»Nächstens mehr.«

Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Ins Netz gegangen (24.1.)

Ins Netz gegan­gen am 24.1.:

  • Knaus­gård ist gut, aber Hand­ke ist bes­ser | FAZ → ein klu­ger bei­trag von jan wie­le zur „authen­ti­zi­täts­de­bat­te“, die vor allem die „welt“ (voll­kom­men unsin­ni­ger wei­se …) los­ge­tre­ten hat

    enn man irgend­et­was aus den Debat­ten über rea­lis­ti­sches Erzäh­len der letz­ten Jahr­zehn­te mit­ge­nom­men hät­te, müss­te man eigent­lich miss­trau­isch wer­den ange­sichts einer sol­chen Schein­wirk­lich­keits­pro­sa, die so tut, also kön­ne man ein­fach „erzäh­len, wie es gewe­sen ist“ – und das gilt eben nicht nur für Knaus­gård, son­dern all­ge­mein.
    […] Es wirkt – nicht nur aus einer his­to­risch-kri­ti­schen Hal­tung her­aus, son­dern auch für das per­sön­li­che Emp­fin­den von lite­ra­ri­schen Tex­ten – befremd­lich, wenn nun hin­ter all die ästhe­ti­schen Über­le­gun­gen zum rea­lis­ti­schen Erzäh­len, vor allem aber hin­ter die Wer­ke, die aus ihnen her­aus ent­stan­den sind, wie­der zurück­ge­gan­gen wer­den soll und man so tut, als gäbe es irgend­ein unschul­di­ges, authen­tisch-nicht­fik­tio­na­les Erzäh­len.

  • Gemein­nüt­zig­keit als Tür­öff­ner | Bil­dungs­Ra­dar → der „bil­dungs­ra­dar“ ver­sucht her­aus­zu­be­kom­men, wie das gan­ze pro­jekt „cal­lio­pe“ funk­tio­niert bzw. funk­tio­nie­ren soll – und stößt auf vie­le mau­ern und eini­ge selt­sa­me mau­sche­lei­en …
  • Die Mode der Phi­lo­so­phen – Wie sich gro­ße Den­ker klei­den | Deutsch­land­ra­dio Kul­tur → net­te klei­ne geschich­te über die typ­ge­mä­ße klei­dung für phi­lo­so­phen (frau­en gibt’s zum schluss auch kurz)
  • Donald Trump: Popu­lis­mus als Poli­tik | Tele­po­lis → der wie meist klu­ge georg seeß­len im inter­view mit domi­nik irten­kauf über trump, demokratie/​postdemokratie und medi­al insze­nie­run­gen:

    Gegen ein Bünd­nis aus mehr oder weni­ger authen­tisch Rechts­extre­men, Neo-Natio­na­lis­ten und Exzep­tio­na­lis­ten, fun­da­men­ta­lis­ti­schen Markt-Anar­chis­ten, mafi­ös ver­netz­ten Klep­to­kra­ten und einem Mit­tel­stand in rea­ler und mani­pu­lier­ter Abstiegs­angst kann eine demo­kra­ti­sche Zivil­ge­sell­schaft nur bestehen, wenn sie neue Ideen und neu­en Zusam­men­halt fin­det. Der Zusam­men­schluss der post­de­mo­kra­ti­schen Kräf­te hin­ge­gen fin­det sei­ne Schub­kraft dage­gen vor allem im Oppor­tu­nis­mus und in der poli­ti­schen und media­len Kor­rup­ti­on.
    […] Schon jetzt gibt es irrever­si­ble Fol­gen des Trum­pis­mus, eben jene Ver­mi­schung von poli­ti­schem Amt und öko­no­mi­schen Inter­es­sen, die einst den Ber­lus­co­nis­mus präg­te, den Wan­del der poli­ti­schen Spra­che, eine Spal­tung der Gesell­schaft, die über alle gewöhn­li­chen „poli­ti­schen Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten“ hin­aus geht, eine Patro­na­ge, Clan­wirt­schaft, Abhän­gig­keits­net­ze: Wir sehen einem Macht­sys­tem bei der Ent­ste­hung zu, das viel tie­fer geht als die Beset­zung eines Amtes. Und wie bei Ber­lus­co­ni lässt sich nach dem Ende der Amts­zeit nur ein Teil davon demo­kra­tisch rück­ge­win­nen.

Augentrost aus fernen Zeiten

Augen­trost – das ist mal ein Buch­ti­tel! Dabei ist es gar kei­ne Neu­schöp­fung, denn Con­stan­ti­jn Huy­gens schrieb sei­ne Euphra­sia schon 1647. Der Titel ist übri­gens schnell erklärt: Der Augen­trost (Euphra­sia offi­ci­na­lis) ist eine Wie­sen­pflan­ze, sei­nen Namen hat er auf­grund sei­ner ange­nom­me­nen Heil­wir­kung. Das muss uns aber nicht wei­ter beschäf­ti­gen, denn hier geht es ja um Lite­ra­tur. Um ein Trost­ge­dicht, das aus eher pri­va­tem Anlass ent­stand (und zunächst auch noch nicht über 1000 Ver­se umfass­te): Huy­gens, der selbst (manch­mal) eine Bril­le trug, schrieb es als Trost für eine Freun­din (die im Text als „Par­then­i­ne“ auf­taucht) und offen­bar den Ver­lust eines Auges zu bekla­gen hat­te. Aber, wie das Nach­wort wie­der­um ganz rich­tig bemerkt, es ist mehr als ein Trost­ge­dicht (ich wür­de sogar sagen: Es ist gar kein Trost­ge­dicht mehr …), es ist ein rich­ti­ger Nar­ren­spie­gel, der die gan­ze Gesell­schaft – die Dich­ter übri­gens aus­drück­lich ein­ge­schlos­sen – auf­spießt.

