Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: daniela krien

Aus-Lese #53

Jür­gen Beck­er: Die fol­gen­den Seit­en. Jour­nalgeschicht­en. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2006. 156 Seit­en. ISBN 978–3‑518–41820‑8.

becker, seiten (cover)Schon der Unter­ti­tel zeigt die Ambivalenz des Buch­es: Ist das ein Jour­nal oder sind es Geschicht­en? Man muss das wohl wirk­lich zusam­mendenken: Das ist kein Tage­buch, also schon Fik­tion. Aber es simuliert das tägliche Schreiben: Der Erzäh­ler nimmt sich ein Notizbuch mit 200 Seit­en vor und beschreibt jeden Tag eine Seite mehr oder weniger voll. Vielle­icht hat Beck­er das auch so gemacht — aber das ist ja auch egal. Schade ist nur, dass der Ver­lag die Idee, die 200 Seit­en eines Jour­nale fik­tion­al zu beschreiben (des Erzäh­lers), nicht im realen Buch abbilden wollte — das wäre doch eine schöne Per­for­manz des Textes gewe­sen, der sein Organ­i­sa­tion­sprinzip ja immer­hin selb­st erläutert. Dafür sind die Jour­nalgeschicht­en aber immer­hin ohne Seiten­zahlen gedruckt.

Man erlebt, seufzt der Men­sch, das Wet­ter gar nicht mehr, wie es kommt, wie es ist, wie es geht. Man erlebt nur noch, wie es eine Prophezeiung erfüllt. (150)

Der Text ist eine Mis­chung aus grund­sät­zlichen Reflex­io­nen, leicht und fast neben­bei, als Zufall und Fund­stücke etc präsen­tiert, mit den Erin­nerun­gen und vielfälti­gen Erin­nerungsan­lässen eines alt(ernd)en Mannes, die immer wieder vom Ein­bruch der “Real­ität” der Schreibge­gen­wart, zum Beispiel den wieder­holt auf­tauchen­den “Gästen”, unter­brochen wer­den. Vieles sind “nette”, fre­undliche, zuge­wandte Tage­buch­skizzen mit viel untergemis­chter (per­sön­lich­er) “Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung”, auch viel Hitler & Co. Das ist dann — nicht nur hin und wieder — schon etwas sen­ti­men­tal, aber dank der Wortkun­st Beck­ers noch auszuhal­ten. Den­noch ist mir das ins­ge­samt etwas zu belan­g­los, das plätschert zu ziel­los vor sich hin. Die sym­pa­this­che kurze/kleine Form wird für meinen Geschmack nicht aus­re­ichend für die poet­is­che Verdich­tung genutzt, deshalb wirkt vieles doch etwas blass und bleibt ohne tief­ere Wirkung für mich.

In diesem Jahr kön­nte es soweit sein. Im ver­gan­genen Jahr hätte es auch soweit sein kön­nen, eben­so im Jahr davor, oder vor zwei, drei, vor zehn Jahren schon. Vielle­icht ist es erst im näch­sten Jahr soweit, oder im übernäch­sten; dabei müssen es nicht ein­mal Jahre, es kön­nen auch kürzere Fris­ten sein, Wochen, Tage, Stun­den, wer weiß. Ganz sich­er ist, irgend­wann ist es soweit, ob plöt­zlich, oder ob es sich hinzieht. (16)

