Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: gesellschaft Seite 9 von 10

„Nun ist das hier das konservative Kernland …

… von Bay­ern und auch von Deutsch­land, hier wer­den die Reak­tio­nä­re gezüch­tet wie andern­orts das Gen­food und die Wah­len ent­schie­den; ohne Städ­te und Regio­nen wie die­se wäre Deutsch­land knall­rot wie die Erd­bee­ren. Damit das auch so bleibt, haben wir eben Müt­ter wie jene bei­den vor uns, die zwar selbst die reak­tio­nä­ren Gym­na­si­en der Stadt gehasst haben, aber ohne mit der Wim­per zu zucken ihren Nach­wuchs in die glei­chen Anstal­ten ver­frach­ten. Das war hier schon immer so, die Auf­klä­rung in Bay­ern kam nicht mal bis Aschaf­fen­burg, und schon gar nicht in den bes­se­ren Krei­sen.“

und sol­cher sät­ze wegen lan­de ich doch immer wie­der bei den stüt­zen der gesell­schaft …

„die zeit, vor sich betrachtet, …

kann es nicht wir­ken, son­dern die din­ge, die in der zeit sind.“—Zedler, Art. Volck (1740)

„beim himmel!

… der weiss nicht, was er sün­digt, der den Staat zur Sit­ten­schu­le machen will. Immer­hin hat das dne Staat zur Höl­le gemacht, dass ihn der Mensch zu sei­nem Him­mel machen wollte.“—friedrich höl­der­lin, hype­ri­on oder der ere­mit in grie­chen­land, 53

„Wenn man immer eli­tä­rer wird, liegt das nciht an einem selbst, son­dern an den Mit­men­schen, die sich disqualifizieren.”—jochen schmidt, schmidt liest proust, 115

noch eine herausragend überschrift

heu­te auf der titel­sei­te der rhein-zei­tung die wun­der­ba­re über­schrift (die ers­te fol­ge die­ser serie war auch sehr schön): „bahn will zunächst den güter­ver­kehr bestrei­ken” – das wär’s doch mal: die betrie­be bestrei­ken sich ein­fach selbst, dann kann man die stö­ren­frie­de der gewerk­schaf­ten auch getrost abschaf­fen … irgend­wie kapiert da jemand in der redak­ti­on das sys­tem „streik” wirk­lich über­haupt nicht – ein­mal kann ja ein aus­rut­scher sein, aber zwei mal ist eine serie …

protestanten und ihr ‑ismus

sie müs­sen aus­ge­spro­chen gute lek­to­ren beim beck-ver­lag in mün­chen haben für die­se rei­he, die „wissen“-taschenbücher. die sind näm­lich immer aus­ge­spro­chen gut les­bar, für lai­en ver­ständ­lich, ohne des­halb flach zu sein. die­ser band (der pro­tes­tan­tis­mus von fried­rich wil­helm graf) ist dabei schon ver­gleichs­wei­se vor­aus­set­zungs­reich, und – um es gleich zu sagen – mir fehlt auch ein wenig der kern: da wird viel geschrie­ben über die äuße­re ent­wick­lung des pro­tes­tan­tis­mus, viel über die kul­tu­rel­le und poli­ti­sche sei­te, aber der eigent­lich nukle­us, die spe­zi­fi­sche form des glau­bens und der fröm­mig­keit, ist für mei­ne begrif­fe etwas kurz abge­han­delt – es kommt natür­lich vor und ist selbst­ver­ständ­lich ange­sichts der (hier auch gut dar­ge­stell­ten) viel­falt pro­tes­tan­ti­scher strö­mun­gen sicher eine schwie­ri­ge auf­ga­be, aber gera­de da hät­te ich mir ein biss­chen mehr infor­ma­ti­on gewünscht, die über die kon­sta­tie­rung des pro­blems hin­aus­geht: „alle aus­sa­gen über ein ‚wesen des pro­tes­tan­tis­mus‘ las­sen sich durch viel­fäl­ti­ge wider­stre­ben­de phä­no­men in ein­zel­nen pro­tes­tan­ti­schen lebens­wel­ten rela­ti­vie­ren“ – geschenkt, das ist bil­lig. das „pro­tes­tan­ti­sche“ als sol­ches, so sug­ge­riert schon der blick ins inhalts­ver­zeich­nis (und die lek­tü­re bestä­tigt das lei­der cum gra­no salis) inter­es­siert graf nur mehr am ran­de: wenn es um „die zukunft des pro­tes­tan­ti­schen“, so heißt das abschlie­ßen­de kapi­tel, geht.der pro­tes­tan­tis­mus scheint also, wenn man nur grafs dar­stel­lung vor augen hat, mehr ein kul­tur­phä­no­men als eine reli­giö­se erschei­nung zu sein. sein haupt­ka­pi­tel ist dann auch fol­ge­rich­tig so beti­telt: „pro­tes­tan­tis­mus und kul­tur“. hier ver­sucht graf, dem wesen des pro­tes­tan­tis­mus auf die spur zu kom­men. und eben mit den genann­ten schwie­rig­kei­ten. aber doch, um hier nicht nur blöd rum­zum­eckern, auch wie­der nicht ganz ver­ge­bens. auf­fal­lend ist aller­dings die sehr varia­bel kon­zi­se argu­men­ta­ti­on und fak­ten­dich­te: es gibt sei­ten, da reiht sich (direk­tes oder indi­rek­tes) zitat an zitat, da flie­gen die daten nur so um die köp­fe der leser. und es gibt sei­ten, da kommt graf auf ein­mal wie­der zu einer les­ba­ren dar­stel­lungs­form – scha­de, dass die vari­anz so arg groß ist.