huygens, augentrost (cover)Huy­gens, ver­rät mir das Nach­wort des Über­set­zers Ard Post­hu­ma, ist „ein Klas­si­ker der nie­der­län­di­schen Lite­ra­tur“ (und auch ein recht pro­duk­ti­ver Kom­po­nist, neben sei­nen zahl­rei­chen ande­ren Tätig­kei­ten und Beru­fen), in Deutsch­land aber wohl eher unbe­kannt. „Huy­gens‘ Sprach­vir­tuo­si­tät war gren­zen­los“. Und das merkt man. Wobei ich das gleich wie­der ein­schrän­ken muss: Denn ich ken­ne nur die Über­set­zung. Die ist aber sehr pfif­fig. Inwie­weit Post­hu­ma damit der Spra­che und dem Text Huy­gens‘ gerecht wird, ent­zieht sich mei­ner Beur­tei­lung. Als deut­scher Text, der 2016 erschien, ist er aber auf jeden Fall lesens­wert. Denn Post­hu­ma lie­fert einen Text, der nicht nur erstaun­lich flüs­sig zu lesen ist, son­dern sich – und das macht das Lese­ver­gnü­gen deut­lich grö­ßer – genau an das metri­sche Vor­bild des Ori­gi­nals, die sechs­he­bi­gen Jam­ben mit wech­seln­den Kaden­zen und den Paar­reim hält. Manch­mal wird das sogar rich­tig­ge­hend salopp und fast flap­sig (auch der „Lahm­arsch“ hat einen Auf­tritt …).

Nun ist aber immer noch unklar, was die­ser Augen­trost denn nun eigent­lich ist. Kurz gesagt: Ein Lang­ge­dicht in 1002 Ver­sen (Alex­an­dri­nern) über die Blind­heit oder viel­leicht bes­ser: über die viel­fäl­ti­gen For­men, in denen Men­schen blind sein kön­nen. Das orga­ni­siert Huy­gens nach einer klei­nen Ein­füh­rung als einen Kata­log von Men­schen­grup­pen, die er als blind kate­go­ri­siert. Meis­tens sind sind sie es nicht in wört­li­cher Hin­sicht, son­dern in über­tra­ge­ner, weil sie das Eigent­li­che des Lebens – und des Glau­bens, des christ­li­chen Got­tes (da bleibt Huy­gens ganz und gar ein Kind sei­ner Zeit) – nicht sehen, d.h. nicht erken­nen, son­dern gie­rig, gei­zig, has­tig, müßig­gän­ge­risch sind. So haben sie alle einen Auf­tritt, die Gesun­den und Kran­ken, die Gelehr­ten und die Eifer­süch­ti­gen, die jun­gen Leu­te, die Jäger, die Schnat­te­rer, der gan­ze Hof – man merkt, das ist wirk­lich eine Art sozio­lo­gi­sches Gesell­schafts­pan­ora­ma, das Huy­gens hier ent­wirft. Und natür­lich sind, dar­um geht es ja schließ­lich, alle blind, ihr Sehen der Welt, ihre Sicht­wei­se auf Men­schen, Hand­lun­gen und Din­ge ist ein­ge­schränkt – meis­tens, weil sie das gro­ße Gan­ze des christ­li­chen Heils­pla­nes nicht (er)kennen oder nicht im Sinn behal­ten. Auch das eige­ne Leid und das Leid der ande­ren und der Umgang mit dem Leid über­haupt spie­len immer wie­der eines beson­de­re Rol­le. Schließ­lich ist das ins­be­son­de­re für Chris­ten ein Punkt der Prü­fung (eine Art pri­va­tes Theo­di­zee-Pro­blem): War­um lässt Gott mich/​die Men­schen lei­den?

Wer klag­te da nicht gern, würd’s nach­her bes­ser gehn! /​Wer aber bräch­te je des Him­mels Lauf zum Stehn? Vers 49–50

Erstaun­lich fand ich dabei oft den fast kras­sen Rea­lis­mus der Beschrei­bun­gen, die er benutzt. Beson­ders deut­lich wird das, wenn er die Lie­bes­ly­rik-Kon­ven­tio­nen sei­ner Zeit mit der bana­len (und im Ver­gleich zum Ide­al häss­li­chen) Rea­li­tät kon­fron­tiert (Ver­se 360ff.). Und neben­bei fin­det man auch eine inter­es­san­te Abwer­tung der (rea­lis­ti­schen) Male­rei (460ff.), weil sie doch immer bloß ein unvoll­kom­me­nes, unfer­ti­ges, unvoll­stän­di­ges Abbild der Welt – die­ser voll­kom­me­nen gött­li­chen Schöp­fung – dar­stellt. Die Lis­te lie­ße sich noch wei­ter fort­set­zen – so ziem­lich jeder Leser, jede Lese­rin dürf­te hier auf inter­es­san­te Beob­ach­tun­gen und Schil­de­run­gen sto­ßen.

