Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: frühe neuzeit Seite 1 von 2

fischernetz (detail)

Ins Netz gegangen (16.5.)

Ins Netz gegan­gen am 16.5.:

  • Weswe­gen der Ver­weis auf „Führungss­chwäche“ das Prob­lem der Bun­deswehr nicht trifft. Die Skan­dale bei der Bun­deswehr als unge­wollte Neben­fol­gen von Kam­er­ad­schaft­ser­wartun­gen | Sozialthe­o­ris­ten → ste­fan kühl über die bun­deswehr, ihre beson­dere (und wohl notwendi­ge) form der kam­er­ad­schaft und die frage der “führungss­chwäche”

    Die Bun­deswehr hat mit ihrem in der Öffentlichkeit geze­ich­neten Wun­schbild nichts zu tun. Jen­seits der for­malen Ord­nung gibt es in Armeen immer auch Prob­leme der Zusam­me­nar­beit, die nicht durch die for­male Ord­nung gelöst wer­den kön­nen. Vor allem die konkrete Leis­tungsmo­ti­va­tion der Mit­glieder, beson­ders aber die rei­bungslose Lösung der Prob­leme der alltäglichen Zusam­me­nar­beit zwis­chen den Organ­i­sa­tion­s­mit­gliedern lassen sich nicht durch for­male Vorschriften allein garantieren. Und genau hier greifen die in Kam­er­ad­schaft­snor­men verdichteten infor­malen Erwartun­gen.

    Jed­er Sol­dat weiß, dass eine Armee nur deswe­gen funk­tion­iert, weil von den for­malen Regel­w­erken immer wieder abgewichen wird.

  • Vor­rats­daten­spe­icherung wird jet­zt schon aus­geweit­et | Zeit → das gesetz zur vor­rats­daten­spe­icherung ist noch nicht umge­set­zt, da wird es schon aus­geweit­et — und die ver­sprechen der poli­tik­er gebrochen. das sollte es dem bver­fg doch eigentlich leichter machen, die fehlende ver­fas­sungstreue zu erken­nen …
  • Ähn­lichkeits­beschla­gung. Fün­fte These zur Geschicht­skul­tur | zzz → achim landwehrs seziert weit­er­hin sehr tre­f­fend (und spitz­züngig) die geschicht­skul­tur unser­er gegen­wart:

    Die fün­fte These zur Geschicht­skul­tur lautet: Die deutsche Geschicht­skul­tur des frühen 21. Jahrhun­derts tendiert dazu, Ver­gan­ge­nes nicht mehr als fremd und irri­tierend wahrzunehmen, son­dern es sich der eige­nen Gegen­wart anzuäh­neln. […] Und die Ten­denz lautet: Ver­gan­gen­heit wird mit Ähn­lichkeit beschla­gen. Ganz im Sinne der erken­nt­nis­the­o­retis­chen Bin­sen­weisheit, dass man nur sehen kann, was man bere­its weiß, zeigt sich am Beispiel der gegen­wär­ti­gen Geschicht­skul­tur, dass sie häu­fig nur noch wis­sen will, was sie ohne­hin schon sieht. Und das ist meis­tens nichts allzu weit ent­fer­nt von der eige­nen Nasen­spitze. […] Das Andere, das ver­gan­gene Zeit­en für uns sein kön­nten, wird dadurch in Eigenes und Ver­trautes ver­wan­delt und muss eine Ähn­lichkeits­beschla­gung über sich erge­hen lassen. Der Vor­gang ließe sich auch mit der angemesse­nen Neg­a­tiv­ität zum Aus­druck brin­gen: Es geht um Störungsver­weigerung. […] Kann man dann über­haupt noch nach der Aktu­al­ität des Gewe­se­nen fra­gen? Sicher­lich kann man das. Aber nicht unter scham­los­er Aus­nutzung des bere­its benan­nten Macht­ge­fälles zwis­chen Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit. Wir müssen dem Ver­gan­genen seine Einzi­gar­tigkeit nicht nur zugeste­hen, son­dern sie auch schützen. Nur dann kann es zu einem Dia­log kom­men zwis­chen den Zeit­en, nur dann kön­nen wir etwas ler­nen aus dieser Beziehung (denn wir ler­nen nicht ‚aus der Ver­gan­gen­heit‘, son­dern aus der Art und Weise, wie wir uns auf Ver­gan­gen­heit­en beziehen), nur dann kön­nen wir uns durch das Ver­traut-Frem­dar­tige, durch das Bekan­nt-Ver­wirrende hin­re­ichend aus dem Trott brin­gen lassen, um nicht nur die Ver­gan­gen­heit, son­dern auch unsere Gegen­wart neu und anders zu befra­gen.

  • Marathon­läufer über TV-Sportvielfalt: „Nicht alle mögen den Fußball“ | taz → arne gabius spricht mit der taz über die monokul­tur der sport­berichter­stat­tung in den deutschen medi­en und die schä­den, die das — nicht nur für die ver­nach­läs­sigten sportler/innen — nach sich zieht
  • His­torik­erin über Fürstin Maria There­sia: „Man ging leg­erer mit Trav­es­tie um“ | taz → span­nen­des und inter­es­santes inter­view mit stoll­berg-rilinger über maria there­sia und das ancien régime

    Was die Geschlech­ter­dif­ferenz ange­ht, war man im Ancien Régime deut­lich flex­i­bler als im 19. Jahrhun­dert. In der höfis­chen Gesellschaft ging man viel leg­erer mit Trav­es­tie und Homo­sex­u­al­ität um. Trans­gen­derverklei­dun­gen waren an der Tage­sor­d­nung. Das erschien im bürg­er­lichen 19. Jahrhun­dert als absoluter Sit­ten­ver­fall. […] Das Span­nende am Meti­er der Geschichte ist ja, sich die Fremd­heit des Anderen vor Augen zu führen. Pro­jiziert man eigene Wertvorstel­lun­gen in die Geschichte, bestätigt man nur, was man sowieso schon empfind­et. Ich brauche Maria There­sia nicht, um Fem­i­nistin zu sein.

  • Short-Attack­en oder Pech durch Mit­tod – Mil­liar­den ver­nichtet! | Wild Dueck Blog → gunter dueck über short-attack­en mit­tels geschickt platziert­er gerüchte — und die daran fleißig mitver­di­enen­den banken

    Man kann Mil­lio­nen schef­feln, indem man vage Vor­würfe gegen eine börsen­notierte Fir­ma im Inter­net for­muliert, am besten so, dass sich die Vor­würfe nicht sofort entkräften lassen. Das betrof­fene Unternehmen braucht dann ein paar Tage für eine ser­iöse Antwort – bis dahin rauscht der Kurs aber nach Süden ab. Da haben die Leerverkäufer gut Zeit zum Kassemachen. Was das betrof­fene Unternehmen nach einiger Bedenkzeit und Rechts­ber­atung antwortet, ist schon egal. Die schwarzen Rit­ter sind schon weg, das Unternehmen leckt seine Wun­den, die Aktionäre sitzen auf schw­eren Ver­lus­ten.

  • How the KGB infil­trat­ed clas­si­cal music | Spec­ta­tor → nor­man lebrecht plaud­ert ein biss­chen über emil gilels und die kol­portierten spi­one in seinem umfeld …
fischnetz

Ins Netz gegangen (1.3.)