die pro­tes­tan­ten und staat, bil­dung, indi­vi­du­um, inner­lich­keit – das sind sei­ne haupt­the­men. und das gan­ze vor­züg­lich an quel­len des 18. und 19. jahr­hun­derts dar­ge­stellt, von denen graf eine unüber­seh­ba­re men­ge zu ken­nen scheint. was das 20. jahr­hun­dert angeht, wird es aber ganz plötz­lich ganz dünn, über die zwan­zi­ger hin­aus gibt es kaum etwas, als hät­te sich das pro­blem bereits erle­digt, als wür­de kei­ner mehr dar­über nach­den­ken …

so kreist graf also eigent­lich immer wei­ter um ganz weni­ge the­men: die indi­vi­dua­li­sie­rung (v.a. des glau­bens, die aber nicht ohne fol­gen für das welt­li­che den­ken und leben blieb…) und das, was seit max weber die „pro­tes­tan­ti­sche ethik“ genannt wird, die bemü­hung um öko­no­mi­schen etc. erfolg im dies­seits als zei­chen eines from­men, gott­ge­fäl­li­gen lebens, die hand in hand geht mit der ent­wick­lung des bür­ger­li­chen leis­tungs­ethos: „die in allen pro­tes­tan­ti­schen lebens­wel­ten zu beob­ach­ten­de sym­bo­li­sche kom­mu­ni­ka­ti­on, in der inner­lich­keit reli­gi­ös insze­niert und refle­xiv gestei­gert wird, läßt sich des­halb auch als erfin­dung von indi­vi­dua­li­tät beschrei­ben.“ (73) – schon recht, aber ist das nicht ein wenig ein­sei­tig? spiel­ten da nicht – auch – noch ande­re fak­to­ren eine rol­le? z.b. der tief­grei­fen­de wan­del der öko­no­mi­schen und poli­ti­schen ver­fas­sung der gesell­schaft seit dem mit­tel­al­ter? deren zuneh­men­de beschleu­ni­gung? das sind natür­lich alles fak­to­ren, die nie allei­ne betrach­tet wer­den kön­nen, immer in hef­tigs­ten inter­de­pen­den­zen ste­hen und die sache des­halb so höl­li­sche kom­pli­ziert machen… lus­ti­ger­wei­se (aber: eigent­lich ist das nicht so wahn­sin­nig lus­tig…) schreibt graf selbst zwei sät­ze wei­ter: „die auf­klä­rer und die libe­ra­len des 19. und 20. jahr­hun­derts fei­er­ten die refor­ma­ti­on des­halb als jene reli­gi­ös …

