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Schlagwort: kantate

Taglied 8.8.2017

Diet­rich Bux­te­hu­de, Kan­ta­te „Mein Herz ist bereit“ (Bux­WV 73), gespielt/​gesungen von Peter Har­vey und dem Pur­cell Quar­tet:

Diet­rich Bux­te­hu­de – Bux­WV 73 – Mein Herz ist bereit

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Wälder, Sonne & Hinrichtungen: Schostakowitschs Kantaten

schostakowitsch, kantatenKan­ta­ten sind nicht unbe­dingt die Gat­tung, die man beson­ders eng mit Dmi­t­ri Schost­a­ko­witsch ver­bin­det. Und doch gibt es von ihm eini­ge Exem­pla­re, die durch­aus hörens­wert sind. Frei­lich muss man bei Schost­a­ko­witsch stets sei­ne bio­gra­phi­sche und poli­ti­sche Situa­ti­on bei der Kom­po­si­ti­on berück­sich­ti­gen. Zwei der hier auf­ge­nom­me­nen Wer­ke sind anders über­haupt nicht zu erklä­ren – weder dass es sie über­haupt gibt noch dass sie in die­ser Form ent­stan­den sind.

„Über unse­rer Hei­mat scheint die Son­ne“ und „Das Lied von den Wäl­dern“ sind mehr oder weni­ger als Besänf­ti­gungs­ver­su­che zu ver­ste­hen, als Adres­se an einen tota­li­tä­ren Staat, dass der Kom­po­nist doch eigent­lich ganz brav ist. Jär­vi kon­fron­tiert die bei­den apo­lo­ge­ti­schen Kan­ta­ten auf die­ser rand­vol­len CD mit der „Hin­rich­tung des Ste­fan Razin“, 15 Jah­re spä­ter in deut­lich libe­ra­le­ren Zei­ten ent­stan­den und durch­aus als kaum vehüll­te Kri­tik an der KPdSU zu lesen, ver­herr­licht sie in der his­to­ri­schen Gestalt des Ste­fan Razin doch eine Rebel­li­on gegen ein repres­si­ves Sys­tem.

Der Kon­trast wird hier beson­ders stark, weil Jär­vi bei den bei­den frü­hen Kan­ta­ten die ursprüng­li­chen Tex­te nutzt, die der Kom­po­nist spä­ter um die direk­ten Sta­lin-Hul­di­gun­gen (im „Lied von den Wäl­dern“ wird er etwa als „gro­ßer Gärt­ner“ beti­telt) abge­mil­dert hat­te. Auf­grund eines Ver­bots der Schost­a­ko­witsch-Erben durf­ten die Tex­te aller­dings nicht abge­druckt wer­den – sehr scha­de, denn wer kann schon so gut rus­sisch, dass er das hörend ver­fol­gen kann? Aber hören kann man den­noch eine Men­ge: Die aus­ge­zeich­ne­ten Chö­re zum Bei­spiel, den siche­ren Nar­va-Kna­ben­chor und den kraft­vol­len und sehr klang­star­ken Est­ni­schen Kon­zert­chor. Beglei­tet vom gut auf­ge­leg­ten Est­ni­schen Natio­nal-Sym­pho­nie-Orches­ter, des­sen Schlag­werk wesent­lich zum Gän­se­haut­fee­ling bei­trägt, das die­se Auf­nah­men immer wie­der ver­strö­men: Durch die von den ers­ten mäch­ti­gen, düs­te­ren Akkord­schlä­gen bis zum apo­theo­ti­schen Schluss packen­de Musik, aber auch die heu­te aus­ge­pro­chen sku­ril wir­ken­den Tex­te, die man beim Hören ger­ne aus­blen­den­den möch­te.

