“Seerücken” ist ein typisches Stamm-Buch. Alle notwendigen Ingredenzien sind im neuen Erzählungsband von Peter Stamm vorhanden, auch die Mischung stimmt wieder.1. Da wären sie also wieder, die Gewöhlichkeiten des Peter Stamm. Aus den Banalitäten des Alltgs, des “normalen” Lebens schöpft er seine Erzählungen. Tristesse und eine leichte Melancholie als Grundstimmung darf und kann man hier schon konstatieren — aber nur eine leichte, eine schwebende, die mehr durch ihre Anmut als durch ihre Melancholie bezaubert.
Das zeigt sich schon ganz nebensächlich — aber Nebensächlichkeiten gibt es bei Stamm eben nicht, hier zählt jedes Wort mit Bedacht — in der vorhandenen und erfahrenen Natur und Umwelt im weitesten Sinne, denn auch Dorf (das eher) und Stadt, Arbeitsplatz und Wohnung gehören da schon dazu: Als gegebene Umstände, umweltliche Rahmungen des/der Protagonisten — und beiben übrigens auffallend menschenleer, selbst in “Massenszenen” wie einem Open-Air-Konzert mit mehreren Hundert Besuchern gibt es eigentlich nur vier oder fünf Menschen, der Rest ist Umwelt, ist Rauschen, Hintergrund … Die Lanschaft ist hier oft der Bodensee, wiederholt dunstig, neblig, mit unklarem Wetter — keine Sonnenschein-Stimmung auf jeden Fall …
Denn es sind ja immer etwas holprige Lebensentwürfe, die Stamm beschäftigen. Seine Erzähungen oder Kurzgeschichten haben hier — zumindest teilweise — durchaus einen Hang zur Novelle: Einen gewissen Dreh, ein unvorhergesehene Ereignis, eine unerwartete Wendung bekommen die Geschichten durchaus öfters mit. Aber, und das ist eben typisch für Stamm, meistens nur einen klitzekleinen, manchmal sogar nur einen kaum merkbaren — und manchmal auch gar keinen … Und dieses “Ereignis” — das auch eine bloße Wahrnehmung sein kann — ist keineswegs unbedingt das Zentrum oder das Ziel des Textes — insofern stimmt das mit den Novellen auch wieder nicht und man muss wohl bei dem etwas generischen Begriff der “Erzählung” bleiben.
Seine Gestalten sind Anti-Helden — die Kritik klassifiziert sie oft als Verlierer. Aber das scheint mir zu weit: Verloren sind sie in der Regel nur in der Alltäglichkeit, der Gewöhnlichkeit ihrer Lebensentwürfe. Aber auch Sehnsuchtspielt nur eine untergeordnete Rolle — die allerdings schon: Sie lauert unter der Oberfläche, die (oft mit Mühe) aufrecht erhalten wird. Gewiss, das Scheitern ist hier häufiger als das Gelingen. Aber so ist das Leben nun einmal. Und nicht jedes Misslingen ist ein Scheitern, manchmal reicht auch ein Beinahe oder ein Geradesogelingen für den Erfolg. Die Figuren Stamms sind jedenfalls gan sicher keine Draufgänger — Risiko gehen sie nur ungern ein, sie richten sich gerne ein in ihrem Leben, ihren Umständen, ihrer eigenen Welt. Und manchmal ist der Autor so gemein, sie mit klitzekleinen Unscheinbarkeiten, mit zufälligen Begegnungen, mit kleinen Ereignissen zumindest für einen Moment aus ihrem gemütlichen, aber nie ganz erfüllenden Alltag und dessen Trott zu reißen, ihnen so die Möglichkeit des Denkens, des Sehnens, des Wünschens zu eröffnen und die Welt und das Leben etwas heller werden zu lassen.
Wahrscheinlich kommt daher das hohe Identifkationpotenzial, dass die Stammsche LIteratur anbietet und sie so erfolgreich macht. Trotzdem, trotz der (zumindest scheinbaren) Banalität seiner Figuren, Psychen und Handlungen, ist Stamm aber in der Lage, Schönheiten zu entdecken. Das st wohl seine größte Leistung: Die ästhetische Faszination, die reine, fast unschuldig zu nennende Schönhei der Banalität nicht nur zu entdecken und mitzuteilen, sondern ihr auch eine Form zu geben. Denn Stamms Sprache ist ja geradezu beleidigend einfach, schlicht — aber genauestens komponiert. Denn gerade die Simplizität seiner Schilderung, die leichte Distanz zu Menschen und Dingen ermöglicht ihm Genauigkeit, Präzision der Wahrnehmung des Erzählers und Präzision der Schilderung. Diese Passung, die Übereinstimmung von Thema/Sujet und Stil macht einen großen Teil des Könnens Stamms aus.
Zehn Geschichten, jede ganz eigen und doch alle zusammen gehörig, eben als ewige Variation des Stammschen Themas. Aber das kann man durchaus öfter lesen. Und allein die letzte Geschichte dieses Bandes, “Coney Island”, ist schon großartig genug: Auf genau drei Seiten schildert Stamm nur eine ganz alltägliche, banale Situation — ein Raucher am Mehr, eine zufällige Begegnung, ein Foto — und doch ist das alles viel mehr, öffnet es ein Fenster in ein ganzes Leben, ein Entwurf, eine Idee des “richtigen” oder ordentlichen Lebens. Die schwächste der Erzählungen scheint mir genau die zu sein, die am stärksten zur Novelle tendiert, wo am “meisten” passiert: “Der Lauf der Dinge” — ein Paar im Urlaub, die Nachbarn in der Ferienwohnung als lärmende Familie, die urplötzlich verstummt: Der Vater hat seinen eigenen Sohn beim Wenden aus Versehen überfahren. Typisch Stamm ist natürlich, dass dieses Ereignis nicht aus der betroffenen Familie heaus erzählt wird, sondern über den “Umweg” der nicht/kaum betroffenen zufälligen Nachbarn auf Zeit. Aber doch scheinen mir die stärker reduzierten Texte, die ohne größere Szenerie und ohne vielfältiges Personal auskommen,2 die eindringlicheren und überzeugenderen.
Peter Stamm: Seerücken. Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer 2011. 190 Seiten. ISBN 978–3‑10–075133‑1.