gesund oder krank: das ich in der postmoderne

rai­ner funk macht sich gedan­ken dar­über: ist die spe­zi­el­le ich-ori­en­tie­rung des sub­jekts in der post­mo­der­ne psy­cho­ana­ly­tisch gese­hen etwas gutes oder schlech­tes? es ist natür­lich etwas defi­zi­en­tes, im grun­de kran­kes: sie ist nicht-pro­duk­tiv (und noch eine men­ge ande­res). da ich von psy­chon­ana­ly­se ja eigent­lich kei­ner­lei ahnung habe, kann ich nicht wirk­lich beur­tei­len, wie gut funk dabei ist. was ich aber sagen kann ist, dass sich die lek­tü­re des eigent­lich gar nicht so umfang­rei­chen büch­leins (ca. 240 sei­ten im taschen­buch in sehr gro­ßer schrift­ty­pe) erstaun­lich zäh hin­zieht. und dass eini­ges auf­fällt. etwa, dass funk außer sieg­mund freud und sei­nem gro­ßen vor­bild und meis­ter erich fromm fast kei­ne lite­ra­tur ver­wen­det (außer eini­gen weni­gen sozio­lo­gi­schen unter­su­chun­gen). ent­spre­chend mono­gam ist die argu­men­ta­ti­on. und da ist noch ein schwach­punkt: funk rei­tet ewig auf den sel­ben ent­de­ckun­gen her­um, führt sie immer wie­der und wie­der und wie­der neu aus. denn so viel hat er gar nicht zu sagen: die ich-ori­en­tie­rung der post­mo­der­ne ist kein ego­is­mus, kein nar­ziss­mus, son­dern eine eige­ne form, eine psy­chi­sche reak­ti­on auf die erfah­rung der „gemach­ten welt“, der unend­li­chen mög­lich­keit der fik­ti­on etc. pp.

damit rüh­ren wir an eine grund­sätz­li­che frag­wür­dig­keit für mich: sind die digi­ta­len wel­ten, die funk als so wesent­lich für die post­mo­der­ne aus­macht, wirk­lich etwas kate­go­ri­al neu­es? wenn man sie näm­lich wie funk auf ihre fik­tio­na­li­tät (als gegen­ent­wurf zu oder flucht aus der rea­li­tät) beschränkt, schei­nen sie für mich zunächst gar nicht so sehr unter­schie­den von den mög­lich­kei­ten der ver­gan­gen­heit, ins­be­son­de­re der moder­ne, aber sogar auch frü­he­rer zei­ten: da wären natür­lich jede art von lite­ra­tur (was ist ein roman denn ande­res als ein alter­na­ti­ver lebens­ent­wurf?), da wäre auch das thea­ter und natür­lich schon von anfang an der (kino-)film. neu wäre mög­li­cher­wei­se ihr aus­maß – aber selbst das wür­de ich nicht so ohne wei­te­res behaup­ten wol­len, das müss­te schon noch ein wenig fak­tisch unter­mau­ert wer­den – dass fun­ke das nicht leis­tet, ver­wun­dert kaum.

denn sei­ne unter­su­chung zum ich in der post­mo­der­ne hat noch eine wei­te­re ganz gro­ße lücke: sei­ne post­mo­der­ne. die wird, wie so oft, zunächst sehr vage und unge­nau als phi­lo­so­phi­sche strö­mung beschrie­ben, die dann aber auf ein­mal, in einer hoff­nungs­lo­sen über­be­wer­tung ihres ein­flus­ses, den gesam­ten all­tag der men­schen erfasst (über­flüs­sig zu sagen, dass für fun­ke irgend­wie nur men­schen der euro­päi­schen, viel­leicht noch ame­ri­ka­ni­schen län­der über­haupt vor­kom­men), ihr den­ken und han­deln bestimmt und dem­entspre­chend ihre psy­che beein­flusst. genau das aber zeigt fun­ke über­haupt nicht (es wäre auch nicht ganz anspruchs­los…): ob die post­mo­der­ne der phi­lo­so­phie und ihrer ästhe­ti­schen aus­wir­kun­gen (und da fängt es ja schon an – ganz gro­ße tei­le der kunst igno­rie­ren ihre ideen schließ­lich ein­fach ganz und gar) wirk­lich unser leben in die­sem aus­ma­ße bestimmt (hat), ist doch mehr als frag­lich. und des­halb bleibt fun­kes buch auch so beschei­den im ertrag. und da ich gera­de dabei bin, fällt mir doch noch etwas ein: wie alle „errun­gen­schaf­ten“ der post­mo­der­ne sowie­so in ihrer fak­ti­zi­tät frag­lich sind, ist auch der von fun­ke beobachtete/​diagnostizierte post­mo­der­ne mensch wohl nur sel­ten in frei­er wild­bahn anzu­tref­fen. heu­te noch sel­te­ner als in sei­ner hoch­zeit, den neun­zi­ger jah­ren. denn inzwi­schen hat sich doch alles schon wie­der drei­mal geän­dert…