Ins Netz gegan­gen am 1.3.:

  • Grüne Welle für Rad­fahrer | Zeit → Andrea Rei­dl berichtet von sehr deutschen Ver­suchen, grüne Wellen für Rad­fahrerin­nen zu etablieren: Mit viel Tech­nik, die gerne auch noch den Radlern aufge­bürdet wird (wie eine notwendi­ge App von Siemens, die natür­lich alle Bewe­gun­gen erfasst …)
  • Rot­er Mar­mor | Flo­hbude → die flo­hbude war auf ein­er ver­anstal­tung der säch­sis­chen afd-frak­tion — ein dur­chaus faszinieren­der und erhel­len­der (langer) bericht, aber auch bedrück­end
  • Zum Tod des His­torik­ers Peter Blick­le: Wie geht Demokratie? | NZZ → urs hafn­er erin­nert an den kür­zlich ver­stor­be­nen his­torik­er peter blick­le:

    Jet­zt, im Angesicht der autoritären Inter­na­tionale, käme Blick­les Zeit wieder, jet­zt gewin­nen seine Analy­sen neue Aktu­al­ität: Wie macht man Poli­tik, wie schafft man Demokratie? Für die Zeit von 1300 bis 1800 hat Blick­le dies ein­dringlich aufgezeigt und neue Per­spek­tiv­en eröffnet. Vielle­icht hat er mit seinem Forschen, das um die sich in ihren Gemein­den organ­isieren­den Bauern und ein­fachen Bürg­er kreiste, Deutsch­land eine demokratis­che Tra­di­tion geben wollen, eine Alter­na­tive zur unheil­vollen Tra­verse vom Bauern­feind Luther zum Dik­ta­tor Hitler.

    auch wolf­gang schmale würdigt blick­les leis­tun­gen in seinem blog.

  • I Was a Mus­lim in the Trump White House—and I Last­ed Eight Days | The Atlantic → eine amerikaner­in, die im/für den nation­al secu­ri­ty coun­cil arbeit­ete, berichtet über die änderun­gen der let­zten wochen …
  • Umwelth­is­torik­er über Win­terurlaub: „Natur stört generell“ | taz → gutes inter­view mit einem wis­senschaftler, der vor marki­gen worten nicht zurückschreckt und am win­ter-/ski­touris­mus der alpen mit all seinen auswüch­sen wenig pos­i­tives ent­deck­en kann …

    Win­ter­sport­ge­bi­ete waren immer Fab­riken für touris­tis­che Zufrieden­heit. Und die touris­tis­chen Wer­be­bilder weck­en Erwartun­gen an die Kul­tur­land­schaft.

Musik

DIe Music mein ich hier / die Sinn und Muht durch­dringet /
und mit der Liebligkeit biß in das Mar­ck erklinget.
wo nicht­es anders son­st des Men­schen Muht bewegt /
da ist sie offters / die den Geist in ihm erregt;
und der vor lange Zeit betrü­bet hat gesessen /
der kan durch die Music bald wer­den so ver­messen /
daß er mit gra­dem Fuß lest sehen was er kan /
und stelt sich / als wolt er den hohen Him­mel an.
[…]

Sibyl­la Schwarz, Auß dem Lob ein­er Nacht­mu­sic

Augentrost aus fernen Zeiten

Augen­trost — das ist mal ein Buchti­tel! Dabei ist es gar keine Neuschöp­fung, denn Con­stan­ti­jn Huy­gens schrieb seine Euphra­sia schon 1647. Der Titel ist übri­gens schnell erk­lärt: Der Augen­trost (Euphra­sia offic­i­nalis) ist eine Wiesenpflanze, seinen Namen hat er auf­grund sein­er angenomme­nen Heil­wirkung. Das muss uns aber nicht weit­er beschäfti­gen, denn hier geht es ja um Lit­er­atur. Um ein Trostgedicht, das aus eher pri­vatem Anlass ent­stand (und zunächst auch noch nicht über 1000 Verse umfasste): Huy­gens, der selb­st (manch­mal) eine Brille trug, schrieb es als Trost für eine Fre­undin (die im Text als “Parthe­nine” auf­taucht) und offen­bar den Ver­lust eines Auges zu bekla­gen hat­te. Aber, wie das Nach­wort wiederum ganz richtig bemerkt, es ist mehr als ein Trostgedicht (ich würde sog­ar sagen: Es ist gar kein Trostgedicht mehr …), es ist ein richtiger Nar­ren­spiegel, der die ganze Gesellschaft — die Dichter übri­gens aus­drück­lich eingeschlossen — auf­spießt.

huygens, augentrost (cover)Huy­gens, ver­rät mir das Nach­wort des Über­set­zers Ard Posthu­ma, ist “ein Klas­sik­er der nieder­ländis­chen Lit­er­atur” (und auch ein recht pro­duk­tiv­er Kom­pon­ist, neben seinen zahlre­ichen anderen Tätigkeit­en und Berufen), in Deutsch­land aber wohl eher unbekan­nt. “Huy­gens’ Sprachvir­tu­osität war gren­zen­los”. Und das merkt man. Wobei ich das gle­ich wieder ein­schränken muss: Denn ich kenne nur die Über­set­zung. Die ist aber sehr pfif­fig. Inwieweit Posthu­ma damit der Sprache und dem Text Huy­gens’ gerecht wird, entzieht sich mein­er Beurteilung. Als deutsch­er Text, der 2016 erschien, ist er aber auf jeden Fall lesenswert. Denn Posthu­ma liefert einen Text, der nicht nur erstaunlich flüs­sig zu lesen ist, son­dern sich — und das macht das Lesev­ergnü­gen deut­lich größer — genau an das metrische Vor­bild des Orig­i­nals, die sechshe­bi­gen Jam­ben mit wech­sel­nden Kaden­zen und den Paar­reim hält. Manch­mal wird das sog­ar richtigge­hend salopp und fast flap­sig (auch der “Lah­marsch” hat einen Auftritt …).

Nun ist aber immer noch unklar, was dieser Augen­trost denn nun eigentlich ist. Kurz gesagt: Ein Langgedicht in 1002 Versen (Alexan­drinern) über die Blind­heit oder vielle­icht bess­er: über die vielfälti­gen For­men, in denen Men­schen blind sein kön­nen. Das organ­isiert Huy­gens nach ein­er kleinen Ein­führung als einen Kat­a­log von Men­schen­grup­pen, die er als blind kat­e­gorisiert. Meis­tens sind sind sie es nicht in wörtlich­er Hin­sicht, son­dern in über­tra­gen­er, weil sie das Eigentliche des Lebens — und des Glaubens, des christlichen Gottes (da bleibt Huy­gens ganz und gar ein Kind sein­er Zeit) — nicht sehen, d.h. nicht erken­nen, son­dern gierig, geizig, hastig, müßig­gän­gerisch sind. So haben sie alle einen Auftritt, die Gesun­den und Kranken, die Gelehrten und die Eifer­süchti­gen, die jun­gen Leute, die Jäger, die Schnat­ter­er, der ganze Hof — man merkt, das ist wirk­lich eine Art sozi­ol­o­gis­ches Gesellschaftspanora­ma, das Huy­gens hier entwirft. Und natür­lich sind, darum geht es ja schließlich, alle blind, ihr Sehen der Welt, ihre Sichtweise auf Men­schen, Hand­lun­gen und Dinge ist eingeschränkt — meis­tens, weil sie das große Ganze des christlichen Heil­s­planes nicht (er)kennen oder nicht im Sinn behal­ten. Auch das eigene Leid und das Leid der anderen und der Umgang mit dem Leid über­haupt spie­len immer wieder eines beson­dere Rolle. Schließlich ist das ins­beson­dere für Chris­ten ein Punkt der Prü­fung (eine Art pri­vates Theodizee-Prob­lem): Warum lässt Gott mich/die Men­schen lei­den?

