Die Bundeswehr hat mit ihrem in der Öffentlichkeit gezeichneten Wunschbild nichts zu tun. Jenseits der formalen Ordnung gibt es in Armeen immer auch Probleme der Zusammenarbeit, die nicht durch die formale Ordnung gelöst werden können. Vor allem die konkrete Leistungsmotivation der Mitglieder, besonders aber die reibungslose Lösung der Probleme der alltäglichen Zusammenarbeit zwischen den Organisationsmitgliedern lassen sich nicht durch formale Vorschriften allein garantieren. Und genau hier greifen die in Kameradschaftsnormen verdichteten informalen Erwartungen.
Jeder Soldat weiß, dass eine Armee nur deswegen funktioniert, weil von den formalen Regelwerken immer wieder abgewichen wird.
Vorratsdatenspeicherung wird jetzt schon ausgeweitet | Zeit → das gesetz zur vorratsdatenspeicherung ist noch nicht umgesetzt, da wird es schon ausgeweitet — und die versprechen der politiker gebrochen. das sollte es dem bverfg doch eigentlich leichter machen, die fehlende verfassungstreue zu erkennen …
Die fünfte These zur Geschichtskultur lautet: Die deutsche Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts tendiert dazu, Vergangenes nicht mehr als fremd und irritierend wahrzunehmen, sondern es sich der eigenen Gegenwart anzuähneln. […] Und die Tendenz lautet: Vergangenheit wird mit Ähnlichkeit beschlagen. Ganz im Sinne der erkenntnistheoretischen Binsenweisheit, dass man nur sehen kann, was man bereits weiß, zeigt sich am Beispiel der gegenwärtigen Geschichtskultur, dass sie häufig nur noch wissen will, was sie ohnehin schon sieht. Und das ist meistens nichts allzu weit entfernt von der eigenen Nasenspitze. […] Das Andere, das vergangene Zeiten für uns sein könnten, wird dadurch in Eigenes und Vertrautes verwandelt und muss eine Ähnlichkeitsbeschlagung über sich ergehen lassen. Der Vorgang ließe sich auch mit der angemessenen Negativität zum Ausdruck bringen: Es geht um Störungsverweigerung. […] Kann man dann überhaupt noch nach der Aktualität des Gewesenen fragen? Sicherlich kann man das. Aber nicht unter schamloser Ausnutzung des bereits benannten Machtgefälles zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wir müssen dem Vergangenen seine Einzigartigkeit nicht nur zugestehen, sondern sie auch schützen. Nur dann kann es zu einem Dialog kommen zwischen den Zeiten, nur dann können wir etwas lernen aus dieser Beziehung (denn wir lernen nicht ‚aus der Vergangenheit‘, sondern aus der Art und Weise, wie wir uns auf Vergangenheiten beziehen), nur dann können wir uns durch das Vertraut-Fremdartige, durch das Bekannt-Verwirrende hinreichend aus dem Trott bringen lassen, um nicht nur die Vergangenheit, sondern auch unsere Gegenwart neu und anders zu befragen.
Was die Geschlechterdifferenz angeht, war man im Ancien Régime deutlich flexibler als im 19. Jahrhundert. In der höfischen Gesellschaft ging man viel legerer mit Travestie und Homosexualität um. Transgenderverkleidungen waren an der Tagesordnung. Das erschien im bürgerlichen 19. Jahrhundert als absoluter Sittenverfall. […] Das Spannende am Metier der Geschichte ist ja, sich die Fremdheit des Anderen vor Augen zu führen. Projiziert man eigene Wertvorstellungen in die Geschichte, bestätigt man nur, was man sowieso schon empfindet. Ich brauche Maria Theresia nicht, um Feministin zu sein.
Man kann Millionen scheffeln, indem man vage Vorwürfe gegen eine börsennotierte Firma im Internet formuliert, am besten so, dass sich die Vorwürfe nicht sofort entkräften lassen. Das betroffene Unternehmen braucht dann ein paar Tage für eine seriöse Antwort – bis dahin rauscht der Kurs aber nach Süden ab. Da haben die Leerverkäufer gut Zeit zum Kassemachen. Was das betroffene Unternehmen nach einiger Bedenkzeit und Rechtsberatung antwortet, ist schon egal. Die schwarzen Ritter sind schon weg, das Unternehmen leckt seine Wunden, die Aktionäre sitzen auf schweren Verlusten.
Grüne Welle für Radfahrer | Zeit → Andrea Reidl berichtet von sehr deutschen Versuchen, grüne Wellen für Radfahrerinnen zu etablieren: Mit viel Technik, die gerne auch noch den Radlern aufgebürdet wird (wie eine notwendige App von Siemens, die natürlich alle Bewegungen erfasst …)
Roter Marmor | Flohbude → die flohbude war auf einer veranstaltung der sächsischen afd-fraktion — ein durchaus faszinierender und erhellender (langer) bericht, aber auch bedrückend
Jetzt, im Angesicht der autoritären Internationale, käme Blickles Zeit wieder, jetzt gewinnen seine Analysen neue Aktualität: Wie macht man Politik, wie schafft man Demokratie? Für die Zeit von 1300 bis 1800 hat Blickle dies eindringlich aufgezeigt und neue Perspektiven eröffnet. Vielleicht hat er mit seinem Forschen, das um die sich in ihren Gemeinden organisierenden Bauern und einfachen Bürger kreiste, Deutschland eine demokratische Tradition geben wollen, eine Alternative zur unheilvollen Traverse vom Bauernfeind Luther zum Diktator Hitler.