Am leich­tes­ten geht das bei der „Hin­rich­tung des Ste­fan Razin“. Die wesent­lich viel­fäl­ti­ge­re und span­nen­de­re Ton­spra­che treibt alle Betei­lig­ten, auch den sonor-soli­den Bass Alex­ei Tanovit­ski, zu Höchst­leis­tun­gen. Gera­de in op. 90 ist die Dau­er­er­regt­heit und per­ma­nen­te Freu­de, die gera­de musi­ka­lisch gera­de­zu platt und bar jeder Dif­fe­ren­zie­rung zu bana­len Tex­ten (die im Book­let lei­der nicht abge­druckt sind) ertönt, stel­len­wei­se kaum ertrag­bar – Jär­vi nimmt das auch nicht zurück, son­dern lässt das als oppor­tu­nis­ti­sche Musik ein­fach mal so ste­hen. Er ver­sagt sich die­ser demons­tra­ti­ven Zugäng­lich­keit der Musik auch über­haupt nicht: Das klingt wun­der­bar groß­ar­tig und wun­der­bar banal. Aber so ganz gibt er sich mit die­ser glän­zen­den Hül­le eben doch nicht zufrie­den: Das Bro­deln unter der Ober­flä­che wird bei Jär­vi vom Äuße­ren oft kaum noch in Zaum gehal­ten. Dabei ver­bin­det er sehr geschickt und har­mo­nisch die gro­ßen Ges­ten der sze­nisch-film­haf­ten Musik mit den vie­len fei­nen, lyri­schen Details der Chor­stim­men, die hier wun­der­bar leben­dig strah­len. Vor allem die pral­le Vita­li­tät und die agil-ange­spann­te Prä­senz der bei­den Chö­re machen die­se Auf­nah­me ganz beson­ders. Das ist sicher kei­ne Musik, die Schost­a­ko­witsch-Ver­äch­ter zu gro­ßen Bewun­de­ren bekehrt, aber rotz­dem eine wich­ti­ge Facet­te sei­nes rei­chen Oeu­vres. Zumal in einer so leb­haf­ten Inter­pre­ta­ti­on.

Dimi­t­ri Schost­a­ko­witsch: Kan­ta­ten (Die Hin­rich­tung des Ste­pan Rasin op. 119; Über unse­rem Vater­land scheint die Son­ne op. 90; Das Lied von den Wäl­dern op. 91). Esto­ni­an Con­cert Choir, Esto­ni­an Natio­nal Sym­pho­ny Orches­tra, Paa­vo Jär­vi. Era­to 2015.
CD

(In einer etwas kür­ze­ren Ver­si­on zuerst erschie­nen im Okto­ber­heft von »Chor­zeit—Das Vokal­ma­ga­zin«)

Kreative Wissenschaft oder wissende Kreativität

Er ist ein sanf­ter Rebell, der über­ra­schend klei­ne, aber immer quick­le­ben­di­ge Ton Koop­man. Nie betrieb er die his­to­ri­sche Auf­füh­rungs­pra­xis so pro­vo­kant wie ande­re Kol­le­gen, weder als Wis­sen­schaft­ler noch als Diri­gent oder Instru­men­ta­list geht es ihm dar­um, auf­zu­fal­len. Denn Ton Koop­man ist bei­des – und immer bei­des zugleich. Und wahr­schein­lich des­halb auch nicht so extrem. Inso­fern war er natür­lich eine wun­der­ba­re Wahl für die ers­te Main­zer Musik­do­zen­tur, die die Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und der Lite­ra­tur gemein­sam mit der Main­zer Musik­hoch­schu­le nun jähr­lich ver­an­stal­ten.

