Es ist schon selt­sam, dass Tschaikowsky eines sein­er berühmtesten Werke beina­he nicht kom­poniert hätte: Für „Romeo und Julia“, die nach dem Shake­speare-Dra­ma geformte Fan­tasie-Ouvertüre, war erst ein Anstoß von außen notwendig . Auch bei seinem bekan­ntesten Kom­po­si­tion über­haupt, seinem ersten Klavierkonz­ert, plagten den skrupulösen Tschaikowsky lange die Selb­stzweifel.

Zu hören ist davon aber nichts mehr. Auch beim ersten Mainz­er Meis­terkonz­ert in der Rhein­gold­halle nicht.
Denn die Koblenz­er Rheinis­che Phil­har­monie unter Daniel Raiskin bevorzugt im ganzen Konz­ert, das neben den bei­den Tschaikowsky – jedes für sich schon ein absoluter Pub­likums­maget – auch noch Liszts zweite Ungarische Rhap­sodie in ein­er Orch­ester-Bear­beitung und Sergei Rach­mani­nows „Pagani­ni-Rhap­sodie“ für Klavier und Orch­ester ver­sam­melte, ein ziem­lich robustes Musizieren. Die vie­len raf­finierten Fein­heit­en der „Romeo und Julia“-Ouvertüre sind dadurch kaum zu hören. Vor allem aber fehlen sowohl Span­nung als auch Frische, durch die diese abge­spielte Ouvertüre wieder lebendig würde. Aber trotz der nicht per­fek­ten Wieder­gabe wirkt sie natür­lich immer noch: Wahre Meis­ter­w­erke sind schw­er zu zer­stören.

Den Sta­tus des über­stra­pazierten Meis­ter­w­erkes kann auch das b‑Moll-Konz­ert prob­lem­los beanspruchen. Und auch hier stellt sich immer wieder die Frage: Haben Pianist und Diri­gent noch etwas zu sagen? Beim Meis­terkonz­ert ist das schnell beant­wortet: Ja, unbe­d­ingt. Vor allem der Pianist Kon­stan­tin Scherbakov beweist sich hier meis­ter­haft. Weil er unge­mein viel kann: Nicht nur den in diesem Schlachtross unver­mei­dlichen The­a­ter­don­ner – das absolviert er bravourös, aber schein­bar ohne innere Beteili­gung. Viel deut­lich­er kom­men seine immensen Fähigkeit­en in den ver­meintlichen Neben­säch­lichkeit­en zu tra­gen: Wie er mit­ten im wildesten vir­tu­osen Getüm­mel noch fein­ste Nuna­cen der Weich­heit und Abrun­dung her­vorza­ubert – das ver­rät wahre Größe.

Und er nimmt dem Konz­ert damit viel von sein­er ober­fläch­lichen Tri­umph-Geste. Hier sind das ver­sponnene Herb­st-Nebel, die nur hin und wieder aufreißen und die strahlen­den Reste der gleißen­den Som­mer­son­ne hin­durch lassen. Und einige kräftig Wind­stöße sor­gen in dieser ver­wun­sch­enen Traum­land­schaft, die wie eine Feen­welt erscheint, für Durch­blick und die Rück­kehr in die Real­ität. Viele Dop­peldeutigkeit­en der Par­ti­tur wer­den so wun­der­bar klar, aus ihnen entwick­elt Scherbakov drama­tis­chen Impulse und eine Vielschichtigkeit, die die intellek­tuelle Neuent­deck­ung der ver­steck­ten Andeu­tu­gen und Kleinigkeit­en dieser schein­bar so über­aus bekan­nten Musik über ihre Emo­tion­al­ität hin­aus hebt. Schade nur, dass Raiskin mit der Rheinis­chen Phil­har­monie nicht genau­so sub­til und frag­il begleit­en kann. Aber im Finale find­en sie dann doch noch zusam­men, in ein­er schö­nen Form der vehe­menten Klarheit – und der absoluten Begeis­terung für Tschaikowskys Musik. Und die teilt auch das Pub­likum mit ihnen.

(geschrieben für die Mainz­er Rhein-Zeitung.)