Wer klagte da nicht gern, würd’s nach­her bess­er gehn! / Wer aber brächte je des Him­mels Lauf zum Stehn? Vers 49–50

Erstaunlich fand ich dabei oft den fast krassen Real­is­mus der Beschrei­bun­gen, die er benutzt. Beson­ders deut­lich wird das, wenn er die Liebeslyrik-Kon­ven­tio­nen sein­er Zeit mit der banalen (und im Ver­gle­ich zum Ide­al hässlichen) Real­ität kon­fron­tiert (Verse 360ff.). Und neben­bei find­et man auch eine inter­es­sante Abw­er­tung der (real­is­tis­chen) Malerei (460ff.), weil sie doch immer bloß ein unvol­lkommenes, unfer­tiges, unvoll­ständi­ges Abbild der Welt — dieser vol­lkomme­nen göt­tlichen Schöp­fung — darstellt. Die Liste ließe sich noch weit­er fort­set­zen — so ziem­lich jed­er Leser, jede Leserin dürfte hier auf inter­es­sante Beobach­tun­gen und Schilderun­gen stoßen.

Zum Augen­trost gehört auch noch eine kurze Vorrede (im Orig­i­nal lateinisch), voll gestopft mit Topoi der Beschei­den­heit. Das fängt schon mit ein­er War­nung — dieser Text sei nichts für Leser, die die Größe antik­er Autoren zu schätzen wis­sen — an und gipfelt in dem Hin­weis: “Sollte das Hauptwerk miss­fall­en / genieße das Bei­w­erk.” Und natür­lich funk­tion­iert es, man möchte dann erst recht weit­er­lesen. Der Rest der Para­texte (des “Bei­w­erks”) fehlt in dieser Edi­tion der Über­set­zung bei Rei­necke & Voß lei­der zum größten Teil, so dass man Huy­gens’ Empfehlung gar nicht fol­gen kön­nte. Durch Anmerkun­gen des Über­set­zers — die sich aber nur auf die Bibel­stel­len­ver­weise/-anspielun­gen beziehen, die wiederum zum großen Teil recht klar & ein­deutig sind, wird das wenig­stens zum Teil wieder wett gemacht. Die Aus­gabe ist sowieso eine, die ihr Licht unter den Schef­fel stellt (um auch ein bib­lis­ches Bild zu bemühen): das Äußere ist eher zweck­mäßig als schön, was etwa das Druck­bild (und die recht häu­fi­gen Fehler) ange­ht. Dafür ist sie aber auch recht wohlfeil zu erwer­ben.

Nur eine Sorte noch: Autoren sind auch Blinde, / beson­ders die von dir geliebten Dichter­fre­unde. / Die sind so dicht wie blind; sie sehen nur den Reim / und gehen in der Kun­st den Wörtern auf den Leim / … / Das ist Poet­en-Art, denn die zu dicht­en pfle­gen / sehen kein schöneres Ei als was sie sel­ber leg­en. / Ver­prügeln kannst du ihn, doch sagt er unen­twegt, / dass kein Poet so schön wie er die Laute schlägt. Verse 913ff., 941ff.

Soll man den Augen­trost also lesen? Wenn es nach Huy­gens selb­st geht, gar nicht unbe­d­ingt. Er begin­nt näm­lich gle­ich in der Vorrede — also direkt mit den allerersten Versen — mit ein­er War­nung:

Lies mich bitte nicht, / wenn besseres Salz dir zuste­ht / und dir keine Speise schmeckt, / die fad­er ist als die der Alten. / Lies mich bitte nicht. Wozu deine Augen / (oder ein Auge nur) peini­gen?

Aber wer lässt sich von so etwas denn schon abhal­ten? Die Lesezeit-Schätzung, die Huy­gens in seinen Text ein­flicht (Vers 137: “zum Lesen sind gut zwei, drei Stun­den vorge­se­hen”), stimmt übri­gens ziem­lich genau: Mehr als zwei, drei Stun­den benötigt man dafür nicht. Aber das sind dann doch zwei, drei sehr vergnügliche, unter­halt­same und auch belehrende Stun­den.

Con­stan­ti­jn Huy­gens: Euphra­sia. Augen­trost. Über­set­zt und her­aus­gegeben von Ard Posthu­ma. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. [ohne Seiten­zäh­lung]. ISBN 9783942901222

Ins Netz gegangen (30.3.)

Ins Netz gegan­gen am 30.3.:

  • Welche Ursachen das Töten im Namen Gottes hat | FAZ — ein sehr guter gast­beitrag von friedrich wil­helm graf (der ja meis­tens sehr kluge dinge sagt …) in der “faz” über ursachen des religiösen ter­rors

    Es dient nicht der Entschuldigung der derzeit im Namen Allahs aus­geübten Ver­brechen, mögliche his­torische Par­al­le­len sicht­bar und auf die Gewalt­po­ten­tiale in allen Reli­gio­nen aufmerk­sam zu machen. Aber es ver­hin­dert eine falsche, essen­tial­is­tis­che Sicht auf den Islam, den es so wenig wie das Chris­ten­tum gibt. Die mus­lim­is­chen Reli­gion­skul­turen in Europa sind in sich höchst vielfältig und durch ganz unter­schiedliche kollek­tive Erfahrun­gen geprägt. Mus­lime in Kreuzberg, deren Eltern oder Großel­tern einst aus der Türkei kamen, teilen nicht die trau­ma­tisieren­den Erin­nerun­gen an kolo­niale Fremd­herrschaft, die für viele franzö­sis­che, noch vom Alge­rien-Krieg geprägte Mus­lime kennze­ich­nend sind.

    Nach den Anschlä­gen von Paris und nun auch Brüs­sel ließ sich im poli­tis­chen Betrieb eine Reak­tion beobacht­en, die nur als falsches seman­tis­ches Invest­ment beze­ich­net wer­den kann: Staat­spräsi­den­ten, Regierungschefs und Parteivor­sitzende beschworen ein­hel­lig „die Werte Europas“ oder „des West­ens“, die man gegen alle ter­ror­is­tis­chen Angriffe vertei­di­gen werde.
    […] Aber mit Werte-Rhetorik ist nie­man­dem geholfen.