Zum Augen­trost gehört auch noch eine kur­ze Vor­re­de (im Ori­gi­nal latei­nisch), voll gestopft mit Topoi der Beschei­den­heit. Das fängt schon mit einer War­nung – die­ser Text sei nichts für Leser, die die Grö­ße anti­ker Autoren zu schät­zen wis­sen – an und gip­felt in dem Hin­weis: „Soll­te das Haupt­werk miss­fal­len /​genie­ße das Bei­werk.“ Und natür­lich funk­tio­niert es, man möch­te dann erst recht wei­ter­le­sen. Der Rest der Para­tex­te (des „Bei­werks“) fehlt in die­ser Edi­ti­on der Über­set­zung bei Rei­ne­cke & Voß lei­der zum größ­ten Teil, so dass man Huy­gens‘ Emp­feh­lung gar nicht fol­gen könn­te. Durch Anmer­kun­gen des Über­set­zers – die sich aber nur auf die Bibel­stel­len­ver­wei­se/-anspie­lun­gen bezie­hen, die wie­der­um zum gro­ßen Teil recht klar & ein­deu­tig sind, wird das wenigs­tens zum Teil wie­der wett gemacht. Die Aus­ga­be ist sowie­so eine, die ihr Licht unter den Schef­fel stellt (um auch ein bibli­sches Bild zu bemü­hen): das Äuße­re ist eher zweck­mä­ßig als schön, was etwa das Druck­bild (und die recht häu­fi­gen Feh­ler) angeht. Dafür ist sie aber auch recht wohl­feil zu erwer­ben.

Nur eine Sor­te noch: Autoren sind auch Blin­de, /​beson­ders die von dir gelieb­ten Dich­ter­freun­de. /​Die sind so dicht wie blind; sie sehen nur den Reim /​und gehen in der Kunst den Wör­tern auf den Leim /​… /​Das ist Poe­ten-Art, denn die zu dich­ten pfle­gen /​sehen kein schö­ne­res Ei als was sie sel­ber legen. /​Ver­prü­geln kannst du ihn, doch sagt er unent­wegt, /​dass kein Poet so schön wie er die Lau­te schlägt. Ver­se 913ff., 941ff.

Soll man den Augen­trost also lesen? Wenn es nach Huy­gens selbst geht, gar nicht unbe­dingt. Er beginnt näm­lich gleich in der Vor­re­de – also direkt mit den aller­ers­ten Ver­sen – mit einer War­nung:

Lies mich bit­te nicht, /​wenn bes­se­res Salz dir zusteht /​und dir kei­ne Spei­se schmeckt, /​die fader ist als die der Alten. /​Lies mich bit­te nicht. Wozu dei­ne Augen /​(oder ein Auge nur) pei­ni­gen?

Aber wer lässt sich von so etwas denn schon abhal­ten? Die Lese­zeit-Schät­zung, die Huy­gens in sei­nen Text ein­flicht (Vers 137: „zum Lesen sind gut zwei, drei Stun­den vor­ge­se­hen“), stimmt übri­gens ziem­lich genau: Mehr als zwei, drei Stun­den benö­tigt man dafür nicht. Aber das sind dann doch zwei, drei sehr ver­gnüg­li­che, unter­halt­sa­me und auch beleh­ren­de Stun­den.

Con­stan­ti­jn Huy­gens: Euphra­sia. Augen­trost. Über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Ard Post­hu­ma. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. [ohne Sei­ten­zäh­lung]. ISBN 9783942901222
netzgebilde (unsplash.com)

Ins Netz gegangen (19.1.)

Ins Netz gegan­gen am 19.1.:

  • Wor­über ich rede, wenn ich über Sex rede | Read on, my dear, read on → ein bericht aus der sexu­al­auf­klä­rung für geflüch­te­te in deutsch­land – sehr inter­es­sant zu lesen …
  • Falk-Pos­til­le | Mein Jahr mit Luther → achim land­wehr über falks „pop-ora­to­ri­um“ „luther“

    Man kann aus Mar­tin Luther einen Frei­heits­hel­den machen. Muss man aber nicht. Man kann die ‚Bot­schaft‘ der Refor­ma­ti­on (wie lau­te­te sie gleich noch?) in das Kor­sett stan­dar­di­sier­ter Musi­cal­me­lo­dien packen. Man muss sich das aber nicht anhö­ren. Man kann die geist­li­che Musik des 16. bis 18. Jahr­hun­derts in ein fahr­stuhl­taug­li­ches Funk­ti­ons­mu­sik­ge­rie­sel ver­wan­deln. Man muss dafür aber kein Geld aus­ge­ben.

  • „Fake News“ und der blin­de Fleck der Medi­en | Über­me­di­en → ste­fan nig­ge­mei­er über die (unehr­li­che) empö­rung über „fake news“:

    Man hat das damals nicht „Fake News“ genannt, weil es den Begriff noch nicht gab. Vor allem aber haben die meis­ten ande­ren Medi­en die­se „Fake News“ nicht bekämpft, son­dern fröh­lich wei­ter ver­brei­tet.
    […] Jetzt, auf ein­mal, ent­de­cken die Medi­en die Gefahr der „Fake News“ und wol­len mit gro­ßem Ein­satz dage­gen kämp­fen. Was für eine Heu­che­lei.

  • „Das 20. Jahr­hun­dert fällt uns gera­de auf den Kopf“ | Welt → inte­res­an­tes inter­view mit dem his­to­ri­ker timo­thy sny­der – über die „leh­ren“ aus der geschich­te udn die poli­tik der gegen­wart

    Die Geschich­te wie­der­holt sich nicht. Sie reimt sich nicht ein­mal. Aber die Geschichts­wis­sen­schaft zeigt uns, wie gewis­se Din­ge zusam­men­hän­gen. Sie weist uns auf gewis­se Mus­ter hin.
    […] aber das Bei­spiel Deutsch­lands lehrt uns: Das muss man gleich am Anfang begrei­fen, nicht erst am Ende. Wenn man eine „Gleich­schal­tung“ stop­pen will, muss man sagen: Es gefällt mir, dass wir ein föde­ra­les Sys­tem haben

spinnenetz mit tautropfen

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Ins Netz gegan­gen am 8.1.:

  • CO2-Bilanz 2016: Deutsch­land macht einen Schritt zurück | Deut­sche Wel­le → 2016 war für Deutsch­lands Kli­ma­schutz ein schlech­tes Jahr. Im Ver­gleich zum Vor­jahr wur­de sogar wie­der mehr CO2 in die Luft gebla­sen. Für die Kli­ma­zie­le reicht das Tem­po der Ener­gie­wen­de bis­her nicht. So wird das – wie in den letz­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten – wie­der nichts, trotz heh­rer Zie­le: Wenn es an die kon­kre­te Umset­zung geht, gel­ten offen­bar auf ein­mal ande­re Prio­ri­tä­ten …
  • His­to­ri­sches Erb­gut: Gene­ti­sches Erbe der Skla­ve­rei | Spek­trum → inter­es­san­ter text über die gene­ti­sche unter­su­chung von (wieder)gefundenen grä­bern befrei­ter skla­ven z.b. auf st. hele­na
  • Die post­fak­ti­sche Uni­ver­si­tät | Zeit → bern­hard pörk­sen über das „post­fak­ti­sche“ zeit­al­ter, die pro­ble­me die­ser dia­gno­se und mög­lich­kei­ten der abhil­fe – ich bin mir nicht sicher, ob er mit allem recht hat (z.b. scheint mir ein unter­schied zw. ideo­lo­gi­scher welt­sicht und bull­shi­t/­post-truth zu bestehen), aber er hat durch­aus eini­ge beden­kens­wer­te argu­men­te und beob­ach­tun­gen

    Post­fak­tisch ist, dar­in besteht das Pro­blem, ein sach­lich fal­scher Ver­bal­auf­re­ger, ein Sym­ptom­wort des Pau­scha­lis­mus.
    […] Das demo­kra­ti­sche Prin­zip lebt ele­men­tar vom Ide­al der Auf­klä­rung und von der Idee des mün­di­gen Bür­gers – bis zum abso­lut end­gül­ti­gen Beweis des Gegen­teils. Und eine pater­na­lis­tisch regier­te Wahr­heits­welt kann sich bei allem Erschre­cken über das gegen­wär­ti­ge Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kli­ma nie­mand wün­schen. Was für libe­ral gesinn­te Geis­ter bleibt, ist die manch­mal beglü­cken­de und manch­mal schreck­li­che Sisy­phus­ar­beit des Dis­kur­ses, die nun über­all statt­fin­den muss.

  • What if Hit­ler had won the war? What is Jesus had­n’t been cru­ci­fied? Who cares? | New Repu­blic → über kon­tra­fak­ti­sche geschichts­schrei­bung und ihren mög­li­chen nut­zen für die gegen­wart, v.a. auch eine wider­spre­chen­de dis­kus­si­on der ableh­nen­den the­sen von richard evans
vögel im winter im gebirge

Twitterlieblinge Dezember 2016

Die letz­te Lis­te, dafür arg ver­spä­tet …:

https://twitter.com/SecretCoAuthor/status/806125455623458816
https://twitter.com/Graswurzel42/status/806276907872436228


https://twitter.com/guenterhack/status/806621057788641280


https://twitter.com/m_rinck/status/809768245762912256
https://twitter.com/ellebil/status/810041968780869634

https://twitter.com/guenterhack/status/810531291934363649
https://twitter.com/astefanowitsch/status/810804753563348992
https://twitter.com/Wondergirl/status/813798977254592512

winterlicher wald im schnee

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  • Das öffent­li­che Eigen­tum ist den Ver­tre­tern des öffent­li­chen Eigen­tü­mers so was von schnurz. Das Bei­spiel Deut­sche Bahn AG | LunaPark21 → guter abriss, wie und war­um das öffent­lich eigen­tum „deut­sche bahn“ nicht im inter­es­se der öffent­lich­keit gema­nagt wird – also, kurz gesagt, wie die poli­tik hier ziem­lich total ver­sagt
  • End­lich: Rad­fah­rer dür­fen über rote Ampeln fah­ren | Rad­ver­kehrs­po­li­tik → rad­ver­kehrs­po­li­tik nimmt die neu­en ampel­re­ge­lun­gen für rad­fah­re­rin­nen bzw. rad­we­ge aufs korn:

    Seit dem 1. Janu­ar gel­ten für Rad­fah­rer an Kreu­zun­gen kei­ne Fuß­gän­ger-Signal­ge­ber mehr, Rad­fah­rer müs­sen und dür­fen an vie­len Kreu­zun­gen plötz­lich die Fahr­bahn-Signal­ge­ber beach­ten. Dumm nur, dass die Stra­ßen­ver­kehrs­be­hör­den davon nichts wis­sen: Die Fahr­bahn-Signal­ge­ber sind teil­wei­se gar nicht für Rad­fah­rer sicht­bar, wäh­rend an ande­ren Kreu­zun­gen abbie­gen­de Kraft­fah­rer gar nicht mehr mit gera­de­aus­fah­ren­den Rad­fah­rern rech­nen.

    Man darf nur hof­fen, dass nicht all­zu vie­le Rad­fah­rer die­se Ände­rung bemer­ken und nach wie vor artig bei roter Fuß­gän­ger­am­pel ste­hen­blei­ben.