Er nutz­te die Gele­gen­heit auch ent­spre­chend und stell­te sich sowohl als Wis­sen­schaft­ler als auch als Musi­ker vor. Und bei­de Berei­che kom­men bei ihm in einem Anspruch zusam­men: Die Wahr­heit ist sein Ziel. Aber kei­ne theo­re­tisch aus den Quel­len gear­bei­te­te: Wie er bei sei­nem lau­ni­gen Vor­trag erklär­te, ist für ihn das klin­gen­de Resul­tat immer das wich­tigs­te. Auch wenn er dann ein paar mehr Sän­ger auf der Büh­ne ste­hen hat als die Puris­ten der Bach-Spe­zia­lis­ten. Einen wei­ten Bogen schlug er, führ­te den voll besetz­ten Roten Saal (ein Teil des Publi­kums muss­te sogar in den Orgel­saal aus­wei­chen) durch ver­schie­de­ne Pro­ble­me der his­to­risch infor­mier­ten Auf­füh­rungs­pra­xis: Von der Chor­grö­ße über die „rich­ti­gen“ his­to­ri­schen Instru­men und den ange­mes­se­nen Ver­zie­run­gen zur Stimm­ton­hö­he und der Fra­ge, ob bei Bach Frau­en mit­ge­sun­gen haben. Und kam immer wie­der zu dem Ergeb­nis, dass auch Spe­zia­lis­ten noch lan­ge nicht alles wis­sen. Des­we­gen ist sein Schluss auch: „Es ist not­wen­dig, beim Musik­ma­chen zu den­ken“. Scha­de nur, dass er nichts zu den fol­gen­den Kan­ta­ten sag­te.

Denn Koop­man war nicht nur als Vor­le­sen­der, son­dern auch als Dozent, der mit den Stu­die­ren­den arbei­tet, nach Mainz gekom­men. Das hat er in der letz­ten Woche getan, mit zwei Bach-Kan­ta­ten führ­te er es im Roten Saal der Hoch­schu­le vor. Und man merkt sofort: Das ist ech­ter Koop­man. Vor allem die Instru­men­ta­lis­ten des Neu­mey­er-Cons­ort klin­gen ziem­lich so, wie man es von ihm gewohnt ist: Beweg­lich und nach­drück­lich in jedem Augen­blick. Für die Sän­ger – zugleich Teil­neh­mer von „Barock vokal“, dem Exzel­lenz­pro­gramm der Musik­hoch­schu­le – gilt das aller­dings nicht ganz. Sie wir­ken durch die Bank auf­fal­lend zahm und gedie­gen, manch­mal auch etwas gehemmt: Wo die Instru­men­ta­lis­ten unter dem ener­gisch-for­dern­den Diri­gat Koop­mans fast jeden Ton vari­ie­ren, eine elas­ti­sche Dyna­mik auf kleins­tem Raum ent­wi­ckeln, blei­ben die Voka­lis­ten ver­gleichs­wei­se steif. Viel­leicht hät­ten sie sich nicht in den Rücken des Diri­gen­ten stel­len sol­len. Frei­lich, das sind alles jun­ge Stim­men – und schlecht sind sie auch gar nicht. Und schließ­lich ist ja auch Koop­man nach lan­gen Jah­ren der Pra­xis und des Stu­die­rens immer noch auf der Suche – nicht nur nach dem rich­ti­gen, dem his­to­risch wah­ren Klang, son­dern nach der leben­di­gen, krea­tiv gefühl­ten Musik.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

