“Multipler Roman in Einzelausgaben” ist der offzielle Untertitel dieses Büchleins von Nanni Balestrini. Meines hat die Nr. 6665 (knapp daneben …) und ist einer von 109027350432000 Romanen. Nun hat Balestrini natürlich nicht eine solch irrsinnige Zahl an Büchern geschrieben: Der Witz am “Tristano” ist, dass per Zufallsalgorithmus (im Computer) die 20 Abschnitte für jedes der 10 Kapitel neu angeordnet weden. 1966, als Balestrini die Idee dazu hatte, war das drucktechnisch noch nicht wirklich umzusetzen — dank Digitaldruck ist das heute auch für Suhrkamp kein Problem mehr. Die Entstehung der Textblöcke ist dabei übrigens auch schon ein Ergebnis kombinatorischer Prozesse: Balestrini hat aus verschiedenen Quellen Sätze entnommen, sie ihrer inneren Satzzeichen beraubt und mehr oder minder zufällig gereiht. So viel also ganz kurz zu der Entstehung des Romans.
Das ist — ausnahmsweise — nicht belanglos, weil es sich natürlich massiv im Text niederschlägt: Eine “normale” Geschichte, eine herkömmliche Handlung, ein linerarer Plot — das alles gibt es hier nicht. Wohl gibt es wiederkehrende Motive — die aber in sich und in ihrer Verknüpfung sehr unklar bleiben. Denn alle (!) Eigennamen werden durch ein universelles “C” ersetzt. Trotzdem lassen sich eine männliche und eine weibliche Figur unterscheiden, die miteinander in Beziehung treten und diese auch wieder verlassen (Tristan!). Viel ließe sich sicherlich konstruieren. Aber das funktioniert natürlich nur bedingt: Zum einen ist ja jedes Buch anders, hat eine eigene “Geschichte” durch die zufällige Reihenfolge (wie hoch wäre eigentlch die Wahrscheinlichkeit, dass da zwei Mal das gleich Ergebnis herauskommt?), zum anderen ist der Spaß an diesem Experiment eher, zu schauen, was mit Wörtern, Sätzen, Abschnitten passiert — wie sich manchmal “Sinn” ergibt, wie er sozusagen aus Versehen “passiert”, wie die Signifikanten sich — im Leseprozess des wahrnehmenden Subjekts — eben doch wieder zu einem/mehreren Signifikaten gezwungen sehen, wie Leser und Text danach streben, sinnhaltig zu sein. Das allerdings ist zwar zunächst faszinierend zu beobachten, wird aber auch ermüdend. Dabei umfasst der Tristano gerade mal 120 Seiten. Doch das reicht mehr als genügend aus, das Prinzip und seine Folgen zu verstehen, begreifen und erfahren. Und auch zu erleiden. Denn so spannend das narratologisch, semiologisch — kurz: intellektuell — ist bzw. erscheint, so trocken kann die Lektüre werden: Man hängt oft sehr in der Luft, sucht beim Lesen nach sinnhaltigen Fundamenten oder Horizonten — das ist schon interessant, das an sich selbst zu beobachten. Da aber der Text/die Texte durch die Montage der Sätze aus fremder Urheberschaft und unbekannten Kontexten (manchmal kann man etwas erahnen, z.B. die wiederholten Fragment zu Text und Erzähltheorie1) auch sprachlich nur sehr bedingt faszinieren (zumindest in der deutschen Übersetzung von Peter O. Chotjewitz) ist das letztlich ein eingeschränktes Vergnügen: “Als ich diese Texte las fand ich sie nicht nur bedeutungslos sondern auch ohne irgendein Element das sich auf das vorgegebene Thema bezieht. Ich bin so unglücklich daß ich am liebsten sterben möchte.”
Dafür wird man neben den 120 Seiten “Roman” (die den für Suhrkamp ausgesprochen hohen Preis von 15 Euro haben) auch noch reichlich mit Paratexten versorgt: Eine Vorbemerkung des Verlags, eine Notiz des Autors eine Vorwort von Umberto Eco (zum Verfahren der Kombinatorik in der Geschichte der Wissenschaften und Künste, weniger zum “Tristano” selbst), einem nachgestellten analytischen Vorwort zur französischen Ausgabe 1972 von Jacqueline Rist und schließlich noch eine literaturgeschichtliche Einordnung des “Tristano” in die experimentelle (Prosa-)Literatur des 20. Jahrhunderts und das Lebenswerk Balestrinis durch Peter O. Chotjewitz — fast mehr Para- als ‑Text also …
Nanni Balestrini: Tristano No. 6665 von 109027350432000 Romanen. Ein multipler Roman in Einzelausgaben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. 120+XXXII Seiten. ISBN 978–3‑518–12579‑3.
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