  • „Trumps Kom­pe­tenz soll­ten wir nicht wei­ter dis­ku­tie­ren“. Hen­ry Kis­sin­ger über die neue US-Regie­rung und wie ein Krieg mit Chi­na zu ver­hin­dern ist. | IPG → hen­ry kis­sin­ger über ame­ri­ka, chi­na und die welt – und die ver­mut­li­che außen­po­li­tik und ihre stra­te­gi­schen spiel­räu­me unter trump
  • „Frau­en haben die roman­ti­sche Ver­blö­dung“ | FAZ → inter­es­san­tes inter­view mit einer öster­rei­chi­schen schei­dungs­an­wäl­tin über ehe, part­ner­schaft und v.a. die finan­zen
  • Refor­ma­ti­ons­jahr 2017: Gegen „eine inhu­ma­ne Annä­he­rung an Luther“ | Deutsch­land­funk → gutes inter­view mit heinz schil­ling über luther und vor allem über sei­ne bedeu­tung (und die der refor­ma­ti­on ins­ge­samt) für uns und heu­te
    [Luther] ist uns als ers­tes als Frem­der dar­zu­stel­len. Sehen Sie, in die­ser Zeit war es so, dass die All­zu­stän­dig­keit von Reli­gi­on, All­zu­stän­dig­keit des Chris­ten­tums nicht nur für das Jen­seits – das ist uns ja sowie­so abhan­den­ge­kom­men – aber auch für das Dies­seits kon­sti­tu­tiv war für die­se Gesell­schaft, für die­se Kul­tur. Das exis­tiert für uns heu­te nicht mehr. Weder die­se Vor­stel­lung, ein jen­sei­ti­ges Leben bereits jetzt vor­be­rei­ten zu müs­sen im Sin­ne einer tota­len Aus­rich­tung des dies­sei­ti­gen Lebens auf das jen­sei­ti­ge, das ist uns abhan­den­ge­kom­men.

    Da ist eben die gro­ße Schwel­le, die Auf­klä­rung – das aus­klin­gen­de 18. und das frü­he 19. Jahr­hun­dert, in dem das pas­siert, was wir Säku­la­ri­sie­rung nen­nen. Das setzt vor­her ein – sehr wich­tig die Rege­lun­gen des West­fä­li­schen Frie­dens, dass Reli­gi­on und Poli­tik getrennt wird, dass die All­zu­stän­dig­keit von Reli­gi­on auf­ge­ge­ben wird. Das macht die ganz ande­re Situa­ti­on heu­te aus.

    Von daher sind zwei Din­ge wich­tig. Wir kön­nen einer­seits Luther nicht von oben her­ab beur­tei­len. Da gibt es so eini­ge Aus­sa­gen: Naja, der hat ja an Hexen geglaubt, der hat die Frau­en unter­drückt. Ich pfle­ge dann zu sagen: Naja, der Mann konn­te nicht mal Auto fah­ren. So ein lächer­li­cher Mensch ist das und auf den wol­len wir uns nach 500 Jah­ren besin­nen.

    und mit einem schö­nen satz am schluss:

    Der His­to­ri­ker hat dafür zu sor­gen, dass nichts ver­schlei­ert wird, son­dern im Guten wie im Bösen – und hier geht es natür­lich um das Böse, das ist völ­lig klar – die Din­ge genau­es­tens sach­ge­recht iden­ti­fi­ziert wer­den.

Altjahresabend

Aus der durch­höhl­ten Rübe springt die Maus.
Der rei­fe Wind zwingt das Holun­der­blatt zu tage­lan­gem Pur­zel­baum -
Die lee­re Rüben­ba­cke klafft,
Die Tau­ben peitscht der Wind ans Haus.

Den Bau­ern­pfer­den wächst das Haar wie Moos so dicht.
Das Jahr geht hin. Kein Anfang ist und Ende nicht.
Die Eichel fällt – die Ein­sam­keit erschrickt, und Öde schluckt den Ton.
Sie schluckt auch mei­ner Soh­le Lär­men, sie ver­gaß mich schon.
Wil­helm Leh­mann, Alt­jah­res­abend (1928)

spinnennetz mit tau

Ins Netz gegangen (19.12.)

Ins Netz gegan­gen am 19.12.:

  • ÖPNV der Her­zen | fair­kehr → das maga­zin des vcd stellt mög­lich­kei­ten vor, den öpnv in deutsch­land attrak­ti­ver zu machen (es gibt schon eine erstaun­li­che men­ge pilot­pro­jek­te dazu, die aber anschei­nend alle iso­liert vor sich hin wursch­teln …)
  • Der Zür­cher Lite­ra­tur­streit vor 50 Jah­ren: Keh­ren wir zu Mozart zurück | NZZ → roman bucheli erin­nert in der „nzz“ an den zür­cher lite­ra­tur­streit, der vor 50 jah­ren mit der rede emil staigers begann.

    Emil Staiger hat­te die Uni­ver­si­tät, die Büh­ne des städ­ti­schen Thea­ters und auch das Feuil­le­ton als die letz­ten Boll­wer­ke einer Kunst bewah­ren wol­len, die unbe­rührt von den Erschei­nun­gen ver­än­der­ter Lebens­wel­ten und Zei­ten, aber im Zei­chen ewi­ger Wer­te ste­hen soll­te. Mit sei­ner Rede jedoch bra­chen die Däm­me, die er eigent­lich zu errich­ten beab­sich­tigt hat­te.

    Ein für alle Mal hat­te er die Fra­ge klä­ren wol­len, wel­che Kunst allein Bestand habe und wel­ches ihre Auf­ga­be nur sein kön­ne. Sei­ne Dan­kes­re­de aber ent­fach­te die­se Kon­tro­ver­sen erst rich­tig.

  • Nichts gegen pin­ke Ein­hör­ner, aber… | Spie­gel Online → sibyl­le berg wet­tert (mit recht!) gegen gegen­der­tes spiel­zeug und den gan­zen pin­ken mäd­chen­wahn­sin …
  • Das Schlip­pen­bach Trio auf Win­ter­rei­se | Jazz­zei­tung → beim blog der „jazz­zei­tung“ gibt es schö­ne fotos von der aktu­el­len „win­ter­rei­se“ des schlip­pen­bach-tri­os
zeitungen gebündelt

Wir wissen, dass wir nichts wissen

Dies gan­zen „Was wir wissen“-Listen und ‑Live-Blogs der Qua­li­täts­me­di­en sind doch eine ein­zi­ge erbärm­li­che Bank­rott­erklä­rung – auch wenn sie für „das Bes­te, was uns ein­fällt“ gehal­ten wer­den. Ers­tens: Wäre es nicht das Ziel guten Jour­na­lis­mus, über­haupt immer (nur) das zu schrei­ben, was man (oder eben, wenn man unbe­dingt emo­tio­nal mani­pu­lie­ren will, wir) weiß? Zwei­tens: Wäre es, wenn schon der ers­te Punkt nur ein Wunsch, eine Ziel­vor­stel­lung ist, erstre­bens­wert, wenigs­tens in die­sen „Was wir wissen“-Texten sich auf Wis­sen zu beschrän­ken – und zwar jour­na­lis­tisch abge­si­cher­tes Wis­sen (also zum Bei­spiel: ordent­li­che Quel­len, von ein­an­der unab­hän­gig Quel­len (und der Plu­ral ist da wich­tig))? Ste­fan Nig­ge­mei­er hat das bei „Über­me­di­en“ schon gut auf­ge­zeigt. Und drit­tens: Wäre es nicht sowie­so viel sinn­vol­ler, mal ein bis drei Gän­ge zurück­zu­schal­ten bei sol­chen Ereig­nis­sen? Denn: Wie rele­vant ist die per­ma­nen­te Flu­tung mit (Eil-)Meldungen für die Bevöl­ke­rung in Deutsch­land den wirk­lich, ins­be­son­de­re in den Stun­den direkt nach der Tat? Selbst „Zeit“ und „Süd­deut­sche“ „unter­hal­ten“ ihr Publi­kum den gan­zen Tag mit einem kon­stan­ten Strom an Qua­si­nach­rich­ten. Nur: Ändert sich für die Men­schen denn wirk­lich so viel? Klar, wenn es Hin­wei­se gäbe, dass es kei­ne Ein­zel­tat war – dann soll und muss natür­lich ent­spre­chend gewarnt wer­den. Aber sonst? Kann man die Poli­zei nicht wenigs­tens zunächst mal ihre Arbeit machen las­sen und ver­nünf­ti­ge Ermitt­lun­gen durch­füh­ren las­sen? (Ich bin bis­her gut damit gefah­ren, nach sol­chen Ereig­nis­sen mir selbst sozu­sa­gen eine kurz­zei­ti­ge „Medi­en­qua­ran­tä­ne“ zu ver­ord­nen. Was über Twit­ter rein­kommt, ist schon mehr als genug, da muss ich nicht noch als Klick­vieh die­nen … Und tat­säch­lich ist das – auch wenn’s etwas hart klingt – für mein psy­cho­so­zia­les Empfinden/​Wohlbefinden aus­ge­spro­chen dien­lich.) Natür­lich kann – und muss! – die­se Arbeit auch jour­na­lis­tisch beglei­tet und hin­ter­fragt wer­den. Das heißt aber auch nicht, dass man alles nach­plap­pert, was irgend­ein Poli­zei- oder Polit­funk­tio­när, der mit dem kon­kre­ten Fall nichts zu tun hat, gera­de für mit­tei­lens­wert hält.

Das alles, was ich eigent­lich ganz banal unter „jour­na­lis­ti­sches Hand­werk“ sub­su­mie­ren möch­te, hät­te nicht nur einen qua­li­ta­ti­ven Vor­teil für die Medi­en. Son­dern auch für die Men­schen: Sie müss­ten sich nicht unnö­tig ängs­ti­gen – und dann auch nicht von den glei­chen Medi­en, die Panik und Furcht ver­brei­ten (um des Geschäf­tes wil­len, offen­sicht­lich) ermahnt zu wer­den, der Angst kei­nen Raum zu geben …

free music (unsplash.com)

Hineingehört #1

Eine klei­ne Intakt-Aus­le­se aus dem zwei­ten Halb­jahr – dank des vor­treff­li­chen Abon­ne­ments bekom­me ich ja immer alle Ver­öf­fent­li­chun­gen post­wen­dend gelie­fert:

Musikalische Monster

musical monsters (cover)Die Musi­cal Mons­ters sind eigent­lich gar kei­ne neue Musik. Auf­ge­nom­men wur­de das näm­lich schon 1980 bein Jazz­fes­ti­val Wil­li­s­au. Des­sen Chef Niklaus Trox­ler hat die Bän­der gut auf­ge­ho­ben. Und Intakt konn­te sie jetzt, nach umständ­li­cher Rech­te­ab­klä­rung, end­lich ver­öf­fent­li­chen. Zu hören ist ein Quin­tett mit gro­ßen Namen: Don Cher­ry, Irè­ne Schwei­zer, Pierre Fav­re, John Tchi­cai und Léon Fran­cio­li, das es so sonst nicht zu hören gibt. Am erstaun­lichs­ten fand ich, wie wenig man die 36 Jah­re, die die Auf­nah­me alt ist, der Musik anhört. Die vier groß­for­ma­ti­gen, größ­ten­teils frei­en Impro­vi­sa­tio­nen – es gibt ein paar melo­disch fixier­te Anker­punk­te, die als fest­ge­leg­te Schar­nie­re zwi­schen Solo- und Kol­lek­tiv­im­pro­sia­tio­nen die­nen – klin­gen erstaun­lich frisch, ja fast zeit­los: Die intui­ti­ve Spon­ta­nei­tät und Inten­si­tät ist ziem­lich fes­selnd. Vor allem, weil sie von allem etwas bie­tet – ver­spiel­te Faxen, inti­me Momen­te, packen­de Ener­gien … Und weil die fünf ziem­lich gleich­wer­ti­ge, glei­cher­ma­ßen fas­zi­nie­ren­de Musi­ke­rin­nen sind, die sich immer wie­der zu gro­ßen Momen­ten inne­rer Stär­ke auf­schwin­gen, die in erstaun­li­cher Dich­te auf­ein­an­der fol­gen und zuwei­len sogar ech­tes Pathos erzeu­gen. Beson­ders fas­zi­nie­rend fand ich das in der zwei­ten Impro­vi­sa­ti­on, mit über zwan­zig Minu­ten auch die längs­te, in der sich groß­ar­ti­ge Soli (vor allem Tchi­cai sticht hier her­vor) und span­nen­de, in ihrer fra­gen­den Offen­heit unge­mein fes­seln­de Grup­pen­im­pro­vi­sa­tio­nen bal­len.

Don Cher­ry, John Tchi­cai, Irè­ne Schwei­zer, Léon Fran­cio­li, Pierre Fav­re: Musi­cal Mons­ters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minu­ten.

Tiefe Gedächtnismusik

deep memory (cover)Für Deep Memo­ry hat sich Bar­ry Guy, der die CD im Trio mit Mari­lyn Cris­pell und Paul Lyt­ton auf­nahm, von den Bil­dern Hug­hie O’ Donoghues zu Kom­po­si­tio­nen anre­gen las­sen. Die sie­ben Stü­cke tra­gen die Titel der Bil­der: Slee­per, Dark Days, Fal­len Angeld oder Silen­ced Music hei­ßen sie etwa. Das sind aber kei­ne musi­ka­li­schen Ekphra­sen, son­dern eher Kom­po­si­tio­nen, die sich von dem Bild – sei­nen Far­ben, sei­ner Gestalt und vor allem viel­leicht: sei­ner Stim­mung – zu akus­ti­schen Ein­drü­cken inspi­rie­ren las­sen. Vie­les davon lässt sich in wei­ten Bögen, oft ver­träumt-ver­spon­nen und/​oder nach­denk­lich, tra­gen und speist sich nicht unwe­sent­lich aus dem inti­men Zusam­men­spiel des Tri­os, das ja schon seit gefühl­ten Ewig­kei­ten immer wie­der mit­ein­an­der musi­ziert und der Effekt­ha­sche­rei aus­ge­spro­chen abhold ist. Und das auch auf Deep Memo­ry vor allem durch sei­ne kam­mer­mu­si­ka­li­sche Dich­te und Inten­si­tät der far­ben­präch­ti­gen, ten­den­zi­ell melan­cho­li­schen Klang­ma­le­rei gefällt. Die befin­den sich, so hört es sich an, eigent­lich immer auf der glei­chen Wel­len­län­ge, um die­ses stra­pa­zier­te, hier aber sehr pas­sen­de Bild zu benut­zen.

Bar­ry Guy, Mari­lyn Cris­pell, Paul Lyt­ton: Deep Memo­ry. Intakt Records CD 273, 2016. 52:07 Minu­ten.

Am großen Rad drehen

christoph irniger pilgrim, big wheel live (cover)Big Wheel Live ist die zwei­te CD von Chris­to­pher Irni­ger Pil­grim, wie der span­nen­de Saxo­fo­nist, Kom­po­nist & Band­lea­der Irni­ger sein Quin­tett mit Ste­fan Aeby, Davie Gis­ler, Raf­fae­le Bos­sard und Michi Stulz nennt. Auch wenn das „Live“ wirk­lich auf Live-Auf­nah­men (in Ber­lin, Rat­ze­burg und Alten­burg) zurück­geht, klingt die CD rich­tig gut. Und das ist in sofern beson­ders schön, weil gera­de Aeby ein sehr klang­sin­ni­ger Pia­nist ist.
Die gan­ze Musik auf Big Wheel Live zeich­net sich mei­nes Erach­tens nicht nur durch ihren kraft­vol­len Sound aus, son­dern vor allem durch ihre Räum­lich­keit und Tie­fe. Oft ist das nur lose ver­bun­den, nur locker gewebt, gibt so den Fün­fen aber viel Chan­cen zum aus­grei­fen­den Erfor­schen. Und der Frei­raum zum Erkun­den, die Öff­nung in alle Him­mels­rich­tun­gen wird weid­lich genutzt: Man hört eigent­lich immer eine per­ma­nen­te Such­be­we­gung, die stets fort­schrei­tet, die beim schö­nen Augen­blick ver­weilt, son­dern immer wei­ter will – wie es gute impro­vi­sier­te Musik eben (fast) immer tut. Neben Aeby, der sich immer mehr zu einem sehr inter­es­san­ten Pia­nist ent­wi­ckeln zu scheint, hat mir hier vor allem die oft sehr span­nen­de, über­ra­schen­de Spiel­wei­se des Schlag­zeu­gers Michi Stulz gefal­len. Gitar­rist Dave Gis­ler und Irni­gers Saxo­phon umspie­len sich oft sehr eng. Ent­schei­dend aber in allen sechs Titeln: Das bleibt immer im Fluss, die Ideen ver­san­den eigent­lich nie, son­dern fin­den immer neue Pfa­de und Wege.

Chris­toph Irni­ger Pil­grim: Big Wheel Live. Intakt Records CD 271, 2016. 62:44 Minu­ten.

Das unsterbliche Trio

schlippenbach trio, warsaw concert (cover)Viel­leicht ist es das euro­päi­sche Jazz­trio schlecht­hin, sicher­lich wohl das am längs­ten amtie­ren­de: Alex­an­der von Schlip­pen­bach, Evan Par­ker und Paul Lovens sind das Schlip­pen­bach-Trio. Und zwar schon ewig. Und jedes Jahr sind wie wie­der unter­wegs (die schö­ne Film-Doku­men­ta­ti­on Aber das Wort Hund bellt ja nicht hat die jähr­li­che „Win­ter­rei­se“ des Tri­os ja sehr anschau­lich gemacht), immer wie­der in der glei­chen Beset­zung mit immer ande­rer Musik – nicht ohne Selbst­iro­nie nennt Schlip­pen­bach das im Begleit­heft des­halb „das unsterb­li­che Trio“.
Erstaun­lich dar­an ist vor allem, dass es nicht lang­wei­lig wird, dass die­se gro­ße Ver­traut­heit mit­ein­an­der nicht in Belang­lo­sig­kei­ten mün­det. Auch das War­saw Con­cert ist wie­der eine auf­nah­me­tech­nisch und musi­ka­lisch gut gelun­ge­ne Live-Auf­nah­me vom Okto­ber 2015. Und beim Schlip­pen­bach-Trio heißt das: Eine ein­zi­ge lan­ge Impro­vi­sa­ti­on ohne Pau­sen oder Unter­bre­chun­gen, ohne Ver­ab­re­dun­gen und ohne Kom­po­si­ti­on – knapp 52 Minu­ten sind das (dazu kommt noch eine kur­ze, fast humo­ris­ti­sche Zuga­be).
Der ers­te Ein­druck: Net­te Musik – das funk­tio­niert ein­fach, das passt. Und das ist wirk­lich Musik der Frei­heit: Weil sie sich (und dem Publi­kum) nichts (mehr) bewei­sen müs­sen. Und: Weil sie viel kön­nen, enorm viel, sowohl allei­ne mit ihren Instru­men­ten als auch zusam­men als Trio. Des­halb schöpf­ten sie mit locke­rer Hand auch in War­schau eine Viel­falt der Stim­mun­gen. Vie­les klingt viel­leicht etwas alters­mil­de in der Klar­heit und dem lyri­schen Aus­druck (wenn man das so deu­ten möch­te), stel­len­wei­se aber durch­aus auch boh­rend und insis­tie­rend. Das ist ein­fach aus­ge­zeich­ne­ter, gelun­ge­ner, „klas­si­scher“ Free Jazz, den man ger­ne wie­der­holt anhört und ver­sucht nach­zu­voll­zie­hen.

Schlip­pen­bach Trio: War­saw Con­cert. Intakt Records CD 275, 2016. 56:36 Minu­ten.

Zur Erleuchtung

aeby trio, to the light (cover)Ste­fan Aeby war ja auch schon im Chris­toph Irni­ger Pil­grim ver­tre­ten, hier ist nun noch ein­mal als „Chef“ mit sei­nem eige­nen Trio zu hören, das aber mit Michi Stulz am Schlag­zeug noch eine wei­te­re Per­son mit dem Pil­grim-Ensem­ble teilt. To the Light ist eine Musik des Klan­ges: Ich höre hier nicht so sehr rhyth­misch und/​oder har­mo­ni­sche Struk­tu­ren, son­dern vor allem Klän­ge. Klän­ge, die sich immer wie­der zu klei­nen Sze­nen und ima­gi­nä­ren Bil­dern for­men. Das Trio passt da in die­ser Hin­sicht aus­ge­zeich­net zusam­men: Nicht nur Ste­fan Aeby am Kla­vier ist ein biss­chen ein Klang­ma­gi­er, auch der Bass von André Pou­saz hat erstaun­li­che Qua­li­tä­ten (beson­ders schön im Titel­stück wahr­zu­neh­men, das sowie­so eine ziem­lich groß­ar­ti­ge Sache ist). Und Michi Stulz, mit hal­li­gen Becken und eng klin­gen­den Toms zau­bert für einen Schlag­zeu­ger erstaun­lich flä­chi­ge Klän­ge. Das ist ein poe­ti­scher Sound, eine wei­che und wan­del­ba­re Klang­ge­stalt, die mir aus­ge­zeich­net gefällt. Vie­les ist (min­des­tens ten­den­zi­ell) leicht ver­träumt und klingt mit roman­tisch-impres­sio­nis­ti­schem Ein­schlag, ist dabei aber kei­nes­wegs schwind­süch­tig, son­dern durch­aus mit gesun­der Kraft und Potenz musi­ziert, die aber nie auf­trump­fend aus­ge­spielt wird: So klin­gen Musi­ker, die sich nichts bewei­sen müs­sen, möch­te ich ver­mu­ten. Die Musi­ker muss man sich wohl immer als lau­schen­de Instru­men­ta­lis­ten vor­stel­len: Viel­leicht ist es ja sowie­so gera­de das (Zu-)Hören, das gute Impro­vi­sa­to­rin­nen (oder Jaz­zer) aus­macht. Oder, wie es Flo­ri­an Kel­ler im Begleit­text sehr tref­fend for­mu­liert: „Eine Musik, die die Figur des Lau­schers ent­ste­hen lässt. Und die­sem viel Raum für sei­ne Fan­ta­sie gewährt.“

Ste­fan Aeby Trio: To the Light. Intakt Records CD 274, 2016. xx:28 Minu­ten.

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