    „Wert“ war ursprünglich ein Begriff der ökonomis­chen Sprache, und seine Ein­wan­derung in ethis­che Debat­ten und juris­tis­che Diskurse hat nur dazu geführt, die frei­heits­di­en­liche Unter­schei­dung von geset­zlich kod­i­fizierten Recht­snor­men und moralis­chen Verbindlichkeit­en zu unter­laufen. Deshalb ist es fatal, wenn Vertreter des Rechtsstaates diesen im Kampf gegen den Ter­ror­is­mus nun als eine „Wertege­mein­schaft“ deuten.

    für einen the­olo­gen auch fast über­raschend, aber natür­lich abso­lut richtig und ein punkt, der immer wieder gestärkt und verdeut­licht wer­den muss (weil er so gerne vergessen wird):

    Für wirk­lich alle gilt allein das Recht, und deshalb sind Rechts­brech­er zu ver­fol­gen und zu bestrafen.

  • Aus dem Tage­buch eines Benedik­tin­er­pa­ters: Wie man 1684 im Dom in Mainz den Oster­son­ntags­gottes­di­enst feierte | All­ge­meine Zeitung — die mainz­er “all­ge­meine zeitung” bringt eine mod­ernisierte fas­sung eines tage­buch­berichts über die oster­feier 1684 in mainz, ver­fasst von einem reisenden benedik­tin­er­pa­ter joseph diet­rich aus dem kloster ein­siedeln in der schweiz
  • My Hero­ic and Lazy Stand Against IFTTT | Pin­board Blog — der pin­board-grün­der/­be­treiber maciej cegłows­ki erk­lärt, warum es seinen (übri­gens sehr empfehlenswerten) ser­vice nicht mehr bei ifttt gibt. die kurz­fas­sung: deren unver­schämten, erpresserischen bedin­gun­gen für entwick­ler
  • Wer­bung – für 6 Euro | Über­me­di­en — peter breuer blät­tert sich auf “über­me­di­en” durch die vogue — und ist wenig ange­tan

    Das The­ma der „Vogue“ ist: „Langeweile“. Sowohl in den Anzeigen als auch in der Foto­strecke. „Komm Baby, stell Dich mal so hin und schau so pikiert, als würdest Du an einen völ­lig verkocht­en Grünkohl denken.“ Die Mäd­chen sind dünn, die Gesichter leer, die Klam­ot­ten teuer. In den Sechzigern gab es einen Dr. Oetk­er-Spot, in dem eine Frau am Herd ste­ht, ein Fer­tig­gericht zaubert und ein Sprech­er sagt: „Eine Frau hat zwei Lebens­fra­gen: Was soll ich anziehen? Und was soll ich kochen?“ Die Frauen der „Vogue“ haben sog­ar nur eine Lebens­frage, und selb­st die macht ihnen offen­sichtlich keinen Spaß.

  • Inge­borg Bach­mann: “In mir ist die Hölle los” | ZEIT ONLINE — der ger­man­ist Joseph McVeigh durfte frühe briefe von inge­borg bach­mann benutzen und zitieren und ist nun sich­er, dass man das werk der autorin nur biographisch ver­ste­hen kann. zum glück ist die “zeit” gegenüber solchem method­is­chen unsinn etwas skep­tis­ch­er …

    “Ich habe keine Matratzen­schnüf­felei betreiben wollen”, sagt Biograf McVeigh, “aber wenn man die zer­störerische Wirkung der bei­den katas­trophal gescheit­erten Beziehun­gen auf das Leben von Inge­borg Bach­mann nicht berück­sichtigt, kann man ihr späteres Werk kaum ver­ste­hen.”

  • Pressemit­teilun­gen als Genre: Ein-Blick in die uni­ver­sitäre Aktenkunde der Neuzeit | UniBlog­gT — was eine sehr knappe und schnöde pressemit­teilung ein­er uni­ver­sität dem aktenkundlich ver­sierten his­torik­er alles ver­rat­en kann …

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Ins Netz gegan­gen am 4.6.:

  • The Dan­ish Cycling Expe­ri­ence — The Euro­pean — es ist ganz ein­fach:

    If you want to have bicy­cles cycling your city, you have to build your city for bicy­cles to cycle.

    oder:

    The main rea­son why the bike has become such a pop­u­lar choice: It’s the eas­i­est way! It’s healthy, cheap, sus­tain­able, and nowa­days the two-wheel­er is even pret­ty trendy in major cities around the world. But at the end of the day, sim­plic­i­ty is the one thing that real­ly counts for com­muters.

  • Des Kaiser’s neue Karte: Dis­rup­tion mit Daten­schutz? — Das gute dig­i­tale Leben — Medi­um — lea gim­pel über eine neue kun­denkarte, die zwar auf per­sön­liche dat­en verzicht­en, dabei aber — und das ist min­destens genau­so schlimm — weit­er dazu beiträgt, die sol­i­darische gesellschaft aufzulösen:

    Die absolute Preis­diskri­m­inierung ist der feuchte Traum jedes Wirtschaftswis­senschaftlers. Und wird sich bald auf alle Lebens­bere­iche erstreck­en: Vom Super­mark­teinkauf über das Tick­et für den öffen­lichen Nahverkehr bis zur Strom- und Wasserver­sorgung. Doch was passiert mit denen, die dabei nicht mit­machen wollen? Nach welchen Kri­tieren wer­den Preise gemacht, wer bes­timmt sie? Und welche gesellschaftlichen Auswirkun­gen hat die kom­plette Umstel­lung des Preis­mod­ells, das unserem Wirtschaftssys­tem zugrunde liegt?

  • The 20 Most Bike-Friend­ly Cities on the Plan­et | WIRED — With each edi­tion, the Copenhagen­ize Design Company’s Index of the most bike-friend­ly cities in the world evolves. In 2011 we ranked 80 glob­al cities; in 2013 we ranked 150.

    This year, we con­sid­ered cities with a region­al pop­u­la­tion over 600,000 (with a few excep­tions because of their polit­i­cal and region­al impor­tance, and to keep things inter­est­ing). We ranked 122 cities. The top 20 are pre­sent­ed here.

  • Vom Perga­ment ins Inter­net — das jgu-mag­a­zin berichtet über das dfg-pro­jekt der dig­i­tal­en veröf­fentlichung der augs­burg­er baumeis­ter­büch­er

    Die Augs­burg­er Baumeis­ter­büch­er sind ein außergewöhn­liche Quelle. “Es gibt fast aus jed­er größeren Stadt und selb­st aus kleineren Orten in Deutsch­land Kon­to­büch­er oder Rech­nungs­büch­er”, erk­lärt Rogge. “Sie sind nur unter­schiedlich gut über­liefert. Manche fan­gen erst um das Jahr 1500 an. Die Augs­burg­er Baumeis­ter­büch­er begin­nen 1320. Das ist sehr früh. Außer­dem sind sie bis zum Jahr 1800 fast kom­plett erhal­ten. Bei vie­len anderen Städten klaf­fen große Lück­en.” Und bei Augs­burg han­delt es sich um einen bedeu­ten­den Ort, eine Reichsstadt, eine weit­ge­hend autonome Kom­mune, die nur dem Kaiser unter­stand. “Sie war unter anderem stark in den inter­na­tionalen Han­del einge­bun­den.”