Wintersportgebiete waren immer Fabriken für touristische Zufriedenheit. Und die touristischen Werbebilder wecken Erwartungen an die Kulturlandschaft.
DIe Music mein ich hier / die Sinn und Muht durchdringet / und mit der Liebligkeit biß in das Marck erklinget. wo nichtes anders sonst des Menschen Muht bewegt / da ist sie offters / die den Geist in ihm erregt; und der vor lange Zeit betrübet hat gesessen / der kan durch die Music bald werden so vermessen / daß er mit gradem Fuß lest sehen was er kan / und stelt sich / als wolt er den hohen Himmel an. […]
Augentrost — das ist mal ein Buchtitel! Dabei ist es gar keine Neuschöpfung, denn Constantijn Huygens schrieb seine Euphrasia schon 1647. Der Titel ist übrigens schnell erklärt: Der Augentrost (Euphrasia officinalis) ist eine Wiesenpflanze, seinen Namen hat er aufgrund seiner angenommenen Heilwirkung. Das muss uns aber nicht weiter beschäftigen, denn hier geht es ja um Literatur. Um ein Trostgedicht, das aus eher privatem Anlass entstand (und zunächst auch noch nicht über 1000 Verse umfasste): Huygens, der selbst (manchmal) eine Brille trug, schrieb es als Trost für eine Freundin (die im Text als “Parthenine” auftaucht) und offenbar den Verlust eines Auges zu beklagen hatte. Aber, wie das Nachwort wiederum ganz richtig bemerkt, es ist mehr als ein Trostgedicht (ich würde sogar sagen: Es ist gar kein Trostgedicht mehr …), es ist ein richtiger Narrenspiegel, der die ganze Gesellschaft — die Dichter übrigens ausdrücklich eingeschlossen — aufspießt.
Huygens, verrät mir das Nachwort des Übersetzers Ard Posthuma, ist “ein Klassiker der niederländischen Literatur” (und auch ein recht produktiver Komponist, neben seinen zahlreichen anderen Tätigkeiten und Berufen), in Deutschland aber wohl eher unbekannt. “Huygens’ Sprachvirtuosität war grenzenlos”. Und das merkt man. Wobei ich das gleich wieder einschränken muss: Denn ich kenne nur die Übersetzung. Die ist aber sehr pfiffig. Inwieweit Posthuma damit der Sprache und dem Text Huygens’ gerecht wird, entzieht sich meiner Beurteilung. Als deutscher Text, der 2016 erschien, ist er aber auf jeden Fall lesenswert. Denn Posthuma liefert einen Text, der nicht nur erstaunlich flüssig zu lesen ist, sondern sich — und das macht das Lesevergnügen deutlich größer — genau an das metrische Vorbild des Originals, die sechshebigen Jamben mit wechselnden Kadenzen und den Paarreim hält. Manchmal wird das sogar richtiggehend salopp und fast flapsig (auch der “Lahmarsch” hat einen Auftritt …).
Nun ist aber immer noch unklar, was dieser Augentrost denn nun eigentlich ist. Kurz gesagt: Ein Langgedicht in 1002 Versen (Alexandrinern) über die Blindheit oder vielleicht besser: über die vielfältigen Formen, in denen Menschen blind sein können. Das organisiert Huygens nach einer kleinen Einführung als einen Katalog von Menschengruppen, die er als blind kategorisiert. Meistens sind sind sie es nicht in wörtlicher Hinsicht, sondern in übertragener, weil sie das Eigentliche des Lebens — und des Glaubens, des christlichen Gottes (da bleibt Huygens ganz und gar ein Kind seiner Zeit) — nicht sehen, d.h. nicht erkennen, sondern gierig, geizig, hastig, müßiggängerisch sind. So haben sie alle einen Auftritt, die Gesunden und Kranken, die Gelehrten und die Eifersüchtigen, die jungen Leute, die Jäger, die Schnatterer, der ganze Hof — man merkt, das ist wirklich eine Art soziologisches Gesellschaftspanorama, das Huygens hier entwirft. Und natürlich sind, darum geht es ja schließlich, alle blind, ihr Sehen der Welt, ihre Sichtweise auf Menschen, Handlungen und Dinge ist eingeschränkt — meistens, weil sie das große Ganze des christlichen Heilsplanes nicht (er)kennen oder nicht im Sinn behalten. Auch das eigene Leid und das Leid der anderen und der Umgang mit dem Leid überhaupt spielen immer wieder eines besondere Rolle. Schließlich ist das insbesondere für Christen ein Punkt der Prüfung (eine Art privates Theodizee-Problem): Warum lässt Gott mich/die Menschen leiden?
