Knausgård ist gut, aber Handke ist besser | FAZ → ein kluger beitrag von jan wiele zur „authentizitätsdebatte“, die vor allem die „welt“ (vollkommen unsinniger weise …) losgetreten hat
enn man irgendetwas aus den Debatten über realistisches Erzählen der letzten Jahrzehnte mitgenommen hätte, müsste man eigentlich misstrauisch werden angesichts einer solchen Scheinwirklichkeitsprosa, die so tut, also könne man einfach „erzählen, wie es gewesen ist“ – und das gilt eben nicht nur für Knausgård, sondern allgemein. […] Es wirkt – nicht nur aus einer historisch-kritischen Haltung heraus, sondern auch für das persönliche Empfinden von literarischen Texten – befremdlich, wenn nun hinter all die ästhetischen Überlegungen zum realistischen Erzählen, vor allem aber hinter die Werke, die aus ihnen heraus entstanden sind, wieder zurückgegangen werden soll und man so tut, als gäbe es irgendein unschuldiges, authentisch-nichtfiktionales Erzählen.
Gemeinnützigkeit als Türöffner | BildungsRadar → der „bildungsradar“ versucht herauszubekommen, wie das ganze projekt „calliope“ funktioniert bzw. funktionieren soll – und stößt auf viele mauern und einige seltsame mauscheleien …
Gegen ein Bündnis aus mehr oder weniger authentisch Rechtsextremen, Neo-Nationalisten und Exzeptionalisten, fundamentalistischen Markt-Anarchisten, mafiös vernetzten Kleptokraten und einem Mittelstand in realer und manipulierter Abstiegsangst kann eine demokratische Zivilgesellschaft nur bestehen, wenn sie neue Ideen und neuen Zusammenhalt findet. Der Zusammenschluss der postdemokratischen Kräfte hingegen findet seine Schubkraft dagegen vor allem im Opportunismus und in der politischen und medialen Korruption. […] Schon jetzt gibt es irreversible Folgen des Trumpismus, eben jene Vermischung von politischem Amt und ökonomischen Interessen, die einst den Berlusconismus prägte, den Wandel der politischen Sprache, eine Spaltung der Gesellschaft, die über alle gewöhnlichen „politischen Meinungsverschiedenheiten“ hinaus geht, eine Patronage, Clanwirtschaft, Abhängigkeitsnetze: Wir sehen einem Machtsystem bei der Entstehung zu, das viel tiefer geht als die Besetzung eines Amtes. Und wie bei Berlusconi lässt sich nach dem Ende der Amtszeit nur ein Teil davon demokratisch rückgewinnen.
Augentrost – das ist mal ein Buchtitel! Dabei ist es gar keine Neuschöpfung, denn Constantijn Huygens schrieb seine Euphrasia schon 1647. Der Titel ist übrigens schnell erklärt: Der Augentrost (Euphrasia officinalis) ist eine Wiesenpflanze, seinen Namen hat er aufgrund seiner angenommenen Heilwirkung. Das muss uns aber nicht weiter beschäftigen, denn hier geht es ja um Literatur. Um ein Trostgedicht, das aus eher privatem Anlass entstand (und zunächst auch noch nicht über 1000 Verse umfasste): Huygens, der selbst (manchmal) eine Brille trug, schrieb es als Trost für eine Freundin (die im Text als „Parthenine“ auftaucht) und offenbar den Verlust eines Auges zu beklagen hatte. Aber, wie das Nachwort wiederum ganz richtig bemerkt, es ist mehr als ein Trostgedicht (ich würde sogar sagen: Es ist gar kein Trostgedicht mehr …), es ist ein richtiger Narrenspiegel, der die ganze Gesellschaft – die Dichter übrigens ausdrücklich eingeschlossen – aufspießt.