  • The­ma: 70 Jahre Auf­bau-Ver­lag: Bau Auf­bau auf | ZEIT ONLINE — burkhard müller porträt den (heuti­gen) auf­bau-ver­lag inkl. sein­er geschichte und seinen besitzer, matthias koch
  • Gle­iche Rechte als Son­der­rechte? — sehr gute aus­führun­gen von anna katha­ri­na marigold zur gle­ich­stel­lung vor dem recht in deutsch­land …
  • Hat­ten im Mit­te­lal­ter alle Men­schen schlechte Zähne? | blog.HistoFakt.de — das histo­fakt-blog über die zähne des mit­te­lal­ter­lichen men­schens — die wahrschein­lich (so weit wir das wis­sen) gar nicht so schlecht waren …

    wer etwas auf sich hielt, wird ohne Zweifel von den zahlre­ichen Möglichkeit­en zur Zah­npflege Gebrauch gemacht und auf frischen Atem geachtet haben. Da die typ­is­che Ernährung die Zah­nge­sund­heit zudem weit weniger gefährdete, als dies heutzu­tage der Fall ist, dürften also die meis­ten Men­schen im Mit­te­lal­ter ent­ge­gen pop­ulär­er Vor- und Darstel­lun­gen tat­säch­lich nicht über schlechte, son­dern im Gegen­teil über starke, gesunde und weiße Zähne ver­fügt haben.
    Nicht Ver­fall war im Mit­te­lal­ter die größte Gefahr für Zähne und Zah­n­fleisch, son­dern Ver­schleiß.

Ins Netz gegangen (5.1.)

Ins Netz gegan­gen am 5.1.:

  • Kolumne Bess­er: Wie der Herr, so’s Gescherr — taz.de — das gibt’s auch nicht jeden tag: dass ich deniz yücel zus­timme und seinen text auch noch gut finde. dank “pegida”-blödsinn ist’s möglich (und nötig!) — also lesen!:

    Pegi­da find­et die „Lügen­presse“ doof, die „Lügen­presse“ find­et Pegi­da doof. Aber es gibt Aus­nah­men: Stephan, Weimer, Matussek, Broder, di Loren­zo.

  • 32. Lep­an­to oder Der fort­ge­set­zte Miss­brauch der Ver­gan­gen­heit | Geschichte wird gemacht — achim landwehr beschäftigt sich (notge­drun­gen …) mit dem umstand, dass der afd-poli­tik­er ein­fach mal ohne anlass in der fas ohne beson­dere his­torische ken­nt­nis über die schlacht von lep­an­to schreibt.

    Was ler­nen wir aus diesem anson­sten gän­zlich zu ver­nach­läs­si­gen­den Beitrag?

    Miss­brauche nicht die Ver­gan­gen­heit in vere­in­fachen­der und ver­fälschen­der Form für bil­lige poli­tis­che Anliegen der Gegen­wart.
    Wenn du schon von dieser Ver­gan­gen­heit erzählst, dann tue es in möglich­er kom­plex­er, möglichst zahlre­iche Aspek­te berück­sichti­gen­der Form.
    Wenn du schon einen Artikel schreib­st, in dem bil­lige Ressen­ti­ments gegen Andere bedi­ent wer­den, dann schreibe wenig­stens einen guten Artikel. Üble Beiträge mit üblen Inhal­ten sind eine dop­pelte Belei­di­gung.
    Wenn du etwas aus Lep­an­to ler­nen willst, dann lerne dies: Es ist wirk­lich für alle Beteiligten bess­er, auf gegen­seit­ige Anerken­nung und Zusam­me­nar­beit zu set­zen als auf gegen­seit­iges Abschlacht­en.

    Muss man so etwas wirk­lich noch hin­schreiben?

  • Kraut von Rüben sortiert – Krautre­porter durchgezählt | Ver­wick­eltes — marc mit eini­gen inter­es­san­ten beobach­tun­gen und bemerkun­gen zu den “krautre­portern”. einiges deckt sich mit mein­er eige­nen erfahrung — etwa das gen­ervt­sein von den tilo-jung-plaud­er­stünd­chen. jeden­falls haben es die “krautre­portern”, denen ich ja gerne geld bezahlt habe (und so arg viel war es ja auch gar nicht) noch nicht geschafft, zu einem wichti­gen teil meines medi­enkon­sums zu wer­den — ich vergesse immer mal wieder, das zu check­en …
  • Höhlen: Geh zum Teufel! | ZEIT ONLINE — “Die Welt brauchte viel weniger Psy­chophar­ma­ka, wenn die Leute öfter in Höhlen gehen wür­den.” >
  • Das Auge liest mit — Nur wenige Lit­er­at­en nutzen die Ober­fläche ihrer Texte als eigen­ständi­ge Aus­drucks­form oder machen sich die Mühe, die materielle Grund­lage ihrer Texte — die Schrift – zu reflek­tieren. — fea­ture von jochen meißn­er, ca. 54 minuten
  • France’s rock star econ­o­mist Thomas Piket­ty turns down Legion of Hon­our | World news | The Guardian — piket­ty scheint ein mann mit charak­ter zu sein:

    French econ­o­mist Thomas Piket­ty has spurned the Legion of Hon­our, the country’s high­est dis­tinc­tion, on the grounds that the gov­ern­ment should not decide who is hon­ourable.

Ins Netz gegangen (31.12.)

Ins Netz gegan­gen am 31.12. (Aufräu­men zum Jahre­sende ..):

  • Jahres­rück­blick 2014: Blick zurück im Kreis | ZEIT ONLINE — die his­torik­erin fran­ka maubach ist mit dem gedenk­jahr 2014 nicht so ganz zufrieden:

    Es ist doch legit­im, ja sog­ar gut, über den rit­u­al­haft wiederkehren­den Kreis der Jahrestage ein gemein­sames his­torisches Reflek­tieren zu stim­ulieren. Das Prob­lem ist nur: Es gelingt nicht mehr. Die his­torischen Ereignisse, der­er gedacht wer­den soll, lassen sich kaum noch in Beziehung zueinan­der set­zen. Die Fliehkraft des Gedenkens sprengt sie auseinan­der. Das Einzel­ereig­nis wird nur noch kurz aufgerufen und kaum mehr in langfristige Zusam­men­hänge ein­ge­ord­net.

    am ende emp­fiehlt sie:

    Wie also kön­nen wir Geschichte schreiben, ohne deter­min­is­tisch zu denken und doch mit langem Atem zu argu­men­tieren? Wie kön­nen wir Ereignisse in deu­tende Ord­nun­gen fügen und zugle­ich zum Wider­spruch ein­laden? Wie kön­nen wir offen bleiben und uns trotz­dem für eine Per­spek­tive entschei­den?

    Dazu bedarf es eines Stand­punk­ts, der entsch­ieden ist, sich also über sich selb­st aufzuk­lären ver­mag. Und es bedarf ein­er his­torischen Urteil­skraft, die peni­bel aus­buch­sta­bierte Details in ihr Vorher und Nach­her und nach Rel­e­vanz ord­net. Bei­des kön­nen wir voraus­sichtlich noch brauchen. Spätestens dann, wenn die Fliehkraft des Gedenkens auch den Nation­al­sozial­is­mus von sein­er Vor- und Nachgeschichte isoliert.

  • Rumänien: Die unvol­len­dete Rev­o­lu­tion — karl-peter schwarz erin­nert beschreibend (weniger erk­lärend) an die rev­o­lu­tion 1989 in rumänien.