rai­ner funk: ich und wir. psy­cho­ana­ly­se des post­mo­der­nen men­schen. mün­chen: dtv 2005
sie­he auch: per­len­tau­cher, eine kurz­ver­si­on in der „welt am sonn­tag“

abtrünnig: eine trümmerlandschaft aus text

eine inten­si­ve und denkauf­wän­di­ge lek­tü­re: rein­hard jirgl: abtrün­nig. roman aus der ner­vö­sen zeit. mün­chen: han­ser 2005. ich bin jetzt nach einer lan­gen – meh­re­re wochen – lese­rei­se bis ans ende vor­ge­drun­gen. und ich kann jedem nur emp­feh­len, sich die­ser erfah­rung, die manch­mal zwar den cha­rak­ter eines exer­zi­ti­ums anneh­men kann, zu unter­zie­hen. den jirgl, schon lan­ge einer mei­ner favo­ri­ten unter den noch leben­den und schrei­ben­den autoren, hat hier ein beein­dru­cken­des kunst­werk geschaf­fen. und als sol­ches muss man es auch ganz bewusst und offen­siv rezi­pie­ren: als kunst – nicht als unter­hal­tung, denn als bett­lek­tü­re taugt die­ser roman sicher­lich über­haupt nicht.

da ist zunächst ein­mal sei­ne per­so­na­le son­der­or­tho­gra­phie, die hier – wie etwa auch in der genea­lo­gie des tötens – sehr eigen­wil­lig erscheint. v.a. scheint sie ihre sys­te­ma­ti­sie­rung ein wenig ver­lo­ren zu haben. kri­ti­ken the­ma­ti­sie­ren die­se sehr augeschein­li­che beson­der­heit der spä­te­ren jirgl­schen tex­te beson­ders gern. in der tat muss man aber sagen, dass sie ent­ge­gen etwa­iger befürch­tun­gen kein lese­hin­der­nis dar­stellt – sie wird sehr schnell sehr ver­traut. was sie aller­dings gera­de in abtrün­nig nicht wird, ist voll­kom­men ver­ständ­lich: vie­les bleibt zumin­dest bei der ers­ten lek­tü­re (viel­leicht hül­fe da eine sys­te­ma­ti­sche durch­drin­gung?) auf dem niveau der spie­le­rei, weil sich einer­seits kei­ne bedeu­tungs­zu­wachs oder ‑dif­fe­ren­zie­rung erken­nen lässt, ande­rer­seits auch weder eine absicht noch eine wenigs­tens ver­mut­ba­re regel­haf­tig­keit. in man­chen pas­sa­gen wirkt die­se extre­me ver­meh­rung der signi­fi­kan­zen oder zumin­dest außer­or­dent­li­che ver­deut­li­chung der viel­deu­tig­keit des geschrie­be­nen wor­tes, ins­be­son­de­re natür­lich durch die (ortho-)graphische eigen­wil­lig­keit, wie eine künst­lich for­cier­te annä­he­rung an die münd­lich­keit, das ora­le erzäh­len. ande­rer­seits ist sie in ihrer viel­ge­stal­tig­keit, die ja weit über die ver­ein­heit­li­chen­de, nor­mier­te (und damit ein­schrän­ken­de) regel­or­tho­gra­phie hin­aus­geht, auch offen­bar der ver­such der dis­am­bi­gu­ie­rung – der aller­dings wie­der dazu führt, das das schrift­bild extrem her­me­tisch, abschre­ckend & unüber­sicht­lich wirkt & auch tat­säch­lich wird: ent­zif­fer­bar ist das kaum noch, weil das sys­tem nicht so ein­fach zu durch­schau­en ist (ist es über­haupt ein sys­tem?). und das führt schließ­lich auch dazu, dass man ihm leicht den vor­wurf der spie­le­rei machen kann. tat­säch­lich scheint man­ches auch nur das zu sein, lässt sich man­che wort-ver­for­mung auch kaum anders auf­fas­sen. in sei­ner gesamt­heit ist das, wenn man außer­dem noch die for­ma­len irre­gu­la­ri­en und stol­per­stei­ne – etwa die quer­ver­lin­kun­gen und text­bau­stei­ne – bedenkt, ein kom­plett ver­min­ter text und damit (auch) ein angriff auf den leser: die irre­gu­lä­ren sat­zei­chen als klei­ne spreng­kör­per, als angrif­fe auf das schnel­le, ein­fa­che & gewöhn­li­che ver­ste­hen.