Huygens, verrät mir das Nachwort des Übersetzers Ard Posthuma, ist „ein Klassiker der niederländischen Literatur“ (und auch ein recht produktiver Komponist, neben seinen zahlreichen anderen Tätigkeiten und Berufen), in Deutschland aber wohl eher unbekannt. „Huygens‘ Sprachvirtuosität war grenzenlos“. Und das merkt man. Wobei ich das gleich wieder einschränken muss: Denn ich kenne nur die Übersetzung. Die ist aber sehr pfiffig. Inwieweit Posthuma damit der Sprache und dem Text Huygens‘ gerecht wird, entzieht sich meiner Beurteilung. Als deutscher Text, der 2016 erschien, ist er aber auf jeden Fall lesenswert. Denn Posthuma liefert einen Text, der nicht nur erstaunlich flüssig zu lesen ist, sondern sich – und das macht das Lesevergnügen deutlich größer – genau an das metrische Vorbild des Originals, die sechshebigen Jamben mit wechselnden Kadenzen und den Paarreim hält. Manchmal wird das sogar richtiggehend salopp und fast flapsig (auch der „Lahmarsch“ hat einen Auftritt …).
Nun ist aber immer noch unklar, was dieser Augentrost denn nun eigentlich ist. Kurz gesagt: Ein Langgedicht in 1002 Versen (Alexandrinern) über die Blindheit oder vielleicht besser: über die vielfältigen Formen, in denen Menschen blind sein können. Das organisiert Huygens nach einer kleinen Einführung als einen Katalog von Menschengruppen, die er als blind kategorisiert. Meistens sind sind sie es nicht in wörtlicher Hinsicht, sondern in übertragener, weil sie das Eigentliche des Lebens – und des Glaubens, des christlichen Gottes (da bleibt Huygens ganz und gar ein Kind seiner Zeit) – nicht sehen, d.h. nicht erkennen, sondern gierig, geizig, hastig, müßiggängerisch sind. So haben sie alle einen Auftritt, die Gesunden und Kranken, die Gelehrten und die Eifersüchtigen, die jungen Leute, die Jäger, die Schnatterer, der ganze Hof – man merkt, das ist wirklich eine Art soziologisches Gesellschaftspanorama, das Huygens hier entwirft. Und natürlich sind, darum geht es ja schließlich, alle blind, ihr Sehen der Welt, ihre Sichtweise auf Menschen, Handlungen und Dinge ist eingeschränkt – meistens, weil sie das große Ganze des christlichen Heilsplanes nicht (er)kennen oder nicht im Sinn behalten. Auch das eigene Leid und das Leid der anderen und der Umgang mit dem Leid überhaupt spielen immer wieder eines besondere Rolle. Schließlich ist das insbesondere für Christen ein Punkt der Prüfung (eine Art privates Theodizee-Problem): Warum lässt Gott mich/die Menschen leiden?
Wer klagte da nicht gern, würd’s nachher besser gehn! /Wer aber brächte je des Himmels Lauf zum Stehn? Vers 49–50
Erstaunlich fand ich dabei oft den fast krassen Realismus der Beschreibungen, die er benutzt. Besonders deutlich wird das, wenn er die Liebeslyrik-Konventionen seiner Zeit mit der banalen (und im Vergleich zum Ideal hässlichen) Realität konfrontiert (Verse 360ff.). Und nebenbei findet man auch eine interessante Abwertung der (realistischen) Malerei (460ff.), weil sie doch immer bloß ein unvollkommenes, unfertiges, unvollständiges Abbild der Welt – dieser vollkommenen göttlichen Schöpfung – darstellt. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen – so ziemlich jeder Leser, jede Leserin dürfte hier auf interessante Beobachtungen und Schilderungen stoßen.
Zum Augentrost gehört auch noch eine kurze Vorrede (im Original lateinisch), voll gestopft mit Topoi der Bescheidenheit. Das fängt schon mit einer Warnung – dieser Text sei nichts für Leser, die die Größe antiker Autoren zu schätzen wissen – an und gipfelt in dem Hinweis: „Sollte das Hauptwerk missfallen /genieße das Beiwerk.“ Und natürlich funktioniert es, man möchte dann erst recht weiterlesen. Der Rest der Paratexte (des „Beiwerks“) fehlt in dieser Edition der Übersetzung bei Reinecke & Voß leider zum größten Teil, so dass man Huygens‘ Empfehlung gar nicht folgen könnte. Durch Anmerkungen des Übersetzers – die sich aber nur auf die Bibelstellenverweise/-anspielungen beziehen, die wiederum zum großen Teil recht klar & eindeutig sind, wird das wenigstens zum Teil wieder wett gemacht. Die Ausgabe ist sowieso eine, die ihr Licht unter den Scheffel stellt (um auch ein biblisches Bild zu bemühen): das Äußere ist eher zweckmäßig als schön, was etwa das Druckbild (und die recht häufigen Fehler) angeht. Dafür ist sie aber auch recht wohlfeil zu erwerben.