    Vor 25 Jahren stürzte der rumänis­che Dik­ta­tor Ceauşes­cu. Die Rev­o­lu­tion, die 1989 mit bluti­gen Kämpfen das Land in Chaos und Gewalt stürzte, blieb unvol­len­det.

  • 2014 – Die hil­fre­ich­sten Kun­den­rezen­sio­nen — Fre­i­t­ext
  • Revi­sions­berichte der NSA: Warten auf die Anklage — nils minkmar ganz unaufgeregt, aber vol­lkom­men zus­tim­mungs­fähig und ‑pflichtig:

    Doch wenn der West­en seine Iden­tität nicht ver­lieren will, sich gegen islamis­che, chi­ne­sis­che, rus­sis­che und son­stige Total­i­taris­men abgren­zen möchte, dann kön­nen die nun hin­länglich doku­men­tierten Über­griffe und Geset­zes­brüche nur eine Folge haben, näm­lich eine ordentliche rechtsstaatliche Aufar­beitung ohne Anse­hen der Per­son.

  • BOX2FLY — Handgepäck­kof­fer aus Well­pappe — coole idee: ein kar­ton, der genau ins handgepäck passt, den platz also bei min­i­malem eigengewicht opti­mal aus­nutzt
  • Tod ein­er Rev­o­lu­tionärin — Die Zeitschrift „Mit­tel­weg 36“ erin­nert an die außergewöhn­liche Radikal-Fem­i­nistin Shu­lamith Fire­stone : literaturkritik.de
  • Unbekan­nte Auto­bi­ogra­phie Georg Philipp Tele­manns aufge­fun­den | nmz — neue musikzeitung — Im His­torischen Staat­sarchiv Let­t­lands (Riga) wurde eine bish­er unbekan­nte Auto­bi­ogra­phie des Kom­pon­is­ten Georg Philipp Tele­mann (1681–1767) ent­deckt. Die auto­graphe Skizze befind­et sich in Mate­ri­alien aus dem Nach­lass des Rigaer Kan­tors Georg Michael Tele­mann, dem Enkel des berühmten Ham­burg­er Musikdi­rek­tors und Johan­neumkan­tors. Der Musik­wis­senschaftler Ralph-Jür­gen Reip­sch, Mitar­beit­er des Zen­trums für Tele­mann-Pflege und ‑Forschung Magde­burg, hat den sen­sa­tionellen Fund sowie eine bish­er gle­ich­falls unbekan­nte deutsch-franzö­sis­che Lebens­beschrei­bung in der aktuellen Aus­gabe der Zeitschrift Die Musik­forschung pub­liziert.
  • Liq­uid Ecsta­sy: Tödlich­er Schluck aus der Flasche — München — Süddeutsche.de — grandios: dass “GBL nicht vom Betäubungsmit­telge­setz erfasst ist, weil sie in der chemis­chen Indus­trie … uner­set­zlich ist” — so funk­tion­iert also dro­gen­pli­tik in deutsch­land
  • ünter-Eich-Preis für Ror Wolf « Lyrikzeitung — Der fan­tastis­che Ror Wolf erhält den Gün­ter-Eich-Preis
  • Jut­ta Dit­furth: News — LG München entsorgt die dt. Anti­semiten: Anti­semit ist nur, “wer sich pos­i­tiv auf die Zeit von ’33 bis ’45 bezieht” (ach, könte man doch nur ale prob­leme so lösen ..)
  • http://ecowatch.com/2013/lobster-boat-vs-coal-ship/ | Grist — unglaublich: Seat­tle versenkt sich im Abgrund … — das ist wahrhaftig geun­gene (Verkehrs-)Politik
  • 57. Nach­schlag zu einem “fröh­lichen” Ver­riss « Lyrikzeitung & Poet­ry News — auch ein “veriss”:

    am Boden liegt ein Bün­del von Zeitungsaus­ris­sen, die offen­sichtlich das fehlende Klopa­pi­er erset­zen sollen. Auf ein­er der Zeitungs­seit­en ste­ht ein Gedicht. Ich greife nach dem zur Hälfte zer­ris­se­nen Blatt, ver­suche den Text – ukrainisch – zu lesen, lese ihn mehrmals, und er kommt mir dabei immer bekan­nter vor. Der Name des Autors wie auch der Gedich­tan­fang fehlt, ist weg­geris­sen. Unter dem Gedicht ste­ht, dass es sich um eine Über­set­zung aus dem Deutschen han­delt. Vom Namen des Über­set­zers bleiben bloss ein paar Buch­staben: Wolod… ‒ Doch nun däm­mert es mir: Das ist mein Gedicht. Das ist eins mein­er Gedichte, zumin­d­est ein Teil davon.

  • Fem­i­nis­mus-Debat­te: Wir brauchen keinen Zum­ba-Jesus — taz.de — mar­garete stokows­ki:

    Fem­i­nistin­nen vorzuw­er­fen, sie seien nicht witzig, ist auf dreifache Art unangemessen. Erstens ist Humor ein­fach eine Frage des Geschmacks. Zweit­ens wieder­holt sich hier das alt­bekan­nte „Lach doch mal“ alt­bekan­nter Onkels, und drit­tens gibt es denkbar viele Momente im Leben, in denen Kämpfen und Lachen einan­der auss­chließen.

  • Folter bei der CIA: Der Sieg der Ter­ror­is­ten — FAZ — nils minkmar denkt über folter nach:

    Es herrscht ein erschreck­ender Man­gel an poli­tis­ch­er Phan­tasie. Was wird schon helfen gegen Mörder wie Khalid Sche­ich Mohammed? Es fällt uns nur wieder Gewalt ein. Dabei gibt es längst andere Erken­nt­nisse, wie man den Krieg gegen den Ter­ror erfol­gre­ich führen kann.

  • 500 Jahre alte Naum­burg­er Chor­büch­er wer­den dig­i­tal­isiert | nmz — neue musikzeitung — Es soll ein bib­lio­philer Schatz für die Ewigkeit wer­den: Die über 500 Jahre alten überdi­men­sion­alen Naum­burg­er Chor­büch­er wer­den restau­ri­ert und dig­i­tal­isiert. Die kom­plette Finanzierung muss noch gek­lärt wer­den, aber ein Anfang ist gemacht. «Mit acht Büch­ern ist es eine der umfan­gre­ich­sten mit­te­lal­ter­lichen Hand­schriften­samm­lun­gen», sagt Matthias Lud­wig, wis­senschaftlich­er Mitar­beit­er im Dom­s­tift­sarchiv Naum­burg.
  • Inte­gra­tion durch Sprachvorschriften? – Sprachlog — Es ist also klar, dass aus der Per­spek­tive des Spracher­werbs keine Notwendigkeit gibt, Migrant/innen dazu „anzuhal­ten“ oder auch nur zu „motivieren“, zu Hause Deutsch zu sprechen. Wir erin­nern uns: 65 Prozent tun es ohne­hin, ganz ohne Moti­va­tion seit­ens der Poli­tik.

Ins Netz gegangen (13.11.)