mit musik & händel durch europa

Georg Fried­rich Hän­del, der gro­ße Jubi­lar die­ses Jah­res, ist schon in jun­gen Jah­ren weit her­um­ge­kom­men in Euro­pa. Und er hat sich von vie­lem, was er dabei gehört hat, inspie­re­ren las­sen. Manch­mal auch etwas mehr – das „Aus­lei­hen“ gelun­ge­ner Melo­dien bei­spiels­wei­se war zu sei­nen Zei­ten noch kei­nes­wegs so ver­pönt wie heu­te. Wer sich also ein biss­chen inten­si­ver mit Hän­dels Musik beschäf­tigt, muss sich auch mit ganz viel ande­ren Wer­ken befas­sen. Zum Bei­spiel mit Musik von Diet­rich Bux­te­hu­de, dem Hän­del in Lübeck einen Besuch abstat­te­te. Oder mit Johann Hein­rich Schmel­zer, der in Wien Kar­rie­re mach­te. Und natür­lich auch mit Hän­dels Riva­len in Lon­don, Gio­van­ni Bonon­ci­ni.
Die Vil­la Musi­ca hat all das in ein schö­nes Pro­gramm mit dem Tele­mann-Quar­tett gepackt und im Ertha­ler Hof auch einen sehr pas­sen­den Saal für die­se viel­fäl­ti­ge, fili­gra­ne und dra­ma­ti­sche Musik gefun­den. Die Hit­ze dort hat das Publi­kum ger­ne aus­ge­hal­ten, denn die vier Spe­zia­lis­ten des Tele­mann-Quar­tetts boten zwar nicht unbe­dingt gro­ße Über­ra­schun­gen, aber hohe bis höchs­te Qua­li­tät. Und zwar in allen Dimen­sio­nen.
Das Fun­da­ment leg­te, das ist bei baro­cker Musik unver­zicht­bar, der Gene­ral­bass. Flo­ri­an Heye­rick am Cem­ba­lo und Rai­ner Zip­per­ling mit Gam­be und Cel­lo begnüg­ten sich aber nicht mit dem Hin­ter­grund. Mit viel Fan­ta­sie, mit Prä­zi­si­on und span­nungs­ge­la­de­nen Lini­en mach­ten sie sich zu einem unver­zicht­ba­ren, ele­men­ta­ren Teil der Musik. Und was die­se bei­den aus­zeich­ne­te, galt auch für die Gei­ge­rin Swant­je Hoff­mann und den Altis­ten Yose­meh Adjei: Genau­ig­keit in allen Situa­tio­nen und Hin­ga­be an die Aus­drucks­viel­falt und die Kraft der Musik. Dazu kam dann noch ein rei­bungs­lo­ses Mit­ein­an­der, ein echt gemein­sa­mes Musi­zie­ren, bei dem jeder mit jedem agier­te, auf­ein­an­der reagier­te und zusam­men eine fes­te Ein­heit bil­de­te. Unab­läs­sig flo­gen die Bli­cke kreuz und quer, ver­ge­wis­ser­ten sich Sän­ger und Cem­ba­list, Gei­ge­rin und Cel­list der Gemein­sam­kei­ten. Über­haupt war hier alles immer in Bewe­gung, kam kei­ner der Musi­ker zum Still­stand. Und das war ein gutes Zei­chen: Denn die­se Rast­lo­sig­keit über­trug sich auf die Musik. So wur­den dann auch eher eph­eme­re Wer­ke wie die Vio­lin­so­na­te von Isa­bel­la Leo­nar­da oder die Cel­lo­so­na­te von Gio­van­ni Bonon­ci­ni zu span­nen­den Aus­flü­gen in die baro­cke Klang­welt. Aber die Höhe­punket lagen woan­ders. Schon die bei­den Psalm­ver­to­nun­gen Bux­te­hu­des lie­ßen das erah­nen: Das wah­re Dra­ma kam in den Ari­en Hän­dels zum Vor­schein. Hier konn­te sich der famo­se Alt­us Yose­meh Adjei voll aus­le­ben. Mit sei­ner leicht­fü­ßig über alle Schwie­rig­kei­ten hin­weg­ei­len­den, klar und pein­lichst genau geführ­ten Stim­me wur­de er Rinal­do oder Cesa­re, koket­tier­te mit der die Vogel­ru­fe imi­tie­ren­den Vio­li­ne, ließ den Zorn brau­sen, den Herz­schmerz seh­nend schluch­zen und die Tugend prei­sen – ohne jede Spur von Zurück­hal­tung ver­leib­te er sich sei­ne Par­tien ein und führ­te gemein­sam mit dem Rest des Quar­tet­tes die Hän­del-Rei­se weit über die tat­säch­li­chen Sta­tio­nen in das unend­li­che Reich der Fan­ta­sie hin­aus.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung)

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