Nur eine Sorte noch: Autoren sind auch Blinde, /besonders die von dir geliebten Dichterfreunde. /Die sind so dicht wie blind; sie sehen nur den Reim /und gehen in der Kunst den Wörtern auf den Leim /… /Das ist Poeten-Art, denn die zu dichten pflegen /sehen kein schöneres Ei als was sie selber legen. /Verprügeln kannst du ihn, doch sagt er unentwegt, /dass kein Poet so schön wie er die Laute schlägt. Verse 913ff., 941ff.
Soll man den Augentrost also lesen? Wenn es nach Huygens selbst geht, gar nicht unbedingt. Er beginnt nämlich gleich in der Vorrede – also direkt mit den allerersten Versen – mit einer Warnung:
Lies mich bitte nicht, /wenn besseres Salz dir zusteht /und dir keine Speise schmeckt, /die fader ist als die der Alten. /Lies mich bitte nicht. Wozu deine Augen /(oder ein Auge nur) peinigen?
Aber wer lässt sich von so etwas denn schon abhalten? Die Lesezeit-Schätzung, die Huygens in seinen Text einflicht (Vers 137: „zum Lesen sind gut zwei, drei Stunden vorgesehen“), stimmt übrigens ziemlich genau: Mehr als zwei, drei Stunden benötigt man dafür nicht. Aber das sind dann doch zwei, drei sehr vergnügliche, unterhaltsame und auch belehrende Stunden.
Constantijn Huygens: Euphrasia. Augentrost. Übersetzt und herausgegeben von Ard Posthuma. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. [ohne Seitenzählung]. ISBN 9783942901222
Man kann aus Martin Luther einen Freiheitshelden machen. Muss man aber nicht. Man kann die ‚Botschaft‘ der Reformation (wie lautete sie gleich noch?) in das Korsett standardisierter Musicalmelodien packen. Man muss sich das aber nicht anhören. Man kann die geistliche Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts in ein fahrstuhltaugliches Funktionsmusikgeriesel verwandeln. Man muss dafür aber kein Geld ausgeben.
Man hat das damals nicht „Fake News“ genannt, weil es den Begriff noch nicht gab. Vor allem aber haben die meisten anderen Medien diese „Fake News“ nicht bekämpft, sondern fröhlich weiter verbreitet. […] Jetzt, auf einmal, entdecken die Medien die Gefahr der „Fake News“ und wollen mit großem Einsatz dagegen kämpfen. Was für eine Heuchelei.
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Sie reimt sich nicht einmal. Aber die Geschichtswissenschaft zeigt uns, wie gewisse Dinge zusammenhängen. Sie weist uns auf gewisse Muster hin. […] aber das Beispiel Deutschlands lehrt uns: Das muss man gleich am Anfang begreifen, nicht erst am Ende. Wenn man eine „Gleichschaltung“ stoppen will, muss man sagen: Es gefällt mir, dass wir ein föderales System haben
CO2-Bilanz 2016: Deutschland macht einen Schritt zurück | Deutsche Welle → 2016 war für Deutschlands Klimaschutz ein schlechtes Jahr. Im Vergleich zum Vorjahr wurde sogar wieder mehr CO2 in die Luft geblasen. Für die Klimaziele reicht das Tempo der Energiewende bisher nicht. So wird das – wie in den letzten Jahren und Jahrzehnten – wieder nichts, trotz hehrer Ziele: Wenn es an die konkrete Umsetzung geht, gelten offenbar auf einmal andere Prioritäten …
Die postfaktische Universität | Zeit → bernhard pörksen über das „postfaktische“ zeitalter, die probleme dieser diagnose und möglichkeiten der abhilfe – ich bin mir nicht sicher, ob er mit allem recht hat (z.b. scheint mir ein unterschied zw. ideologischer weltsicht und bullshit/post-truth zu bestehen), aber er hat durchaus einige bedenkenswerte argumente und beobachtungen
Postfaktisch ist, darin besteht das Problem, ein sachlich falscher Verbalaufreger, ein Symptomwort des Pauschalismus. […] Das demokratische Prinzip lebt elementar vom Ideal der Aufklärung und von der Idee des mündigen Bürgers – bis zum absolut endgültigen Beweis des Gegenteils. Und eine paternalistisch regierte Wahrheitswelt kann sich bei allem Erschrecken über das gegenwärtige Kommunikationsklima niemand wünschen. Was für liberal gesinnte Geister bleibt, ist die manchmal beglückende und manchmal schreckliche Sisyphusarbeit des Diskurses, die nun überall stattfinden muss.