Ins Netz gegan­gen am 13.11.:

Aus-Lese #37

Daniela Krien: Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen. Berlin: List 2012. 236 Seit­en

krien, irgendwannNaja, das war keine so lohnende Lek­türe … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekom­men bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Ver­trauen­spunk­te zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teil­weise blöd: Ein junges Mäd­chen zieht kurz vor den Som­mer­fe­rien auf dem Bauern­hof der Fam­i­lie ihres älteren Fre­un­des ein, ver­nach­läs­sigt die Schule und gibt sich lieber ein­er selt­samen geheim gehal­te­nen Beziehung zu dem mehr als dop­pelt so alten Nach­bar­bauern hin, die vor allem auf ihrer Aus­nutzung und ihrem Miss­brauch (kör­per­lich, sex­uell und psy­chisch) beruht und natür­lich tragisch enden muss …
Das Set­ting im Som­mer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Gren­ze ist auch nicht so span­nend, gibt aber Gele­gen­heit, ein biss­chen (freilich nur wenig) Poli­tik und Geschichte einzu­flecht­en — und ist natür­lich ein Spiegel der Fig­ur Maria: In der Zwis­chen­zeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwach­sene — spiegelt sich das Land zwis­chen DDR und BRD … Aber da die Fig­uren alle reich­lich blass bleiben, von der Erzäh­lerin über ihre Rest­fam­i­lie bis zu Johannes und Hen­ner, kann sich da sowieso kaum etwas ent­fal­ten. Das merkt man sehr deut­lich an der müh­sam insze­nierten Inter­tex­tu­al­ität: Maria wird gerne als begeis­terte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monate­lang an Dos­to­jew­skis Die Brüder Kara­ma­sow herum, was natür­lich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lek­türe hier immer auss­chließlich eine iden­ti­fika­torische …). Auch die Kom­po­si­tion von Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen ist nicht weit­er bemerkenswert, eher klein­teilig angelegt, mit Schwächen in der Zeit­gestal­tung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschen­buch (ganze zwei Seit­en vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhn­lich ist.

alles in allem die über­steigerten Gefüh­le ein­er Siebzehn­jähri­gen in den Wirrun­gen ein­er unruhi­gen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)

Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Wien, München: Fritz Mold­en 1966. 419 Seit­en

basil, wenn das der führer wüßte

Eine schöne Idee der kon­trafak­tis­chen Geschichte: NS-Deutsch­land hat den Zweit­en Weltkrieg gewon­nen und sich die halbe Welt unter­tan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel erset­zt — oder ist das ein Mord und Staatsstre­ich? Die entsprechen­den Ver­mu­tun­gen kur­sieren und geben der Hand­lung im gle­ichzeit­i­gen Bürg­erkrieg und dem durch die bei­den Großmächte ent­fes­sel­ten atom­aren Krieg ordentliche Ver­wick­lun­gen und Hand­lungsantrieb. Dazwis­chen treibt Höll­riegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der ver­schwörung­stech­nisch in die große Poli­tik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Fig­ur: wenig Ahnung, dafür aber viel Sit­u­a­tion­s­geschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit sein­er Liebe bzw. seinem Begehren nach der (schein­bar) ide­alen (in ide­ol­o­gis­ch­er, d.h. rassen­ty­pol­o­gis­ch­er Sicht), aber unter nor­malen Umstän­den unerr­e­ich­baren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desil­lu­sion­ierend im Tod — allerd­ings nicht durch Ver­strahlung (das hätte noch etwas gedauert), son­dern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die kon­se­quente Weit­er­führung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ide­olo­gie mit ihren Auswüchen, den Grup­pen, dem Ein­heitswahn, der uner­schöpflichen Kat­e­gorisierungssucht etc. Ins­ge­samt lei­det das Buch aber daran, dass es diese kon­trafak­tis­che Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Hand­lun­gen sprechen lässt. Wun­der­bar sprechend sind dage­gen die vie­len, vie­len Namen … Jeden­falls eine dur­chaus unter­halt­same Lek­türe.

Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hat­te seinen Meldegänger zum großen Rap­port nach Wal­hall gerufen. (50)

Jür­gen Buch­mann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des ExterThals, nach denen Diari­is Sein­er Hoch Ehrwür­den Her­ren Mar­t­i­nus Oester­mann, wei­land Pfar­rer an St. Jako­bi zu Alme­na. Leipzig: Rei­necke & Voß 2014. 46 Seit­en

buchmann, bericht

Eine wun­der­bare Spiel­erei ist dieses kleine, feine Büch­lein (schon die ISBN: in römis­chen Zif­fern, eine echte Fleißar­beit …), eine nette Cam­ou­flage, echt­es Schel­men­stück (der Autor scheint ein in der Wolle getränk­te Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philol­o­gis­che Fan­ta­sy (der Bezug auf Tolkien taucht sog­ar im Vor­wort auf), nur in die Ver­gan­gen­heit ver­legt: Es han­delt sich um den (fik­tiv­en) Bericht eines gelehrten Landp­far­rers, der von ein­er Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekan­nt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Mor­pholo­gie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist einge­bet­tet und kom­biniert mit dem Tage­buch der „Ent­deck­ung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Krim­i­nal­fall des Ver­schwindens sowohl des Pfar­rers als auch sein­er Infor­man­tin (ein Wech­seln ins Elfen­re­ich liegt ganz märchen­typ­isch nahe, weil keine Leiche gefun­den wird …). Lei­der fehlt aus­gerech­net die Lexik der Elfen­sprache in den “Aufze­ich­nun­gen”, so dass die Frag­mente, die „Oester­mann“ „über­liefert“, dum­mer­weise unver­ständlich bleiben (aber wer weiß, vielle­icht haben sie ja sog­ar eine Bedeu­tung? — Das wäre eine schöne Auf­gabe für einen Com­put­er mit einem find­i­gen Pro­gram­mier­er …). Das ganze ist von Buch­mann ver­flixt geschickt vor­getäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder par­o­diert wor­den. Von dem Drumherum ist allerd­ings nicht alles gel­o­gen — das „Gelehrten-Lex­i­con“ von Jöch­er z.B., aus dem zitiert wird, gibt es dur­chaus — allerd­ings ohne den hier abge­druck­ten Ein­trag zu Oester­mann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seit­en beanspruchen die “über­liefer­ten” Texte samt edi­torischen Vor­worten und Anhän­gen von dem kleinen Leipziger Dichter-Ver­lag Rei­necke & Voß sehr schön her­aus­ge­bracht wor­den, mit angenehm passen­dem Satz und schö­nen Schriften.