in abtrün­nig ist die geschich­te, die fabel, weit­ge­hend zur neben­sa­che gewor­den – noch nie war das bei jirgl (soweit ich sehe) so sehr der fall wie hier. im kern geht es um zwei män­ner, zwei lie­ben­de, die auf ver­schlun­ge­nen wegen nach ber­lin kom­men und dort auf tra­gisch-gro­tes­ke wei­se am und im leben schei­tern. das ist aber auch schon wie­der nur halb rich­tig, weil der zwei­te lie­ben­de, ein aus der ddr-nva in den bgs über­nom­me­ner grenz­schüt­zer, der einer flüch­ten­den ost­eu­ro­päe­rin zum ille­ga­len grenz­über­gang nach deutsch­land ver­hilft, auf der suche nach ihr nach ber­lin kommt, dort als taxi­fah­rer arbei­tet, sie wie­der­fin­det und just in dem moment, als sie zurück in ihre hei­mat gekehrt ist, um für die geplan­te hei­rat die not­wen­di­gen papie­re zu orga­ni­se­ren, von ihrem offen­bar psy­chisch gestör­ten bru­der ersto­chen wird, weil also die­ser zwei­te lie­ben­de, des­sen geschich­te natür­lich durch begeg­nung mit der des ande­ren man­nes ver­knüpft ist, gar kei­ne beson­ders gro­ße rol­le spielt.

wesent­li­cher als das ist aber das moment, der abtrün­nig als „roman aus der ner­vö­sen zeit“ cha­rak­te­ri­siert. das ist das autis­ti­sche mono­lo­gi­sie­ren, das durch­bro­chen wird von essay­ar­ti­gen pas­sa­gen und geni­al erzähl­ten tei­len. natür­lich spie­gelt das wie­der­um nur das gro­ße, zen­tra­le pro­blem der haupt­fi­gur und der moder­nen gesell­schaft über­haupt: die suche nach dem ich, der iden­ti­tät, dem holis­ti­schen sub­jekt, dem eige­nen lebens- und sinn­ent­wurf – ein suche, die gran­di­os schei­tern muss und nur frag­men­te, zer­stö­rung und beschä­dig­te personen/​figuren/​menschen hin­ter­lässt. der ein­druck eines gro­ßen bruch­wer­kes bleibt dabei nicht aus: frag­men­tier­te per­sön­lich­kei­ten, sich auf­lö­sen­de sozia­le bin­dun­gen und gewis­sen­hei­ten, kurz eine recht radi­kal aus­ge­rich­te­te gesell­schafts­kri­tik sucht ihre form – und ver­liert sich dabei man­ches mal in essay-ein­schü­ben: abtrün­nig ist in ers­ter linie ein/​das buch vom schei­tern, sei­ne bibel sozu­sa­gen: „es gibt kein rich­ti­ges leben im fal­schen“ – oder: das gelin­gen ist ganz und gar unmög­lich gewor­den – & das muss man auch genau so kate­go­ri­al for­mu­lie­ren, denn es gilt nicht nur für die figu­ren des tex­tes, son­dern auch für ihn selbst. des­halb ist er so, wie er ist; ist er in einer nach her­kömm­li­chen maß­stä­ben defi­zi­tä­ren ver­fas­sung – er kann natür­lich auch nicht mehr anders sein, das lässt die moder­ne welt, die „ner­vö­se zeit“ nicht mehr zu. und genau wie die­se ist er eine ziem­lich gewal­ti­ge zu-mutung für den leser. denn er will ja nichts ande­res, als die­se schö­ne neue welt erklä­ren oder min­des­tens auf­zei­gen – des­halb natür­lich auch die (zeit­wei­se durch­aus über­hand neh­men­den) essay-pas­sa­gen, die den kunst­cha­rak­ter des gesam­ten tex­tes beein­flus­sen – & das durch­aus mit grenz­wer­ti­gen ergeb­nis­sen. denn im gan­zen ist das wohl so etwas wie ein anar­chis­ti­sches kunst­werk – hoff­nungs­los unüber­sicht­lich, kreuz und quer ver­linkt durch die selt­sa­men „link“-kästen, die ver­wei­se vor und zurück im text, die ein­ge­streu­ten zita­te und auch wie­der­ho­lun­gen, neu­an­läu­fe der beschrei­bung einer situa­ti­on aus ver­schie­de­nen blick­win­keln. das alles hat zum ergeb­nis, das der roman, der vom tod der gesell­schaft, vom tod des sozia­len lebens, spricht, auch den tod des romans beschreibt, exem­pli­fi­ziert – und auch refle­xiert. denn auch wenn es gar nicht oder höchst sel­ten expli­zit geschieht – vie­les im text (etwa schon die daten der nie­der­schrift (oder die behaup­te­ten daten – schließ­lich befin­den wir uns mit ihnen immer noch im fik­tio­na­len text)) deu­tet auf eine refle­xi­on der mög­lich­kei­ten des schrei­bens in einer ner­vö­sen, defi­zi­tä­ren, ver­kom­me­nen und immer wei­ter ver­kom­men­den gesell­schaft hin. und wenn ein text wie abtrün­nig das ergeb­nis die­ser pro­zes­se ist, kann man nun sagen, dass das schrei­ben unmög­lich oder gar obso­let wird? das scheint mir zwei­fel­haft – denn trotz sei­ner unzwei­fel­haft zu kon­sta­tie­ren­den schwä­chen ist abtrün­nig als gesam­tes doch ein beein­dru­cken­des kunst­werk bemer­kens­wer­ter güte. inter­es­sant wird aller­dings die fort­set­zung – mir scheint es gera­de mit die­sem buch so, als schrie­be sich der sowie­so schon am ran­de des ästhe­ti­schen und ins­be­son­de­re des lite­ra­ri­schen dis­kur­ses ste­hen­de jirgl immer mehr ins abseits: ob er die­se bewe­gung noch frucht­bar wei­ter­füh­ren kann?