Seit dem 1. Januar gelten für Radfahrer an Kreuzungen keine Fußgänger-Signalgeber mehr, Radfahrer müssen und dürfen an vielen Kreuzungen plötzlich die Fahrbahn-Signalgeber beachten. Dumm nur, dass die Straßenverkehrsbehörden davon nichts wissen: Die Fahrbahn-Signalgeber sind teilweise gar nicht für Radfahrer sichtbar, während an anderen Kreuzungen abbiegende Kraftfahrer gar nicht mehr mit geradeausfahrenden Radfahrern rechnen.
Man darf nur hoffen, dass nicht allzu viele Radfahrer diese Änderung bemerken und nach wie vor artig bei roter Fußgängerampel stehenbleiben.
[Luther] ist uns als erstes als Fremder darzustellen. Sehen Sie, in dieser Zeit war es so, dass die Allzuständigkeit von Religion, Allzuständigkeit des Christentums nicht nur für das Jenseits – das ist uns ja sowieso abhandengekommen – aber auch für das Diesseits konstitutiv war für diese Gesellschaft, für diese Kultur. Das existiert für uns heute nicht mehr. Weder diese Vorstellung, ein jenseitiges Leben bereits jetzt vorbereiten zu müssen im Sinne einer totalen Ausrichtung des diesseitigen Lebens auf das jenseitige, das ist uns abhandengekommen.
Da ist eben die große Schwelle, die Aufklärung – das ausklingende 18. und das frühe 19. Jahrhundert, in dem das passiert, was wir Säkularisierung nennen. Das setzt vorher ein – sehr wichtig die Regelungen des Westfälischen Friedens, dass Religion und Politik getrennt wird, dass die Allzuständigkeit von Religion aufgegeben wird. Das macht die ganz andere Situation heute aus.
Von daher sind zwei Dinge wichtig. Wir können einerseits Luther nicht von oben herab beurteilen. Da gibt es so einige Aussagen: Naja, der hat ja an Hexen geglaubt, der hat die Frauen unterdrückt. Ich pflege dann zu sagen: Naja, der Mann konnte nicht mal Auto fahren. So ein lächerlicher Mensch ist das und auf den wollen wir uns nach 500 Jahren besinnen.
und mit einem schönen satz am schluss:
Der Historiker hat dafür zu sorgen, dass nichts verschleiert wird, sondern im Guten wie im Bösen – und hier geht es natürlich um das Böse, das ist völlig klar – die Dinge genauestens sachgerecht identifiziert werden.
Aus der durchhöhlten Rübe springt die Maus. Der reife Wind zwingt das Holunderblatt zu tagelangem Purzelbaum - Die leere Rübenbacke klafft, Die Tauben peitscht der Wind ans Haus.
Den Bauernpferden wächst das Haar wie Moos so dicht. Das Jahr geht hin. Kein Anfang ist und Ende nicht. Die Eichel fällt – die Einsamkeit erschrickt, und Öde schluckt den Ton. Sie schluckt auch meiner Sohle Lärmen, sie vergaß mich schon. Wilhelm Lehmann, Altjahresabend (1928)
ÖPNV der Herzen | fairkehr → das magazin des vcd stellt möglichkeiten vor, den öpnv in deutschland attraktiver zu machen (es gibt schon eine erstaunliche menge pilotprojekte dazu, die aber anscheinend alle isoliert vor sich hin wurschteln …)
Emil Staiger hatte die Universität, die Bühne des städtischen Theaters und auch das Feuilleton als die letzten Bollwerke einer Kunst bewahren wollen, die unberührt von den Erscheinungen veränderter Lebenswelten und Zeiten, aber im Zeichen ewiger Werte stehen sollte. Mit seiner Rede jedoch brachen die Dämme, die er eigentlich zu errichten beabsichtigt hatte.
