Es klingt, als sei die Tinte auf dem Notenpapier gerade erst getrocknet. Nicht, dass Carl Reinecke so avantgardistisch komponiert hätte oder gar seiner Zeit voraus gewesen wäre. Schon seinen Zeitgenossen fiel auf, dass er sich gerne an Formen vergangener Zeiten orientierte. Aber trotz seines großen Ruhms im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert – heute kennen nur wenige Spezialisten mehr als ein, zwei Werke aus der Feder des langjährigen Leiters des Leizpiger Gewandhausorchesters.
Seine Cellosonaten sind meistens nicht dabei – aus ganz banalen Gründen: Bis vor kurzem waren nicht einmal die Noten dafür greifbar. Der Mainzer Cello-Professor Manuel Fischer-Dieskau änderte das – und spielte die drei Sonaten gleich noch auf CD ein. Beim Semestereröffnungskonzert der Mainzer Musikhochschule hat er die erste Sonate, ein frühes Werk Reineckes, auch live vorgestellt. Und das war ein wirklicher Genuss, der eben ganz frisch, lebendig und unverbraucht klingt. Fischer-Dieskau und Pianist Kirill Krotov spielen Reineckes melodieselige Sonate freudig aber mit kernigem Klang – und haben sichtlich Spaß daran. Und Vergnügen hat auch das Publikum im gut gefüllten Roten Saal der Musikhochschule.
Vieles in Reineckes Kammermusik ist zunächst einfach mal schön, manchmal auch etwas sentimal:
Gute Melodiefindung und ausgesuchte Raffinesse der Stimmungen zeichnen ihn aus, formal ist er deutlich an Modellen der Klassik orientiert. Eine Mischung, die immer etwas einer heilen Welt beschwört: Eintracht, Harmonie und gebildete Gefälligkeit sind nicht nur in den Cellosonaten zu hören, sondern auch in den Flötensonaten. Am bekanntesten – wenn man von Bekanntheit sprechen mag – ist die „Undine“-Sonate, die sich ein bisschen der Programmmusik annährt. Flötist Dejan Gavric mit Maria Ollikainen am Klavier sausen da keck hindurch, lassen unzählige Erregungen aufwallen und große Gefühle aufbrechen: Ein virtuoser Einbruch der ungezähmten Fantasie, die die heile Welt zwar nicht aus den Fugen wirft, aber doch etwas zum Wackeln bringt.
Das Quintett für Klavier und Streichquartett geht einen anderen Weg: Zwar lässt Reinecke auch hier seinen verschwenderischen Umgang mit musikalischem Material, gerne im rasanten Wirbel, hören. Neben der fast orchestralen Klangwirkung setzt er aber vor allem auf eine — mal mehr, mal wenigr deutliche — Kontrastierung von Klavier und Streichquartett. Das Konfliktpotenzial bleibt freilich bescheiden, inspiriert aber zu verschwenderischer Fülle. Und die wird von den Dozenten und Studenten ausgekostet: Mit dem richtigen Maß an Klarheit, um trotz des mächtigen Klanges nicht erdrückend zu wirken und viel Spielfreude führen sie das beisterte Publikum durch die Welt der unbekannten Kammermusik Carl Reineckes.
(geschrieben für die Mainzer Rhein-Zeitung.)
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