ist peter licht eine trübe tasse?

ich blei­be jetzt ein­fach mal bei der frü­he­ren schreib­wei­se als nor­ma­ler name. obwohl die neue kon­tra­hier­te form den kunst­cha­rak­ter die­ser bezeich­nung ja schon deut­li­cher macht. ande­rer­seits war es ja gera­de der witz, das man (zunächst) nicht wuss­te, wo der künst­ler auf­hört und der mensch anfängt, der den frü­he­ren peter licht inter­es­san­ter gemacht hat. auch die musik sei­ner ers­ten bei­den alben, stra­to­sphä­ren­lie­der und 14 lie­der, hat mir bes­ser gefal­len als sein aktu­ells­tes, die lie­der vom ende des kapi­ta­lis­mus. und zwar nicht nur (aber auch ein wenig) text­lich (frü­her: mehr witz, mehr sku­r­il­li­tä­ten, absur­di­tä­ten der gegen­wär­tig­keit), son­dern vor allem musi­ka­lisch – wenn peter licht so stink­nor­ma­len gitar­ren­pop macht, wird das gan­ze pro­jekt irgend­wie doch eben auch ganz nor­mal und nichts beson­de­res mehr. frü­her war zwar nicht alles bes­ser, aber sei­ne musik hat­te den ent­schei­den­den kick über­dreht­heit mehr, der sie inter­es­sant wir­ken ließ.

aber hier soll es ja eigent­lich um sein buch gehen: peter­licht: wir wer­den sie­gen! buch vom ende des kapi­ta­lis­mus. mün­chen: blu­men­bar 2006. und das lässt zunächst ein­mal die übli­chen befürch­tun­gen wahr wer­den: geschrie­ben, sozu­sa­gen schwarz auf weiß, wirkt das alles nur noch halb so gut – plötz­lich merkt man eben, wie bil­lig und abge­nutzt die wort­wit­ze­lei­en in wirk­lich­keit schon sind. schwarz auf weiß ist übri­gens falsch, das buch ist in (hell-)blau (mit ein wenig blass­rot) gedruckt. und in einer ziem­lich kata­stro­pha­len schrift gesetzt, mit abso­lut unmög­li­chen i‑ligaturen – sogar rück­wärts bei der ver­bin­dung gi, die einem das lesen schon fast wie­der ver­lei­den. aber immer­hin kann man ja noch peter lichts kugel­schrei­ber-gekrit­zel bestau­nen. aber auch das gab es schon mal, in der per­fek­ten form etwa bei die­ter roths tele­fon­zeich­nun­gen – wenn man sich das vor augen hält, wirkt peter licht auf ein­mal wie­der wie ein ganz klei­nes licht (‚tschul­di­gung, der witz muss­te jetzt mal sein).