Ein für alle Mal hatte er die Frage klären wollen, welche Kunst allein Bestand habe und welches ihre Aufgabe nur sein könne. Seine Dankesrede aber entfachte diese Kontroversen erst richtig.
Dies ganzen „Was wir wissen“-Listen und ‑Live-Blogs der Qualitätsmedien sind doch eine einzige erbärmliche Bankrotterklärung – auch wenn sie für „das Beste, was uns einfällt“ gehalten werden. Erstens: Wäre es nicht das Ziel guten Journalismus, überhaupt immer (nur) das zu schreiben, was man (oder eben, wenn man unbedingt emotional manipulieren will, wir) weiß? Zweitens: Wäre es, wenn schon der erste Punkt nur ein Wunsch, eine Zielvorstellung ist, erstrebenswert, wenigstens in diesen „Was wir wissen“-Texten sich auf Wissen zu beschränken – und zwar journalistisch abgesichertes Wissen (also zum Beispiel: ordentliche Quellen, von einander unabhängig Quellen (und der Plural ist da wichtig))? Stefan Niggemeier hat das bei „Übermedien“ schon gut aufgezeigt. Und drittens: Wäre es nicht sowieso viel sinnvoller, mal ein bis drei Gänge zurückzuschalten bei solchen Ereignissen? Denn: Wie relevant ist die permanente Flutung mit (Eil-)Meldungen für die Bevölkerung in Deutschland den wirklich, insbesondere in den Stunden direkt nach der Tat? Selbst „Zeit“ und „Süddeutsche“ „unterhalten“ ihr Publikum den ganzen Tag mit einem konstanten Strom an Quasinachrichten. Nur: Ändert sich für die Menschen denn wirklich so viel? Klar, wenn es Hinweise gäbe, dass es keine Einzeltat war – dann soll und muss natürlich entsprechend gewarnt werden. Aber sonst? Kann man die Polizei nicht wenigstens zunächst mal ihre Arbeit machen lassen und vernünftige Ermittlungen durchführen lassen? (Ich bin bisher gut damit gefahren, nach solchen Ereignissen mir selbst sozusagen eine kurzzeitige „Medienquarantäne“ zu verordnen. Was über Twitter reinkommt, ist schon mehr als genug, da muss ich nicht noch als Klickvieh dienen … Und tatsächlich ist das – auch wenn’s etwas hart klingt – für mein psychosoziales Empfinden/Wohlbefinden ausgesprochen dienlich.) Natürlich kann – und muss! – diese Arbeit auch journalistisch begleitet und hinterfragt werden. Das heißt aber auch nicht, dass man alles nachplappert, was irgendein Polizei- oder Politfunktionär, der mit dem konkreten Fall nichts zu tun hat, gerade für mitteilenswert hält.
Das alles, was ich eigentlich ganz banal unter „journalistisches Handwerk“ subsumieren möchte, hätte nicht nur einen qualitativen Vorteil für die Medien. Sondern auch für die Menschen: Sie müssten sich nicht unnötig ängstigen – und dann auch nicht von den gleichen Medien, die Panik und Furcht verbreiten (um des Geschäftes willen, offensichtlich) ermahnt zu werden, der Angst keinen Raum zu geben …
Eine kleine Intakt-Auslese aus dem zweiten Halbjahr – dank des vortrefflichen Abonnements bekomme ich ja immer alle Veröffentlichungen postwendend geliefert:
Musikalische Monster
Die Musical Monsters sind eigentlich gar keine neue Musik. Aufgenommen wurde das nämlich schon 1980 bein Jazzfestival Willisau. Dessen Chef Niklaus Troxler hat die Bänder gut aufgehoben. Und Intakt konnte sie jetzt, nach umständlicher Rechteabklärung, endlich veröffentlichen. Zu hören ist ein Quintett mit großen Namen: Don Cherry, Irène Schweizer, Pierre Favre, John Tchicai und Léon Francioli, das es so sonst nicht zu hören gibt. Am erstaunlichsten fand ich, wie wenig man die 36 Jahre, die die Aufnahme alt ist, der Musik anhört. Die vier großformatigen, größtenteils freien Improvisationen – es gibt ein paar melodisch fixierte Ankerpunkte, die als festgelegte Scharniere zwischen Solo- und Kollektivimprosiationen dienen – klingen erstaunlich frisch, ja fast zeitlos: Die intuitive Spontaneität und Intensität ist ziemlich fesselnd. Vor allem, weil sie von allem etwas bietet – verspielte Faxen, intime Momente, packende Energien … Und weil die fünf ziemlich gleichwertige, gleichermaßen faszinierende Musikerinnen sind, die sich immer wieder zu großen Momenten innerer Stärke aufschwingen, die in erstaunlicher Dichte aufeinander folgen und zuweilen sogar echtes Pathos erzeugen. Besonders faszinierend fand ich das in der zweiten Improvisation, mit über zwanzig Minuten auch die längste, in der sich großartige Soli (vor allem Tchicai sticht hier hervor) und spannende, in ihrer fragenden Offenheit ungemein fesselnde Gruppenimprovisationen ballen.
