat hier ein beeindruckendes kunstwerk geschaffen. und als solches muss man es auch ganz bewusst und offensiv rezipieren: als kunst – nicht als unterhaltung, denn als bettlektüre taugt dieser roman sicherlich überhaupt nicht.
da ist zunächst einmal seine personale sonderorthographie, die hier – wie etwa auch in der genealogie des tötens – sehr eigenwillig erscheint. v.a. scheint sie ihre systematisierung ein wenig verloren zu haben. kritiken thematisieren diese sehr augescheinliche besonderheit der späteren jirglschen texte besonders gern. in der tat muss man aber sagen, dass sie entgegen etwaiger befürchtungen kein lesehindernis darstellt – sie wird sehr schnell sehr vertraut. was sie allerdings gerade in abtrünnig nicht wird, ist vollkommen verständlich: vieles bleibt zumindest bei der ersten lektüre (vielleicht hülfe da eine systematische durchdringung?) auf dem niveau der spielerei, weil sich einerseits keine bedeutungszuwachs oder ‑differenzierung erkennen lässt, andererseits auch weder eine absicht noch eine wenigstens vermutbare regelhaftigkeit. in manchen passagen wirkt diese extreme vermehrung der signifikanzen oder zumindest außerordentliche verdeutlichung der vieldeutigkeit des geschriebenen wortes, insbesondere natürlich durch die (ortho-)graphische eigenwilligkeit, wie eine künstlich forcierte annäherung an die mündlichkeit, das orale erzählen. andererseits ist sie in ihrer vielgestaltigkeit, die ja weit über die vereinheitlichende, normierte (und damit einschränkende) regelorthographie hinausgeht, auch offenbar der versuch der disambiguierung – der allerdings wieder dazu führt, das das schriftbild extrem hermetisch, abschreckend & unübersichtlich wirkt & auch tatsächlich wird: entzifferbar ist das kaum noch, weil das system nicht so einfach zu durchschauen ist (ist es überhaupt ein system?). und das führt schließlich auch dazu, dass man ihm leicht den vorwurf der spielerei machen kann. tatsächlich scheint manches auch nur das zu sein, lässt sich manche wort-verformung auch kaum anders auffassen. in seiner gesamtheit ist das, wenn man außerdem noch die formalen irregularien und stolpersteine – etwa die querverlinkungen und textbausteine – bedenkt, ein komplett verminter text und damit (auch) ein angriff auf den leser: die irregulären satzeichen als kleine sprengkörper, als angriffe auf das schnelle, einfache & gewöhnliche verstehen.
in abtrünnig ist die geschichte, die fabel, weitgehend zur nebensache geworden – noch nie war das bei jirgl (soweit ich sehe) so sehr der fall wie hier. im kern geht es um zwei männer, zwei liebende, die auf verschlungenen wegen nach berlin kommen und dort auf tragisch-groteske weise am und im leben scheitern. das ist aber auch schon wieder nur halb richtig, weil der zweite liebende, ein aus der ddr-nva in den bgs übernommener grenzschützer, der einer flüchtenden osteuropäerin zum illegalen grenzübergang nach deutschland verhilft, auf der suche nach ihr nach berlin kommt, dort als taxifahrer arbeitet, sie wiederfindet und just in dem moment, als sie zurück in ihre heimat gekehrt ist, um für die geplante heirat die notwendigen papiere zu organiseren, von ihrem offenbar psychisch gestörten bruder erstochen wird, weil also dieser zweite liebende, dessen geschichte natürlich durch begegnung mit der des anderen mannes verknüpft ist, gar keine besonders große rolle spielt.
wesentlicher als das ist aber das moment, der abtrünnig als „roman aus der nervösen zeit“ charakterisiert. das ist das autistische monologisieren, das durchbrochen wird von essayartigen passagen und genial erzählten teilen. natürlich spiegelt das wiederum nur das große, zentrale problem der hauptfigur und der modernen gesellschaft überhaupt: die suche nach dem ich, der identität, dem holistischen subjekt, dem eigenen lebens- und sinnentwurf – ein suche, die grandios scheitern muss und nur fragmente, zerstörung und beschädigte personen/figuren/menschen hinterlässt. der eindruck eines großen bruchwerkes bleibt dabei nicht aus: fragmentierte persönlichkeiten, sich auflösende soziale bindungen und gewissenheiten, kurz eine recht radikal ausgerichtete gesellschaftskritik sucht ihre form – und verliert sich dabei manches mal in essay-einschüben: abtrünnig ist in erster linie ein/das buch vom scheitern, seine bibel sozusagen: „es gibt kein richtiges leben im falschen“ – oder: das gelingen ist ganz und gar unmöglich geworden – & das muss man auch genau so kategorial formulieren, denn es gilt nicht nur für die figuren des textes, sondern auch für ihn selbst. deshalb ist er so, wie er ist; ist er in einer nach herkömmlichen maßstäben defizitären verfassung – er kann natürlich auch nicht mehr anders sein, das lässt die moderne welt, die „nervöse zeit“ nicht mehr zu. und genau wie diese ist er eine ziemlich gewaltige zu-mutung für den leser. denn er will ja nichts anderes, als diese schöne neue welt erklären oder mindestens aufzeigen – deshalb natürlich auch die (zeitweise durchaus überhand nehmenden) essay-passagen, die den kunstcharakter des gesamten textes beeinflussen – & das durchaus mit grenzwertigen ergebnissen. denn im ganzen ist das wohl so etwas wie ein anarchistisches kunstwerk – hoffnungslos unübersichtlich, kreuz und quer verlinkt durch die seltsamen „link“-kästen, die verweise vor und zurück im text, die eingestreuten zitate und auch wiederholungen, neuanläufe der beschreibung einer situation aus verschiedenen blickwinkeln. das alles hat zum ergebnis, das der roman, der vom tod der gesellschaft, vom tod des sozialen lebens, spricht, auch den tod des romans beschreibt, exemplifiziert – und auch reflexiert. denn auch wenn es gar nicht oder höchst selten explizit geschieht – vieles im text (etwa schon die daten der niederschrift (oder die behaupteten daten – schließlich befinden wir uns mit ihnen immer noch im fiktionalen text)) deutet auf eine reflexion der möglichkeiten des schreibens in einer nervösen, defizitären, verkommenen und immer weiter verkommenden gesellschaft hin. und wenn ein text wie abtrünnig das ergebnis dieser prozesse ist, kann man nun sagen, dass das schreiben unmöglich oder gar obsolet wird? das scheint mir zweifelhaft – denn trotz seiner unzweifelhaft zu konstatierenden schwächen ist abtrünnig als gesamtes doch ein beeindruckendes kunstwerk bemerkenswerter güte. interessant wird allerdings die fortsetzung – mir scheint es gerade mit diesem buch so, als schriebe sich der sowieso schon am rande des ästhetischen und insbesondere des literarischen diskurses stehende jirgl immer mehr ins abseits: ob er diese bewegung noch fruchtbar weiterführen kann?