die abso­lu­te und ganz typi­sche all-round-ver­mark­tung hat inzwi­schen von peter licht besitz ergrif­fen: musik, thea­ter, buch, dem­nächst kommt bestimmt noch ein kino­film… auch sei­ne masche mit der anony­mi­tät ist natür­lich eben nur eine masche, die bei der öko­no­mi­schen ver­wer­tung hilft: peter­licht ist die mar­ke, die muss erkenn­bar sein und sich vom rest abhe­ben. immer­hin behaup­tet peter licht m.w. nicht, dass es anders sei…

was ist das also für ein buch: das ist ein net­tes und hüb­sches sam­mel­su­ri­um: klei­ne erzäh­lun­gen, nota­te, gedan­ken-fund­stel­len, sinn­sprü­che und natür­lich lied­tex­te (kom­plett erwar­tungs­ge­mäß die „lie­der vom ende des kapi­ta­lis­mus“, aber auch ande­re, älte­re – inklu­si­ve dem fast unver­meid­li­chem „son­nen­deck“, das über­ra­schen­der­wei­se zu den gelun­gens­ten sei­ten die­ses buches gehört:

„wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich
und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
oder im aqua­ri­um
bin ich bin ich
und alles was ist
dau­ert drei sekun­den:
eine sekun­de für vor­her eine für nach­her
und eine für mit­ten­drin
für da wo der glet­scher kalbt
wo die sekun­den
ins blaue meer flie­gen

und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm son­nen­deck
bin ich bin ich bin ich bin ich“

[mit den drei sekun­den hat er sogar mal wirk­lich recht, das haben die psy­cho­lo­gen ja als die unge­fäh­re zeit­span­ne der „gegen­wart“ bestim­men kön­nen.]

dane­ben steht aber auch etli­ches an lei­der ziem­lich ein­fäl­tig-pri­mi­ti­ven lyrik – zusam­men gemischt zu einer in jedem zei­chen, in jedem bana­len gekrit­zel bedeu­tung sug­ge­rie­ren­den mix­tur, die aber auch wie­der nur lee­res geblub­ber ist. das gan­ze dreht sich ger­ne immer wie­der um licht & damit ver­bun­de­ne meta­phern. aber die zweit- oder dritt­ver­wer­tung sei­ner ideen & gedan­ken, die in ihren ursprüng­li­chen for­men – meist eben dem lied – wesent­lich fri­scher & inter­es­san­ter wir­ken & auch sind, wie das die „trans­syl­va­ni­sche ver­wand­te“ sehr deut­lich macht, lässt sich am bes­ten wie­der mit peter licht selbst cha­rak­te­ri­sie­ren: „das hier macht lala­la und ver­sen­det sich“ punkt.

sei­nem spiel­trieb hat er dabei rei­lich frei­en lauf gelas­sen – oft wünscht man sich nichts sehn­li­cher, als den gebrauch der ver­nunft und des ver­stan­des durch den autor. ich muss dann aller­dings auch zuge­ben, dass es nicht ganz so schlimm ist, wie sich das hier jetzt lesen mag. und dass trotz allem geme­cker auch ein paar net­tig­kei­ten dabei sind. und zwar vor allem da, wo die poe­ti­sche beschrei­bun­gen ein gleich­ge­wicht mit den bana­li­tä­ten des all­tags, denen sich peter licht so ger­ne wid­met, auch sprach­lich ein­ge­hen. und außer­dem lässt sich gene­rell beob­ach­ten: eine gewis­se leich­tig­keit, ein schwe­ben, – fast wie in der schwe­re­lo­sig­keit – die schwer­kraft ist ja, dar­auf hat peter licht bereits frü­her hin­ge­wie­sen – über­flüs­sig – im welt­raum geht’s ja auch ohne sie…

aber trotz­dem: im gesam­ten scheint mir das doch eben genau die art von bedeu­tungs­schwan­ge­rem gerau­ne und pseu­do­in­tel­lek­tu­el­ler pseu­do­kunst zu sein, die mir den pop in sei­ner ein­fa­chen form der gegen­wart so oft so sehr ver­lei­det. ist das jetzt womög­lich ein deut­sches phä­no­men?