Don Cherry, John Tchicai, Irène Schweizer, Léon Francioli, Pierre Favre: Musical Monsters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minuten.
Tiefe Gedächtnismusik
Für Deep Memory hat sich Barry Guy, der die CD im Trio mit Marilyn Crispell und Paul Lytton aufnahm, von den Bildern Hughie O’ Donoghues zu Kompositionen anregen lassen. Die sieben Stücke tragen die Titel der Bilder: Sleeper, Dark Days, Fallen Angeld oder Silenced Music heißen sie etwa. Das sind aber keine musikalischen Ekphrasen, sondern eher Kompositionen, die sich von dem Bild – seinen Farben, seiner Gestalt und vor allem vielleicht: seiner Stimmung – zu akustischen Eindrücken inspirieren lassen. Vieles davon lässt sich in weiten Bögen, oft verträumt-versponnen und/oder nachdenklich, tragen und speist sich nicht unwesentlich aus dem intimen Zusammenspiel des Trios, das ja schon seit gefühlten Ewigkeiten immer wieder miteinander musiziert und der Effekthascherei ausgesprochen abhold ist. Und das auch auf Deep Memory vor allem durch seine kammermusikalische Dichte und Intensität der farbenprächtigen, tendenziell melancholischen Klangmalerei gefällt. Die befinden sich, so hört es sich an, eigentlich immer auf der gleichen Wellenlänge, um dieses strapazierte, hier aber sehr passende Bild zu benutzen.
Barry Guy, Marilyn Crispell, Paul Lytton: Deep Memory. Intakt Records CD 273, 2016. 52:07 Minuten.
Am großen Rad drehen
Big Wheel Live ist die zweite CD von Christopher Irniger Pilgrim, wie der spannende Saxofonist, Komponist & Bandleader Irniger sein Quintett mit Stefan Aeby, Davie Gisler, Raffaele Bossard und Michi Stulz nennt. Auch wenn das „Live“ wirklich auf Live-Aufnahmen (in Berlin, Ratzeburg und Altenburg) zurückgeht, klingt die CD richtig gut. Und das ist in sofern besonders schön, weil gerade Aeby ein sehr klangsinniger Pianist ist. Die ganze Musik auf Big Wheel Live zeichnet sich meines Erachtens nicht nur durch ihren kraftvollen Sound aus, sondern vor allem durch ihre Räumlichkeit und Tiefe. Oft ist das nur lose verbunden, nur locker gewebt, gibt so den Fünfen aber viel Chancen zum ausgreifenden Erforschen. Und der Freiraum zum Erkunden, die Öffnung in alle Himmelsrichtungen wird weidlich genutzt: Man hört eigentlich immer eine permanente Suchbewegung, die stets fortschreitet, die beim schönen Augenblick verweilt, sondern immer weiter will – wie es gute improvisierte Musik eben (fast) immer tut. Neben Aeby, der sich immer mehr zu einem sehr interessanten Pianist entwickeln zu scheint, hat mir hier vor allem die oft sehr spannende, überraschende Spielweise des Schlagzeugers Michi Stulz gefallen. Gitarrist Dave Gisler und Irnigers Saxophon umspielen sich oft sehr eng. Entscheidend aber in allen sechs Titeln: Das bleibt immer im Fluss, die Ideen versanden eigentlich nie, sondern finden immer neue Pfade und Wege.