Wer klagte da nicht gern, würd’s nachher besser gehn! / Wer aber brächte je des Himmels Lauf zum Stehn? Vers 49–50
Erstaunlich fand ich dabei oft den fast krassen Realismus der Beschreibungen, die er benutzt. Besonders deutlich wird das, wenn er die Liebeslyrik-Konventionen seiner Zeit mit der banalen (und im Vergleich zum Ideal hässlichen) Realität konfrontiert (Verse 360ff.). Und nebenbei findet man auch eine interessante Abwertung der (realistischen) Malerei (460ff.), weil sie doch immer bloß ein unvollkommenes, unfertiges, unvollständiges Abbild der Welt — dieser vollkommenen göttlichen Schöpfung — darstellt. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen — so ziemlich jeder Leser, jede Leserin dürfte hier auf interessante Beobachtungen und Schilderungen stoßen.
Zum Augentrost gehört auch noch eine kurze Vorrede (im Original lateinisch), voll gestopft mit Topoi der Bescheidenheit. Das fängt schon mit einer Warnung — dieser Text sei nichts für Leser, die die Größe antiker Autoren zu schätzen wissen — an und gipfelt in dem Hinweis: “Sollte das Hauptwerk missfallen / genieße das Beiwerk.” Und natürlich funktioniert es, man möchte dann erst recht weiterlesen. Der Rest der Paratexte (des “Beiwerks”) fehlt in dieser Edition der Übersetzung bei Reinecke & Voß leider zum größten Teil, so dass man Huygens’ Empfehlung gar nicht folgen könnte. Durch Anmerkungen des Übersetzers — die sich aber nur auf die Bibelstellenverweise/-anspielungen beziehen, die wiederum zum großen Teil recht klar & eindeutig sind, wird das wenigstens zum Teil wieder wett gemacht. Die Ausgabe ist sowieso eine, die ihr Licht unter den Scheffel stellt (um auch ein biblisches Bild zu bemühen): das Äußere ist eher zweckmäßig als schön, was etwa das Druckbild (und die recht häufigen Fehler) angeht. Dafür ist sie aber auch recht wohlfeil zu erwerben.
Nur eine Sorte noch: Autoren sind auch Blinde, / besonders die von dir geliebten Dichterfreunde. / Die sind so dicht wie blind; sie sehen nur den Reim / und gehen in der Kunst den Wörtern auf den Leim / … / Das ist Poeten-Art, denn die zu dichten pflegen / sehen kein schöneres Ei als was sie selber legen. / Verprügeln kannst du ihn, doch sagt er unentwegt, / dass kein Poet so schön wie er die Laute schlägt. Verse 913ff., 941ff.
Soll man den Augentrost also lesen? Wenn es nach Huygens selbst geht, gar nicht unbedingt. Er beginnt nämlich gleich in der Vorrede — also direkt mit den allerersten Versen — mit einer Warnung:
Lies mich bitte nicht, / wenn besseres Salz dir zusteht / und dir keine Speise schmeckt, / die fader ist als die der Alten. / Lies mich bitte nicht. Wozu deine Augen / (oder ein Auge nur) peinigen?
Aber wer lässt sich von so etwas denn schon abhalten? Die Lesezeit-Schätzung, die Huygens in seinen Text einflicht (Vers 137: “zum Lesen sind gut zwei, drei Stunden vorgesehen”), stimmt übrigens ziemlich genau: Mehr als zwei, drei Stunden benötigt man dafür nicht. Aber das sind dann doch zwei, drei sehr vergnügliche, unterhaltsame und auch belehrende Stunden.
Constantijn Huygens: Euphrasia. Augentrost. Übersetzt und herausgegeben von Ard Posthuma. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. [ohne Seitenzählung]. ISBN 9783942901222
Es dient nicht der Entschuldigung der derzeit im Namen Allahs ausgeübten Verbrechen, mögliche historische Parallelen sichtbar und auf die Gewaltpotentiale in allen Religionen aufmerksam zu machen. Aber es verhindert eine falsche, essentialistische Sicht auf den Islam, den es so wenig wie das Christentum gibt. Die muslimischen Religionskulturen in Europa sind in sich höchst vielfältig und durch ganz unterschiedliche kollektive Erfahrungen geprägt. Muslime in Kreuzberg, deren Eltern oder Großeltern einst aus der Türkei kamen, teilen nicht die traumatisierenden Erinnerungen an koloniale Fremdherrschaft, die für viele französische, noch vom Algerien-Krieg geprägte Muslime kennzeichnend sind.
Nach den Anschlägen von Paris und nun auch Brüssel ließ sich im politischen Betrieb eine Reaktion beobachten, die nur als falsches semantisches Investment bezeichnet werden kann: Staatspräsidenten, Regierungschefs und Parteivorsitzende beschworen einhellig „die Werte Europas“ oder „des Westens“, die man gegen alle terroristischen Angriffe verteidigen werde. […]
Aber mit Werte-Rhetorik ist niemandem geholfen.
„Wert“ war ursprünglich ein Begriff der ökonomischen Sprache, und seine Einwanderung in ethische Debatten und juristische Diskurse hat nur dazu geführt, die freiheitsdienliche Unterscheidung von gesetzlich kodifizierten Rechtsnormen und moralischen Verbindlichkeiten zu unterlaufen. Deshalb ist es fatal, wenn Vertreter des Rechtsstaates diesen im Kampf gegen den Terrorismus nun als eine „Wertegemeinschaft“ deuten.
für einen theologen auch fast überraschend, aber natürlich absolut richtig und ein punkt, der immer wieder gestärkt und verdeutlicht werden muss (weil er so gerne vergessen wird):
Für wirklich alle gilt allein das Recht, und deshalb sind Rechtsbrecher zu verfolgen und zu bestrafen.