Wir fassen die Let­tern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)

Ulf Stolter­fo­ht: Das deutsche Dichter­abze­ichen. Leipzig: Rei­necke & Voß 2012. 49 Seit­en

stolterfoht, dichterabzeichen

Und gle­ich noch ein schmales Bänd­chen von Rei­necke & Voss, den Hör­spiel­text Das deutsche Dichter­abze­ichen. des großen Lyrik­ers Ulf Stolter­fo­ht. Dich­tung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reg­uliertes, ent­behrungsre­ich­es Handw­erk insze­niert (ein biss­chen wie eine mod­erne Vari­ante der Meis­tersinger …), das ist ganz nett aus­gedacht. Zugle­ich ist es aber auch noch eine “Sys­tem­atik“ der Lyrik mit ver­schiede­nen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:

Wild­texte, die noch vor Zeit­en weite Teile Europas besiedel­ten, haben sich mit­tler­weile den immer spezielleren Anforderung­spro­filen unter­wor­fen. (17)

Weit­er geht es im belehren­den Gespräch über die Dichter-Aus­bil­dung, also die handw­erk­liche Kom­po­nente des Dicht­ens. Weit­eres, ganz wichtiges The­ma: Die kom­pet­i­tive Kom­po­nente des Dicht­ens, die Lesun­gen und die Wet­tbe­werbe. Das führt Stolter­fo­ht als Zirkus vor, als eine Art Dres­sur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possier­lich, gut für die Unter­hal­tung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und ver­gle­ichende Kom­po­nente der Dich­tung übergestülpt wird, ist das natür­lich — daraus macht der Text kein großes Geheim­nis — eine Para­bel auf den deutschen Lit­er­aturbe­trieb der Gegen­wart. Aber eine — ganz wie es das The­ma ver­langt — unter­hal­tende, in der sich dur­chaus — schließlich ist Stolter­fo­ht selb­st ein intel­li­gen­ter Teil­nehmer — wahre und tre­f­fende Beobach­tun­gen find­en:

Im Zeital­ter hoch entwick­el­ter Prosa hat das Gedicht an Bedeu­tung ver­loren. in dem Maße aber, in dem es aus sein­er natür­lichen Umge­bung ver­schwindet, wächst seine Beliebtheit als domes­tiziert­er Wet­tbe­werb­s­text. (7)

Schön auch kurz vor Schluss:

Etwas ganz beson­deres ver­birgt sich hin­ter der Beze­ich­nung „Viel­seit­igkeit­sprü­fung“: Der Dreikampf näm­lich aus Lyrik, lyrisch­er Über­set­zung und Poe­t­olo­gie — das alles an drei aufeinan­der fol­gen­den Tagen. (40)

Wal­ter Kem­pows­ki: Hamit. Tage­buch 1990. Berlin: btb 2010. Seit­en

kempowski, hamit

Mit diesem Buch habe ich mir Kem­pows­ki ver­lei­det, das ist zum Abgewöh­nen …
Hamit — die dialek­tale Vari­ante von “Heimat” — ist ein Tage­buch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kem­pows­ki heißt das: Er kann wieder Ros­tock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingek­erk­ert war. Weit­ere The­men des Tage­buchs: Die Medi­en — wie sie über Poli­tik und über ihn bericht­en -, die Fer­tig­stel­lung von Alkor, Zwistigkeit­en, Besuche etc. Dazwis­chen taucht noch die Samm­lung von Tage­büch­ern und Erin­nerun­gen ander­er Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Poli­tik der Gegen­wart spielt natür­lich eine Rolle, ger­ade hin­sichtlich des Vere­ini­gung­sprozess­es. Das ist aber auch der Bere­ich, wo Kem­pows­ki vor allem seinen Ani­mositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und weni­gen anderen) hat nie­mand je etwas kapiert, sehen alle die Wider­sprüche und Prob­leme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tage­buch, es ist min­destens zwei Mal über­ar­beit­et (und damit endgültig lit­er­arisiert) wor­den. Aber auch die Anmerkun­gen aus den 2000ern ver­stärken die Ten­denz der Besser­wis­serei noch lassen ihn als den einzi­gen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen ein­fach nicht erre­ichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressen­ti­ments gegen so ziem­lich alle und jeden (mit Aus­nahme vielle­icht bes­timmter Bere­iche der Ver­gan­gen­heit). Und eine große Eit­elkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Lit­er­aturbe­trieb, die Medi­en und die Kri­tik, aber auch sein Ver­lag, alle verken­nen seine Genial­ität und seine Leis­tun­gen. Dabei ist er doch uner­set­zlich, wie er ganz typ­isch beschei­den fes­thält:

Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschicht­en zurück. (284)

Was wür­den wir Armen also nur ohne ihn tun!

Mir war der Kem­pows­ki, der sich hier zeigt, jeden­falls aus­ge­sprochen unsym­pa­thisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Ver­di­enst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschw­ert er sich immer wieder darüber, dass er Restau­rantrech­nun­gen bezahlen muss/soll: total ichzen­tri­ert eben, der Schreiber dieser Seit­en, der sich vor allem durch seine Kauzigkeit­en — wie die total kontin­gent scheinende Ablehnung der Worte „Akzep­tanz“ und „Diri­gat“ (329) — ausze­ich­net.

Wenn nie­mand eine Biogra­phie über mich schreibt, tue ich es eben selb­st. (177)

Jürg Hal­ter: Wir fürcht­en das Ende der Musik. Gedichte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 72 Seit­en

halter, wir fürchten das ende der musik

“Für sich” ste­ht als Wid­mung in diesem Gedicht­band. Und das stimmt ein­er­seits, ander­er­seits aber auch über­haupt nicht. Zwar ste­hen die Gedichte erst ein­mal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber ander­er­seits bleiben sie auch ger­ade nicht “für sich”, denn Hal­ter geizt nicht mit inter­textuellen Anspielun­gen und Ver­weisen. Ger­ade die Musik spielt da dur­chaus eine große Rolle. Und den­noch: Man muss diese Inter­tex­tu­al­itäten nicht erken­nen, man muss ihnen schon gar nicht nachge­hen (obwohl das dur­chaus span­nend sein kön­nte, das sys­tem­a­tisch zu tun), um die Lyrik Hal­ters ver­ste­hen zu kön­nen. Oder zumin­d­est glauben zu kön­nen, etwas ver­standen zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie ger­adezu erzäh­lend, ihre Meta­phern bleiben leicht nachvol­lziehbar, die Form klar und über­sichtlich. Manch­mal wirkt das mit dem lock­eren Sprach­duk­tus, dem leicht­en Ton mir aber auch etwas zu plätsch­ernd, zu prosa-nah, zu wenig formbes­timmt für Lyrik.
Doch gibt es dur­chaus schöne und span­nende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Ver­wurzelung Hal­ters und Tra­di­tion und Inter­tex­tu­al­ität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kul­tur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anre­gen­des Spiel mit sich selb­st immer wieder zu beobacht­en, die Selb­stre­flex­tion des Lyrik­ers und des Gedicht­es zu erken­nen. Inter­es­sant ist auch das immer wieder auf­tauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Tren­nende von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart abzielt, son­dern auf den Über­gang, die fließende Entwick­lung: Vom Holozän bis zum Jet­zt und dem Augen­blick sind einzel­nen Momente kaum zu fassen und zu bes­tim­men:

Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)

Nicht alles ist sprach­lich oder inhaltlich sehr stark, ger­ade im Abschnitt IV („O, aufgek­lärtes Leben, unsere Droge!“ über­schrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefun­den zu haben. Die Dig­i­tal-Skep­sis in „Hyp­nose“ ist zum Beispiel ziem­lich ober­fläch­lich und bil­lig. Dazwis­chen gibt es aber imm­mer wieder schöne Momente, die das Lesen den­noch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wieder­holende Szene“:

Die sich leeren­den Straßen
an einem Som­mer­abend
in ein­er kleinen Stadt.
Das Rück­licht des let­zten Busses,
ein leichter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende ein­er Fre­und­schaft.

außer­dem noch:

  • Jost Amman & Hans Sachs: Das Stän­de­buch (1568).
  • Georges Duby: Die Zeit der Kathe­dralen.

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