Christoph Irniger Pilgrim: Big Wheel Live. Intakt Records CD 271, 2016. 62:44 Minuten.
Das unsterbliche Trio
Vielleicht ist es das europäische Jazztrio schlechthin, sicherlich wohl das am längsten amtierende: Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Paul Lovens sind das Schlippenbach-Trio. Und zwar schon ewig. Und jedes Jahr sind wie wieder unterwegs (die schöne Film-Dokumentation Aber das Wort Hund bellt ja nicht hat die jährliche „Winterreise“ des Trios ja sehr anschaulich gemacht), immer wieder in der gleichen Besetzung mit immer anderer Musik – nicht ohne Selbstironie nennt Schlippenbach das im Begleitheft deshalb „das unsterbliche Trio“. Erstaunlich daran ist vor allem, dass es nicht langweilig wird, dass diese große Vertrautheit miteinander nicht in Belanglosigkeiten mündet. Auch das Warsaw Concert ist wieder eine aufnahmetechnisch und musikalisch gut gelungene Live-Aufnahme vom Oktober 2015. Und beim Schlippenbach-Trio heißt das: Eine einzige lange Improvisation ohne Pausen oder Unterbrechungen, ohne Verabredungen und ohne Komposition – knapp 52 Minuten sind das (dazu kommt noch eine kurze, fast humoristische Zugabe). Der erste Eindruck: Nette Musik – das funktioniert einfach, das passt. Und das ist wirklich Musik der Freiheit: Weil sie sich (und dem Publikum) nichts (mehr) beweisen müssen. Und: Weil sie viel können, enorm viel, sowohl alleine mit ihren Instrumenten als auch zusammen als Trio. Deshalb schöpften sie mit lockerer Hand auch in Warschau eine Vielfalt der Stimmungen. Vieles klingt vielleicht etwas altersmilde in der Klarheit und dem lyrischen Ausdruck (wenn man das so deuten möchte), stellenweise aber durchaus auch bohrend und insistierend. Das ist einfach ausgezeichneter, gelungener, „klassischer“ Free Jazz, den man gerne wiederholt anhört und versucht nachzuvollziehen.
Schlippenbach Trio: Warsaw Concert. Intakt Records CD 275, 2016. 56:36 Minuten.
Zur Erleuchtung
Stefan Aeby war ja auch schon im Christoph Irniger Pilgrim vertreten, hier ist nun noch einmal als „Chef“ mit seinem eigenen Trio zu hören, das aber mit Michi Stulz am Schlagzeug noch eine weitere Person mit dem Pilgrim-Ensemble teilt. To the Light ist eine Musik des Klanges: Ich höre hier nicht so sehr rhythmisch und/oder harmonische Strukturen, sondern vor allem Klänge. Klänge, die sich immer wieder zu kleinen Szenen und imaginären Bildern formen. Das Trio passt da in dieser Hinsicht ausgezeichnet zusammen: Nicht nur Stefan Aeby am Klavier ist ein bisschen ein Klangmagier, auch der Bass von André Pousaz hat erstaunliche Qualitäten (besonders schön im Titelstück wahrzunehmen, das sowieso eine ziemlich großartige Sache ist). Und Michi Stulz, mit halligen Becken und eng klingenden Toms zaubert für einen Schlagzeuger erstaunlich flächige Klänge. Das ist ein poetischer Sound, eine weiche und wandelbare Klanggestalt, die mir ausgezeichnet gefällt. Vieles ist (mindestens tendenziell) leicht verträumt und klingt mit romantisch-impressionistischem Einschlag, ist dabei aber keineswegs schwindsüchtig, sondern durchaus mit gesunder Kraft und Potenz musiziert, die aber nie auftrumpfend ausgespielt wird: So klingen Musiker, die sich nichts beweisen müssen, möchte ich vermuten. Die Musiker muss man sich wohl immer als lauschende Instrumentalisten vorstellen: Vielleicht ist es ja sowieso gerade das (Zu-)Hören, das gute Improvisatorinnen (oder Jazzer) ausmacht. Oder, wie es Florian Keller im Begleittext sehr treffend formuliert: „Eine Musik, die die Figur des Lauschers entstehen lässt. Und diesem viel Raum für seine Fantasie gewährt.“
Stefan Aeby Trio: To the Light. Intakt Records CD 274, 2016. xx:28 Minuten.