My Heroic and Lazy Stand Against IFTTT | Pinboard Blog — der pinboard-gründer/betreiber maciej cegłowski erklärt, warum es seinen (übrigens sehr empfehlenswerten) service nicht mehr bei ifttt gibt. die kurzfassung: deren unverschämten, erpresserischen bedingungen für entwickler
Das Thema der „Vogue“ ist: „Langeweile“. Sowohl in den Anzeigen als auch in der Fotostrecke. „Komm Baby, stell Dich mal so hin und schau so pikiert, als würdest Du an einen völlig verkochten Grünkohl denken.“ Die Mädchen sind dünn, die Gesichter leer, die Klamotten teuer. In den Sechzigern gab es einen Dr. Oetker-Spot, in dem eine Frau am Herd steht, ein Fertiggericht zaubert und ein Sprecher sagt: „Eine Frau hat zwei Lebensfragen: Was soll ich anziehen? Und was soll ich kochen?“ Die Frauen der „Vogue“ haben sogar nur eine Lebensfrage, und selbst die macht ihnen offensichtlich keinen Spaß.
Ingeborg Bachmann: “In mir ist die Hölle los” | ZEIT ONLINE — der germanist Joseph McVeigh durfte frühe briefe von ingeborg bachmann benutzen und zitieren und ist nun sicher, dass man das werk der autorin nur biographisch verstehen kann. zum glück ist die “zeit” gegenüber solchem methodischen unsinn etwas skeptischer …
“Ich habe keine Matratzenschnüffelei betreiben wollen”, sagt Biograf McVeigh, “aber wenn man die zerstörerische Wirkung der beiden katastrophal gescheiterten Beziehungen auf das Leben von Ingeborg Bachmann nicht berücksichtigt, kann man ihr späteres Werk kaum verstehen.”
If you want to have bicycles cycling your city, you have to build your city for bicycles to cycle.
oder:
The main reason why the bike has become such a popular choice: It’s the easiest way! It’s healthy, cheap, sustainable, and nowadays the two-wheeler is even pretty trendy in major cities around the world. But at the end of the day, simplicity is the one thing that really counts for commuters.
Die absolute Preisdiskriminierung ist der feuchte Traum jedes Wirtschaftswissenschaftlers. Und wird sich bald auf alle Lebensbereiche erstrecken: Vom Supermarkteinkauf über das Ticket für den öffenlichen Nahverkehr bis zur Strom- und Wasserversorgung. Doch was passiert mit denen, die dabei nicht mitmachen wollen? Nach welchen Kritieren werden Preise gemacht, wer bestimmt sie? Und welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat die komplette Umstellung des Preismodells, das unserem Wirtschaftssystem zugrunde liegt?
The 20 Most Bike-Friendly Cities on the Planet | WIRED — With each edition, the Copenhagenize Design Company’s Index of the most bike-friendly cities in the world evolves. In 2011 we ranked 80 global cities; in 2013 we ranked 150.
This year, we considered cities with a regional population over 600,000 (with a few exceptions because of their political and regional importance, and to keep things interesting). We ranked 122 cities. The top 20 are presented here.
Vom Pergament ins Internet — das jgu-magazin berichtet über das dfg-projekt der digitalen veröffentlichung der augsburger baumeisterbücher
Die Augsburger Baumeisterbücher sind ein außergewöhnliche Quelle. “Es gibt fast aus jeder größeren Stadt und selbst aus kleineren Orten in Deutschland Kontobücher oder Rechnungsbücher”, erklärt Rogge. “Sie sind nur unterschiedlich gut überliefert. Manche fangen erst um das Jahr 1500 an. Die Augsburger Baumeisterbücher beginnen 1320. Das ist sehr früh. Außerdem sind sie bis zum Jahr 1800 fast komplett erhalten. Bei vielen anderen Städten klaffen große Lücken.” Und bei Augsburg handelt es sich um einen bedeutenden Ort, eine Reichsstadt, eine weitgehend autonome Kommune, die nur dem Kaiser unterstand. “Sie war unter anderem stark in den internationalen Handel eingebunden.”
wer etwas auf sich hielt, wird ohne Zweifel von den zahlreichen Möglichkeiten zur Zahnpflege Gebrauch gemacht und auf frischen Atem geachtet haben. Da die typische Ernährung die Zahngesundheit zudem weit weniger gefährdete, als dies heutzutage der Fall ist, dürften also die meisten Menschen im Mittelalter entgegen populärer Vor- und Darstellungen tatsächlich nicht über schlechte, sondern im Gegenteil über starke, gesunde und weiße Zähne verfügt haben. Nicht Verfall war im Mittelalter die größte Gefahr für Zähne und Zahnfleisch, sondern Verschleiß.
Kolumne Besser: Wie der Herr, so’s Gescherr — taz.de — das gibt’s auch nicht jeden tag: dass ich deniz yücel zustimme und seinen text auch noch gut finde. dank “pegida”-blödsinn ist’s möglich (und nötig!) — also lesen!:
Pegida findet die „Lügenpresse“ doof, die „Lügenpresse“ findet Pegida doof. Aber es gibt Ausnahmen: Stephan, Weimer, Matussek, Broder, di Lorenzo.
Was lernen wir aus diesem ansonsten gänzlich zu vernachlässigenden Beitrag?
Missbrauche nicht die Vergangenheit in vereinfachender und verfälschender Form für billige politische Anliegen der Gegenwart. Wenn du schon von dieser Vergangenheit erzählst, dann tue es in möglicher komplexer, möglichst zahlreiche Aspekte berücksichtigender Form. Wenn du schon einen Artikel schreibst, in dem billige Ressentiments gegen Andere bedient werden, dann schreibe wenigstens einen guten Artikel. Üble Beiträge mit üblen Inhalten sind eine doppelte Beleidigung. Wenn du etwas aus Lepanto lernen willst, dann lerne dies: Es ist wirklich für alle Beteiligten besser, auf gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit zu setzen als auf gegenseitiges Abschlachten.
Muss man so etwas wirklich noch hinschreiben?
Kraut von Rüben sortiert – Krautreporter durchgezählt | Verwickeltes — marc mit einigen interessanten beobachtungen und bemerkungen zu den “krautreportern”. einiges deckt sich mit meiner eigenen erfahrung — etwa das genervtsein von den tilo-jung-plauderstündchen. jedenfalls haben es die “krautreportern”, denen ich ja gerne geld bezahlt habe (und so arg viel war es ja auch gar nicht) noch nicht geschafft, zu einem wichtigen teil meines medienkonsums zu werden — ich vergesse immer mal wieder, das zu checken …
Das Auge liest mit — Nur wenige Literaten nutzen die Oberfläche ihrer Texte als eigenständige Ausdrucksform oder machen sich die Mühe, die materielle Grundlage ihrer Texte — die Schrift – zu reflektieren. — feature von jochen meißner, ca. 54 minuten
French economist Thomas Piketty has spurned the Legion of Honour, the country’s highest distinction, on the grounds that the government should not decide who is honourable.
Es ist doch legitim, ja sogar gut, über den ritualhaft wiederkehrenden Kreis der Jahrestage ein gemeinsames historisches Reflektieren zu stimulieren. Das Problem ist nur: Es gelingt nicht mehr. Die historischen Ereignisse, derer gedacht werden soll, lassen sich kaum noch in Beziehung zueinander setzen. Die Fliehkraft des Gedenkens sprengt sie auseinander. Das Einzelereignis wird nur noch kurz aufgerufen und kaum mehr in langfristige Zusammenhänge eingeordnet.
am ende empfiehlt sie:
Wie also können wir Geschichte schreiben, ohne deterministisch zu denken und doch mit langem Atem zu argumentieren? Wie können wir Ereignisse in deutende Ordnungen fügen und zugleich zum Widerspruch einladen? Wie können wir offen bleiben und uns trotzdem für eine Perspektive entscheiden?
Dazu bedarf es eines Standpunkts, der entschieden ist, sich also über sich selbst aufzuklären vermag. Und es bedarf einer historischen Urteilskraft, die penibel ausbuchstabierte Details in ihr Vorher und Nachher und nach Relevanz ordnet. Beides können wir voraussichtlich noch brauchen. Spätestens dann, wenn die Fliehkraft des Gedenkens auch den Nationalsozialismus von seiner Vor- und Nachgeschichte isoliert.
Vor 25 Jahren stürzte der rumänische Diktator Ceauşescu. Die Revolution, die 1989 mit blutigen Kämpfen das Land in Chaos und Gewalt stürzte, blieb unvollendet.
Doch wenn der Westen seine Identität nicht verlieren will, sich gegen islamische, chinesische, russische und sonstige Totalitarismen abgrenzen möchte, dann können die nun hinlänglich dokumentierten Übergriffe und Gesetzesbrüche nur eine Folge haben, nämlich eine ordentliche rechtsstaatliche Aufarbeitung ohne Ansehen der Person.
Unbekannte Autobiographie Georg Philipp Telemanns aufgefunden | nmz — neue musikzeitung — Im Historischen Staatsarchiv Lettlands (Riga) wurde eine bisher unbekannte Autobiographie des Komponisten Georg Philipp Telemann (1681–1767) entdeckt. Die autographe Skizze befindet sich in Materialien aus dem Nachlass des Rigaer Kantors Georg Michael Telemann, dem Enkel des berühmten Hamburger Musikdirektors und Johanneumkantors. Der Musikwissenschaftler Ralph-Jürgen Reipsch, Mitarbeiter des Zentrums für Telemann-Pflege und ‑Forschung Magdeburg, hat den sensationellen Fund sowie eine bisher gleichfalls unbekannte deutsch-französische Lebensbeschreibung in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Die Musikforschung publiziert.
Jutta Ditfurth: News — LG München entsorgt die dt. Antisemiten: Antisemit ist nur, “wer sich positiv auf die Zeit von ’33 bis ’45 bezieht” (ach, könte man doch nur ale probleme so lösen ..)
am Boden liegt ein Bündel von Zeitungsausrissen, die offensichtlich das fehlende Klopapier ersetzen sollen. Auf einer der Zeitungsseiten steht ein Gedicht. Ich greife nach dem zur Hälfte zerrissenen Blatt, versuche den Text – ukrainisch – zu lesen, lese ihn mehrmals, und er kommt mir dabei immer bekannter vor. Der Name des Autors wie auch der Gedichtanfang fehlt, ist weggerissen. Unter dem Gedicht steht, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Deutschen handelt. Vom Namen des Übersetzers bleiben bloss ein paar Buchstaben: Wolod… ‒ Doch nun dämmert es mir: Das ist mein Gedicht. Das ist eins meiner Gedichte, zumindest ein Teil davon.
Feministinnen vorzuwerfen, sie seien nicht witzig, ist auf dreifache Art unangemessen. Erstens ist Humor einfach eine Frage des Geschmacks. Zweitens wiederholt sich hier das altbekannte „Lach doch mal“ altbekannter Onkels, und drittens gibt es denkbar viele Momente im Leben, in denen Kämpfen und Lachen einander ausschließen.
Es herrscht ein erschreckender Mangel an politischer Phantasie. Was wird schon helfen gegen Mörder wie Khalid Scheich Mohammed? Es fällt uns nur wieder Gewalt ein. Dabei gibt es längst andere Erkenntnisse, wie man den Krieg gegen den Terror erfolgreich führen kann.
500 Jahre alte Naumburger Chorbücher werden digitalisiert | nmz — neue musikzeitung — Es soll ein bibliophiler Schatz für die Ewigkeit werden: Die über 500 Jahre alten überdimensionalen Naumburger Chorbücher werden restauriert und digitalisiert. Die komplette Finanzierung muss noch geklärt werden, aber ein Anfang ist gemacht. «Mit acht Büchern ist es eine der umfangreichsten mittelalterlichen Handschriftensammlungen», sagt Matthias Ludwig, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Domstiftsarchiv Naumburg.
Integration durch Sprachvorschriften? – Sprachlog — Es ist also klar, dass aus der Perspektive des Spracherwerbs keine Notwendigkeit gibt, Migrant/innen dazu „anzuhalten“ oder auch nur zu „motivieren“, zu Hause Deutsch zu sprechen. Wir erinnern uns: 65 Prozent tun es ohnehin, ganz ohne Motivation seitens der Politik.
Die Hintermänner dieses Blatts voller Selbstmörder- und Raubersgeschichten — von dem allerdings kein Exemplar erhalten ist — blieben bislang im Verborgenen; dank eines Zufallstreffers im Niederösterreichischen Landesarchiv kann ich nun ein Mosaiksteinchen zu ihrer Geschichte hinzufügen
Es ist natürlich richtig, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls die schlimmen Seiten der DDR noch einmal in Erinnerung zu rufen. Aber gleich Wolf Biermann?
Vor Donaueschingen: Ein Gespräch mit Armin Köhler | nmz — neue musikzeitung — Was denkt der Macher der Donaueschinger Musiktage über sein Programm, über Vorheriges. die Gegenwart und über die Zukunft: Das Wort “und” war dieses Jahr ein Verbindendes — und ein Klärendes: Armin Köhler im Gespräch mit nmz-Herausgeber Theo Geißler.
Ein Journalist darf nicht nur parteiisch, sondern sogar Aktivist sein. Letzteres darf nur nicht dazu führen, dass er Qualitätsgrundsätze über Bord wirft oder gar die „eigenen“ Leute schont. Dann wird aus Parteilichkeit dumpfer „Parteijournalismus“.
Auf den offiziellen Linuxrechnern werden derzeit Funktionalitäten aus Sicherheitsgründen beschnitten, zum Beispiel sind USB-Ports und CD-Laufwerke deaktiviert. Das bringt Frustration, laut unseren Informationen führt das unter anderem dazu, dass man auf den Wachen nicht ohne Weiteres Überwachungsvideos auswerten kann. Die Lösung lag aber keineswegs darin, die Prozesse umzugestalten, nein: Es wurden Windows-PCs aufgestellt, die derartige Sicherheitsbeschränkungen nicht aufweisen. Es scheint gekonnt ignoriert zu werden, dass man hier ein Problem nicht löst, sondern auf fahrlässige Weise wegignoriert. Und das bequeme Anschauen von Überwachungsvideos wird offensichtlich über den verantwortungsvollen Umgang mit den Systemen gestellt.
… und die sind dann für “cyberkriminalität” zuständig …
Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Berlin: List 2012. 236 Seiten
Naja, das war keine so lohnende Lektüre … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Vertrauenspunkte zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teilweise blöd: Ein junges Mädchen zieht kurz vor den Sommerferien auf dem Bauernhof der Familie ihres älteren Freundes ein, vernachlässigt die Schule und gibt sich lieber einer seltsamen geheim gehaltenen Beziehung zu dem mehr als doppelt so alten Nachbarbauern hin, die vor allem auf ihrer Ausnutzung und ihrem Missbrauch (körperlich, sexuell und psychisch) beruht und natürlich tragisch enden muss … Das Setting im Sommer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Grenze ist auch nicht so spannend, gibt aber Gelegenheit, ein bisschen (freilich nur wenig) Politik und Geschichte einzuflechten — und ist natürlich ein Spiegel der Figur Maria: In der Zwischenzeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwachsene — spiegelt sich das Land zwischen DDR und BRD … Aber da die Figuren alle reichlich blass bleiben, von der Erzählerin über ihre Restfamilie bis zu Johannes und Henner, kann sich da sowieso kaum etwas entfalten. Das merkt man sehr deutlich an der mühsam inszenierten Intertextualität: Maria wird gerne als begeisterte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monatelang an Dostojewskis Die Brüder Karamasow herum, was natürlich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lektüre hier immer ausschließlich eine identifikatorische …). Auch die Komposition von Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist nicht weiter bemerkenswert, eher kleinteilig angelegt, mit Schwächen in der Zeitgestaltung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschenbuch (ganze zwei Seiten vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhnlich ist.
alles in allem die übersteigerten Gefühle einer Siebzehnjährigen in den Wirrungen einer unruhigen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)
Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Wien, München: Fritz Molden 1966. 419 Seiten
Eine schöne Idee der kontrafaktischen Geschichte: NS-Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen und sich die halbe Welt untertan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel ersetzt — oder ist das ein Mord und Staatsstreich? Die entsprechenden Vermutungen kursieren und geben der Handlung im gleichzeitigen Bürgerkrieg und dem durch die beiden Großmächte entfesselten atomaren Krieg ordentliche Verwicklungen und Handlungsantrieb. Dazwischen treibt Höllriegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der verschwörungstechnisch in die große Politik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Figur: wenig Ahnung, dafür aber viel Situationsgeschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit seiner Liebe bzw. seinem Begehren nach der (scheinbar) idealen (in ideologischer, d.h. rassentypologischer Sicht), aber unter normalen Umständen unerreichbaren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desillusionierend im Tod — allerdings nicht durch Verstrahlung (das hätte noch etwas gedauert), sondern im Gefecht. Schön an Basils Roman ist die konsequente Weiterführung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ideologie mit ihren Auswüchen, den Gruppen, dem Einheitswahn, der unerschöpflichen Kategorisierungssucht etc. Insgesamt leidet das Buch aber daran, dass es diese kontrafaktische Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Handlungen sprechen lässt. Wunderbar sprechend sind dagegen die vielen, vielen Namen … Jedenfalls eine durchaus unterhaltsame Lektüre.
Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hatte seinen Meldegänger zum großen Rapport nach Walhall gerufen. (50)
Jürgen Buchmann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des ExterThals, nach denen Diariis Seiner Hoch Ehrwürden Herren Martinus Oestermann, weiland Pfarrer an St. Jakobi zu Almena. Leipzig: Reinecke & Voß 2014. 46 Seiten
Eine wunderbare Spielerei ist dieses kleine, feine Büchlein (schon die ISBN: in römischen Ziffern, eine echte Fleißarbeit …), eine nette Camouflage, echtes Schelmenstück (der Autor scheint ein in der Wolle getränkte Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philologische Fantasy (der Bezug auf Tolkien taucht sogar im Vorwort auf), nur in die Vergangenheit verlegt: Es handelt sich um den (fiktiven) Bericht eines gelehrten Landpfarrers, der von einer Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekannt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Morphologie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist eingebettet und kombiniert mit dem Tagebuch der „Entdeckung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Kriminalfall des Verschwindens sowohl des Pfarrers als auch seiner Informantin (ein Wechseln ins Elfenreich liegt ganz märchentypisch nahe, weil keine Leiche gefunden wird …). Leider fehlt ausgerechnet die Lexik der Elfensprache in den “Aufzeichnungen”, so dass die Fragmente, die „Oestermann“ „überliefert“, dummerweise unverständlich bleiben (aber wer weiß, vielleicht haben sie ja sogar eine Bedeutung? — Das wäre eine schöne Aufgabe für einen Computer mit einem findigen Programmierer …). Das ganze ist von Buchmann verflixt geschickt vorgetäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder parodiert worden. Von dem Drumherum ist allerdings nicht alles gelogen — das „Gelehrten-Lexicon“ von Jöcher z.B., aus dem zitiert wird, gibt es durchaus — allerdings ohne den hier abgedruckten Eintrag zu Oestermann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seiten beanspruchen die “überlieferten” Texte samt editorischen Vorworten und Anhängen von dem kleinen Leipziger Dichter-Verlag Reinecke & Voß sehr schön herausgebracht worden, mit angenehm passendem Satz und schönen Schriften.
Wir fassen die Lettern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)
Ulf Stolterfoht: Das deutsche Dichterabzeichen. Leipzig: Reinecke & Voß 2012. 49 Seiten
Und gleich noch ein schmales Bändchen von Reinecke & Voss, den Hörspieltext Das deutsche Dichterabzeichen. des großen Lyrikers Ulf Stolterfoht. Dichtung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reguliertes, entbehrungsreiches Handwerk inszeniert (ein bisschen wie eine moderne Variante der Meistersinger …), das ist ganz nett ausgedacht. Zugleich ist es aber auch noch eine “Systematik“ der Lyrik mit verschiedenen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:
Wildtexte, die noch vor Zeiten weite Teile Europas besiedelten, haben sich mittlerweile den immer spezielleren Anforderungsprofilen unterworfen. (17)
Weiter geht es im belehrenden Gespräch über die Dichter-Ausbildung, also die handwerkliche Komponente des Dichtens. Weiteres, ganz wichtiges Thema: Die kompetitive Komponente des Dichtens, die Lesungen und die Wettbewerbe. Das führt Stolterfoht als Zirkus vor, als eine Art Dressur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possierlich, gut für die Unterhaltung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und vergleichende Komponente der Dichtung übergestülpt wird, ist das natürlich — daraus macht der Text kein großes Geheimnis — eine Parabel auf den deutschen Literaturbetrieb der Gegenwart. Aber eine — ganz wie es das Thema verlangt — unterhaltende, in der sich durchaus — schließlich ist Stolterfoht selbst ein intelligenter Teilnehmer — wahre und treffende Beobachtungen finden:
Im Zeitalter hoch entwickelter Prosa hat das Gedicht an Bedeutung verloren. in dem Maße aber, in dem es aus seiner natürlichen Umgebung verschwindet, wächst seine Beliebtheit als domestizierter Wettbewerbstext. (7)
Schön auch kurz vor Schluss:
Etwas ganz besonderes verbirgt sich hinter der Bezeichnung „Vielseitigkeitsprüfung“: Der Dreikampf nämlich aus Lyrik, lyrischer Übersetzung und Poetologie — das alles an drei aufeinander folgenden Tagen. (40)
Mit diesem Buch habe ich mir Kempowski verleidet, das ist zum Abgewöhnen … Hamit — die dialektale Variante von “Heimat” — ist ein Tagebuch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kempowski heißt das: Er kann wieder Rostock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingekerkert war. Weitere Themen des Tagebuchs: Die Medien — wie sie über Politik und über ihn berichten -, die Fertigstellung von Alkor, Zwistigkeiten, Besuche etc. Dazwischen taucht noch die Sammlung von Tagebüchern und Erinnerungen anderer Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Politik der Gegenwart spielt natürlich eine Rolle, gerade hinsichtlich des Vereinigungsprozesses. Das ist aber auch der Bereich, wo Kempowski vor allem seinen Animositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und wenigen anderen) hat niemand je etwas kapiert, sehen alle die Widersprüche und Probleme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tagebuch, es ist mindestens zwei Mal überarbeitet (und damit endgültig literarisiert) worden. Aber auch die Anmerkungen aus den 2000ern verstärken die Tendenz der Besserwisserei noch lassen ihn als den einzigen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen einfach nicht erreichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressentiments gegen so ziemlich alle und jeden (mit Ausnahme vielleicht bestimmter Bereiche der Vergangenheit). Und eine große Eitelkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Literaturbetrieb, die Medien und die Kritik, aber auch sein Verlag, alle verkennen seine Genialität und seine Leistungen. Dabei ist er doch unersetzlich, wie er ganz typisch bescheiden festhält:
Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschichten zurück. (284)
Was würden wir Armen also nur ohne ihn tun!
Mir war der Kempowski, der sich hier zeigt, jedenfalls ausgesprochen unsympathisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Verdienst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschwert er sich immer wieder darüber, dass er Restaurantrechnungen bezahlen muss/soll: total ichzentriert eben, der Schreiber dieser Seiten, der sich vor allem durch seine Kauzigkeiten — wie die total kontingent scheinende Ablehnung der Worte „Akzeptanz“ und „Dirigat“ (329) — auszeichnet.
Wenn niemand eine Biographie über mich schreibt, tue ich es eben selbst. (177)
Jürg Halter: Wir fürchten das Ende der Musik. Gedichte. Göttingen: Wallstein 2014. 72 Seiten
“Für sich” steht als Widmung in diesem Gedichtband. Und das stimmt einerseits, andererseits aber auch überhaupt nicht. Zwar stehen die Gedichte erst einmal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber andererseits bleiben sie auch gerade nicht “für sich”, denn Halter geizt nicht mit intertextuellen Anspielungen und Verweisen. Gerade die Musik spielt da durchaus eine große Rolle. Und dennoch: Man muss diese Intertextualitäten nicht erkennen, man muss ihnen schon gar nicht nachgehen (obwohl das durchaus spannend sein könnte, das systematisch zu tun), um die Lyrik Halters verstehen zu können. Oder zumindest glauben zu können, etwas verstanden zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie geradezu erzählend, ihre Metaphern bleiben leicht nachvollziehbar, die Form klar und übersichtlich. Manchmal wirkt das mit dem lockeren Sprachduktus, dem leichten Ton mir aber auch etwas zu plätschernd, zu prosa-nah, zu wenig formbestimmt für Lyrik. Doch gibt es durchaus schöne und spannende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Verwurzelung Halters und Tradition und Intertextualität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kultur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anregendes Spiel mit sich selbst immer wieder zu beobachten, die Selbstreflextion des Lyrikers und des Gedichtes zu erkennen. Interessant ist auch das immer wieder auftauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Trennende von Vergangenheit und Gegenwart abzielt, sondern auf den Übergang, die fließende Entwicklung: Vom Holozän bis zum Jetzt und dem Augenblick sind einzelnen Momente kaum zu fassen und zu bestimmen:
Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)
Nicht alles ist sprachlich oder inhaltlich sehr stark, gerade im Abschnitt IV („O, aufgeklärtes Leben, unsere Droge!“ überschrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefunden zu haben. Die Digital-Skepsis in „Hypnose“ ist zum Beispiel ziemlich oberflächlich und billig. Dazwischen gibt es aber immmer wieder schöne Momente, die das Lesen dennoch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wiederholende Szene“:
Die sich leerenden Straßen an einem Sommerabend in einer kleinen Stadt. Das Rücklicht des letzten Busses, ein leichter Wind, der geht. Im Ohr ein Lied über das Ende einer Freundschaft.