joachim lottmann beobachtet zombies in freier wildbahn

der neu­es­te anschlag lott­manns auf guten geschmack und über­kom­me­ne wer­te: joa­chim lott­mann: zom­bie nati­on. köln: kie­pen­heu­er & witsch 2006.

der erzäh­ler – ein autor-klon mit dem namen johan­nes­loh­mer, „erfin­der“ des pop-romans – beob­ach­tet sich beim recher­chie­ren /​schrei­ben eines fami­li­en­ro­mans, der sei­nem jugend­ro­man fol­gen soll: „der ers­te fami­li­en­ro­man der pop­li­te­ra­tur“ behaup­tet der klap­pen­text (was natür­lich blöd­sinn ist, allein fich­te hat da ja schon eini­ges dazu geschrie­ben). und natür­lich ist „zom­bie nati­on“ auch gar kei­ner. höchs­tens als per­si­fla­ge auf die aktu­el­le schwem­me auf dem bücher­markt. dazu ist lott­mann ja immer wie­der gut: als seis­mo­graph. und als schlag­wort-lie­fe­rant – ein bei­spiel? aber klar doch, gleich auf dem umschlag: „was frau­en den män­nern antun, ist der eigent­li­che irak-krieg unse­rer epo­che.“ das steht da ein­fach mal so und war­tet, dass jemand drauf anspringt. was ja hier­mit offi­zi­ell erle­digt wäre …

„die letz­ten tage der ber­li­ner repu­blik“ sind das zen­trum des romans – die ansprü­che sind gesun­ken, die mensch­heit war ein­mal, heu­te geht es nur noch um uns: die mit­drei­ßi­ger oder vier­zi­ger kul­tur­schaf­fen­den… typisch für lott­mann ist natür­lich wie­der der iro­nie-over­kill, sein schein-rea­lis­mus, inklu­si­ve voll­zi­tat eini­ger jour­na­lis­ti­schen arbei­ten lott­manns
(aus der sz und der taz), ver­quickt noch dazu mit eini­gen pri­va­ten abson­der­lich­kei­ten – und schon ist das neue buch fer­tig. schnell geschrie­ben, schnell gele­sen und wahr­schein­lich auch schnell wie­der ver­ges­sen.

das fabu­lie­ren hat lott­mann aber ganz gut draf: die hyper­tro­phe meta­phern­schlacht im geis­te einer simu­lier­ten erzäh­le­ri­schen unschuld, die natür­lich stän­dig geschickt umspielt wird – genau wie das ima­gi­nier­te zwie­ge­spräch zwi­schen erzäh­ler und ima­gi­nä­rem leser ger­ne mal reflek­tiert, umge­dreht wird, um dann doch kei­ne rück­sicht zu neh­men oder gera­de erst recht, je nach momen­ta­ner stim­mung: „es fällt mir schwer, den leser mit einer wie­der­ga­be eines frem­den lebens zu behel­li­gen, anstatt über das eige­ne leben zu berich­ten.“ – „der lite­ra­tur­be­trieb ver­zei­he mir, aber ich konn­te nicht anders, als wie­der mit ihr zu schla­fen.“

das gesamt­pa­ket wird dann mit dem herr­li­chen rosa des umschlags abge­run­det: die züch­ti­ge unschuld – aber dann natür­lich die streich­zei­chung der bar­bu­si­gen jung­frau mit gül­de­nem haar –, die beob­ach­tung der schreck­lich ange­pass­ten jugend des jah­res 2005 und ver­zweif­lung über ihre sinn­lo­sig­keit beschäf­ti­gen lott­mann: wer schon in sei­ner jugend das leben sei­ner eltern führt – was soll aus dem noch wer­den? und wenn das ein gan­zes volk so macht? dann amü­siert man sich mit sei­ner heim­li­chen lie­be, der bild-zei­tung: „ein schö­ner beginn, eine tol­le geschich­te, mit einem nach­teil: sie stand in der bild­zei­tung und war somit erfun­den.“

und wer sind nun eigent­lich die zom­bies? und die zom­bie nati­on? kei­ne ahnung. aber sie haben die gro­ße koali­ti­on ver­schul­det und ver­ant­wor­tet.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén