Ulrich Peltzer war gestern mal wieder in Mainz — weil er den Ger­ty-Spies-Lit­er­atur­preis der Lan­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung bekom­men hat. Die Preisver­lei­hung im Foy­er des SWR-Funkhaus­es hat­te sog­ar inter­es­sante Momente im vie­len Gerede. Das liegt natür­lich an Peltzer, der mit sein­er klu­gen, manch­mal zöger­lichen Nach­den­klichkeit immer wieder eine inter­es­sante und bere­ich­ernde Begeg­nung ist. Viel los war eigentlich nicht: Wenn man die ganzen Hon­o­ra­tioren und “Pflichtbe­such­er” abzieht, waren vielle­icht noch 10–20 andere (vor­wiegend ältere) Besuch­er übrig, die sich in der großzügi­gen Bestuh­lung etwas ver­loren. Aber das ist ja eigentlich immer so bei solchen Ver­anstal­tun­gen, selb­st beim Georg-Büch­n­er-Preis bleiben viele Sitze leer …

Und eigentlich war der Abend ganz nett, mit angenehmer musikalis­ch­er Umrah­mung der Brüder Nils und Niklas Liepe (Klavier und Vio­line), die mit dem Preisträger allerd­ings eher nichts zu tun hat­te (wenn man seine Büch­er als Maßstab nimmt, hätte da andere Musik — am besten von Vinyl — gespielt wer­den müssen …). Und die Reden und Gruß­worte schienen sog­ar ehrlich gemeinte Freude und über den diesjähri­gen Preisträger auszu­drück­en.

Die Lau­da­tio der Lit­er­aturkri­tik­erin Meike Feß­mann hat mich nicht so sehr begeis­tert: Da ging es dann doch wieder vor allem um Hand­lungsstränge, Motive und Sujets — also in erster Lin­ie um inhaltliche Fra­gen. Und über­haupt mag ich die superla­tive Lob­hudelei (der “avancierteste” Erzäh­ler, die “leg­endäre Ein­gangsszene” und so weit­er), die so manche Lau­da­tio mit sich bringt, nicht so sehr. Zumal ein Autor wie Peltzer die eigentlich gar nicht nötig hat. Natür­lich wird — das geht bei Peltzer offen­bar nicht anders — immer wieder seine “for­male Avanciertheit”, sein auf den “Meth­o­d­en und Errun­gen­schaften des 20. Jahrhun­derts” auf­bauen­des Erzählen, seine “meis­ter­hafte Beherrschung der erlebten Rede” und des filmis­chen Erzählen, beschworen. Aber das sind oft lei­der nur Stich­worte, die halt inzwis­chen (nach immer­hin sechs Roma­nen in 30 Jahren — ein Vielschreiber ist er ja über­haupt nicht) zu Peltzer gehören. Inter­es­sant ist ja eher, dass Ulrich Peltzer hierzu­lande fast als Spitze der lit­er­arischen Avant­garde zählt. Denn so sehr ich ihn schätze: For­mal und nar­ra­tol­o­gisch ist das jet­zt nicht so wahnsin­nig avanciert — das scheint nur im Ver­gle­ich so, weil ein Großteil der deutschen erzäh­len­den Lit­er­atur (auch der­er, die von den Kri­tik­ern und Jurys gepriesen wird) in dieser Hin­sicht halt immer noch im 19. Jahrhun­dert steckt. Und beze­ich­nend ist auch, dass schon der Ulysses von James Joyce als (nahezu) unles­bares mod­ernes Kunst­werk gilt, dessen Finnegans Wake aber nicht mal mehr erwäh­nt wird …

Doch das nur neben­bei. Eigentlich ging es ja um Ulrich Peltzer — und der beruft sich eben unter anderem immer wieder auf den Ulysses. Das tat er auch gestern in sein­er knap­pen Dankesrede wieder und stellte ihn neben Ray­mond Fed­er­man und dessen Die Nacht zum 21. Jahrhun­dert oder aus dem Leben eines alten Mannes. Der Ger­ty-Spies-Lit­er­atur­preis ist ja eine Ausze­ich­nung, die aus­drück­lich die gesellschaftliche Rolle von Lit­er­atur her­vorhebt und würdi­gend fördern möchte. Das passt dur­chaus zu Peltzers Ästhetik, die, das betonte er auch gestern gerne wieder, wie alle Ästhetik über­haupt immer auch eine poli­tis­che ist. Vor allem aber räson­nierte er über sich und sein Tun — das beschreibt seine Tätigkeit vielle­icht am besten. Deut­lich wurde das auch in der abschließen­den Gespräch­srunde, die recht ergeb­nis­arm und kul­turpes­simistisch blieb (ja, “damals”, als “alle” das gle­iche Buch lasen und darüber sprachen …).

Ergiebiger das Solo von Peltzer, dass seinen Stand­punkt und seine Poet­ik zwar nicht — das wäre ja auch selt­sam … — ganz neu erschloss, aber schon andere Schw­er­punk­te set­zte. Bei Peltzer habe ich stärk­er als bei anderen Autoren den Ein­druck, dass er in einem per­ma­nen­ten, unabgeschlosse­nen (und wohl auch nicht zu Ende zu brin­gen­den) Rin­gen um die Posi­tion sein­er Ästhetik und ihr Ver­hält­nis zur Welt ste­ht. Ihm ging es aus­drück­lich um den Zusam­men­hang von Geschichte und Schreiben und die Rolle des Autors als möglich­er Für­sprech­er, seinen Ein­fluss auf die Gesellschaft. Die Frage, was denn Geschichte sei, wie das Indi­vidu­um in der Geschichte möglich sei, hängt für Peltzer dabei eng zusam­men mit der Frage nach der Möglichkeit der Lit­er­atur, Wirk­lichkeit zu erzählen. Wie geht das über­haupt, “Wirk­lichkeit erzählen”? Damit beschäftigt er sich ja schon länger, auch bei der Mainz­er Poet­ik­dozen­tur sprach er darüber … Und: Soll Lit­er­atur das über­haupt? Soll sie Gegen­wart zeigen und beweisen?

Wie geht das also, das Schreiben mit Geschichte, mit der Unauswe­ich­lichkeit, mit der wir — und alle Roman­fig­uren — in der Geschichte ver­haftet bleiben? “Der Geschichte, zumal der Welt­geschichte, auszuwe­ichen ist unmöglich.” Er geht sog­ar noch weit­er: Gefan­gen in der Geschichte sind wir alle, ob “real” oder “fik­tion­al” (und wieder diente der Ulysses als Beispiel). Geschichte heißt dabei nicht nur (aber auch) das Ver­gan­gene, son­dern auch das Gegen­wär­tige vor allem des poli­tis­chen Geschehen und Han­delns, das die Men­schen bee­in­flusst und unen­twegt begleit­et.

Das lit­er­arische Schreiben beschreibt Peltzer dann als einen Beschrei­bungs- und Erken­nt­nis­prozess. Denn: “Sich zur Gegen­wart ver­hal­ten, sich ver­hal­ten zu müssen, ist unhin­terge­hbare Bedin­gung des Schreibens.” Aber: Nicht als Ermah­nung, nicht als predi­gende Besser­wis­serei des Autors soll das geschehen. Son­dern es soll und muss sich im Hor­i­zont der Fig­uren man­i­festieren, in ihrem Wis­sen, ihren Erken­nt­nis­möglichkeit­en und ihren Erleb­nis­sen: Der Autor (und vor allem sein Wis­sen, sein Erken­nt­nis­stand ger­ade aus später­er Zeit, mit dem Wis­sen der geschichtlichen Entwick­lung) sei nicht gefragt (son­st entstünde eine Predigt und kein Roman). Später präzisierte er das noch: Auf­gabe der Lit­er­atur sei es nicht, Poli­tik und Geschichte nachzuerzählen. Geschichte ist aber der immer präsente Rah­men, der die Roman­hand­lung bee­in­flusst.

Ob dann Zufall oder Notwendigkeit in der Real­ität wal­ten, ob plan­bare Hand­lun­gen oder Reak­tio­nen poli­tis­ches Geschehen und Geschichte ermöglichen, ist eine weit­ere Frage, die er sich als Autor stellt. Aus der Sicht des Indi­vidu­ums lässt sich das für Peltzer wohl nicht entschei­den, denn let­ztlich, das betonte er sehr, ist “Geschichte der Alb­traum eines anderen, aus dem es keinen Aus­gang gibt”. Davon aus­ge­hend ist lit­er­arisch­er Real­is­mus für ihn dann aber nicht das sich Ergeben des Autors in die Unab­d­ing­barkeit (wenn ich ihn da richtig ver­standen habe). Im Gegen­teil: Der Wider­stand der Kun­st liegt möglicher­weise (wie so vieles for­mulierte Peltzer das als Frage) darin, nicht aufzugeben, son­dern weit­erzu­machen: “Die Zukun­ft wird das sein, was wir uns erkämpfen. Man muss damit anfange — heute, jet­zt. Son­st ist es zu spät.” schloss Peltzer sein Plä­doy­er für die Ern­sthaftigkeit und die Anstren­gung der Kun­st im Umgang mit der Welt und der Gegen­wart ab. Dass es ihm bei all dem nicht primär um Antworten, son­dern vor allem um die richti­gen Fra­gen an die so schnell Geschichte wer­dende Gegen­wart geht, wurde auch an diesem Abend wieder deut­lich. Und diese Art der ana­lytis­chen Schärfe der Gegen­warts­be­tra­ch­tung, die eine sehr spez­i­fis­che Art der Offen­heit gegenüber der Gegen­wart, ihrer Erken­nt­nis und den Fol­gen daraus (also dem Han­deln und der Zukun­ft) mit sich bringt, sind es, die Peltzer in meinen Augen als Autor so inter­es­sant machen.

Nach­trag 19. Okto­ber: Im Ver­lags­blog Hun­dertvierzehn des Fis­ch­er-Ver­lages ist die Dankesrede Peltzers jet­zt auch nachzule­sen: klick.