Giu­lia Beck­er: Das Leben ist eines der Härtesten. Ham­burg: Rowohlt 2019. 224 Seit­en. ISBN 978–3‑498–00689‑1.
giulia becker, das leben ist eines der härtesten (cover)
Giu­lia Beck­ers erster Roman mit dem schö­nen Titel Das Leben ist eines der Härtesten fällt hier wahrschein­lich etwas aus dem Rah­men. Denn das ist, auch wenn es im Lit­er­aturver­lag Rowohlt erschienen ist, keine Kun­st, son­dern Unter­hal­tung. Und auch noch recht derbe Unter­hal­tung dazu. Die kurze, episo­den­haft erzählte Geschichte um einige Ver­lier­ertypen aus Borken ist aber immer­hin dur­chaus komisch oder, um das gle­ich etwas einzuschränken, hat zumin­d­est viele komis­che Momente in der Übertrei­bung und Zus­pitzung der Charak­tere (die eher ziem­lich flache Typen sind).
Aber, und das ist halt ein großes Aber: Lit­er­arisch taugt das nicht, wed­er for­mal noch stilis­tisch trägt das irgend­wie. Ästhetisch ist das belan­g­los (so wie der Inhalt der Geschichte ja auch eigentlich eher belan­g­los bleibt). Das funk­tion­iert als nette — und recht flache — Unter­hal­tung, als eine unkom­plizierte, anspruch­slose Lek­türe für zwis­chen­durch, mit dem einen oder anderen Lach­er. Die Süd­deutsche hat das in ihrer Rezen­sion als “Pri­vat­fernsehlit­er­atur” beze­ich­net (behauptet der Per­len­tauch­er) — und das trifft es ziem­lich genau: Mit und vor allem über die ver­murk­sten Leben der anderen lachen, sich selb­st dabei wohlig über­he­blich und sich­er fühlen — viel mehr will und kann dieser Text nicht.
Sin­clair Lewis: Bab­bitt. Über­set­zt von Bern­hard Robben. Mit einem Nach­wort von Michael Köhlmeier. München: Manesse 2017. 784 Seit­en. ISBN 978–3‑641–211476‑0.
lewis, babbitt (cover)
Bonaven­tu­ra hat mich darauf gebracht, doch mal wieder außer­halb des deutschsprachi­gen Bere­ichs zu lesen. In der Tat war mir Sin­clair Lewis bish­er ger­ade so dem Namen nach bekan­nt, gele­sen hat­te ich noch nichts. Das hat sich nun geän­dert: Bab­bitt ist eine dur­chaus vergnügliche Lek­türe. Von den über 700 Seit­en sollte man sich nicht abschreck­en lassen. Erstens sind das Seit­en im kleinen Manesse-Ver­lag, wo die Neuüber­set­zung von Bern­hard Robben (mit eini­gen weni­gen Stellen, die mir selt­sam schienen, ohne sie am Orig­i­nal geprüft zu haben) 2017 erschienen ist. Zweit­ens lässt sich das, zumin­d­est in der Über­set­zung, recht flott lesen. Bab­bitt ist, da würde ich Michael Köhlmeiers selt­samen Nach­wort doch wider­sprechen, eine Satire. Eine Satire auf den amerikanis­chen Mit­tel­stand kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Der namensgebende Titel­held, George F. Bab­bitt, ist Immo­bilien­mak­ler und vor allem ein Ange­ber und Schwätzer vor dem Her­ren. Der Roman bestätigt schön meine Vorurteile über die ober­fläch­liche, kap­i­tal­is­tis­che, patri­ar­chalis­che und weit­ge­hend un- bzw. amoralis­che Gesellschaft der USA im 20. Jahrhun­dert (ja, ich weiß, böse Vorurteile — und nicht, dass es in Europa bess­er wäre …). Lewis macht das aber auf eine sehr amüsante Weise und erzählt Bab­bitt vor allem als einen imper­fek­ten Men­schen, der nach mehr — dem Sinn des Lebens, der Erfül­lung, irgend­was neben dem erwarteten und vorgeze­ich­neten Leben eines amerikanis­chen Geschäfts­man­nes eben — sucht, ohne selb­st zu wis­sen, das er auf der Suche ist und schon gar nicht, wonach ihm eigentlich dürstet und gelüstet (jen­seits des Alko­hols natür­lich …). Bab­bitt fängt sehr dicht am Pro­tag­o­nis­ten an, fol­gt ihm sozusagen zunächst auf Schritt und Tritt, in fein­er Detailau­flö­sung. Zunehmend löst sich das, die Hand­lung springt, beschle­u­nigt und bremst wieder, was mir doch hin und wieder den Ein­druck eines for­malen Ungle­ichgewichts erweck­te: Nach der äußerst detail­lierten und aus­führlichen Expo­si­tion scheint sich die Fabel ger­ade im let­zten Vier­tel immer mehr zu beschle­u­ni­gen und weniger genau erzählt zu wer­den. Das funk­tion­iert natür­lich trotz­dem, ger­ade durch und wegen des hyper­de­tail­lierten Beginns. Dabei wird die Gesellschaft der fik­tiv­en Großs­tadt Zenith, in der Bab­bitt spielt, aber immer deut­lich­er als eine restrik­tive und strat­i­fizierte erkennbar, in der ger­ade nicht­snutzige Schwätzer wie Bab­bitt durch ihre Verbindung mit anderen ihres­gle­ichen (in den Clubs und Vere­ini­gun­gen) die Macht und vor allem das wirtschaftliche Geschehen, ungeachtetet ihrer im Roman ziem­lich deut­lich zutage tre­tenden Inkom­pe­tenz und Amoral­ität, fest in der Hand haben und behal­ten.
Daniela Krien: Die Liebe im Ern­st­fall. Frank­furt am Main: Büchergilde Guten­berg 2019. 288 Seit­en. ISBN 978–3‑85420–978‑2.
daniela krien, liebe im ernstfall (cover)
Ich weiß ja wieder ein­mal nicht so recht: Von der Kri­tik recht ein­hel­lig sehr pos­i­tiv bew­ertet und besprochen, finde ich das Buch dann doch eher belan­g­los. Ja, die fünf Lebensläufe der Frauen, die lose miteinan­der verknüpft diesen Roman bzw. dessen fünf Abschnitte bilden, sind inter­es­sant zu ver­fol­gen (auch ger­ade als männlich­er Leser wahrschein­lich). Aber das bleibt im Erzählen wieder so schreck­lich banal und gewöhn­lich. Vielle­icht sind solche Büch­er, ger­ade in ihrer Stil­losigkeit (oder zumin­d­est in ihrem neu­tralen, unauf­fäl­li­gen Stil) notwendig — aber pack­en oder gar begeis­tern kann mich das nicht.

Das mag auch daran liegen, dass mir das arg pes­simistisch grundiert zu sein scheint: Änderun­gen, Entwick­lun­gen der Pro­tag­o­nistin­nen zum Beispiel, scheinen hier kaum bis gar nicht möglich. Ansätze dazu gibt es, die wer­den aber gerne und immer wieder von der Außen­welt, von den anderen, von Män­nern und Kindern und anderen Ver­wandten vor allem, ver­nichtet und zer­schmettert.

Sie weiß mehr als damals, doch was nützt es ihr? (125)

Inter­es­sant übri­gens, das nur am Rande, dass alle Frauen auf­fäl­lig viel Musik — und zwar in erster Lin­ie klas­sis­che Musik — hören. Das wäre wahrschein­lich einen genaueren Blick wert. Beim ersten Lesen scheint mir das aber, ger­ade im Zusam­men­hang mit den erzählten Lebensläufen und deren Prob­le­men, nicht beson­ders ergiebig. Aufge­fall­en ist es mir vor allem, weil es mir zumin­d­est zu einem Teil der Fig­uren nicht so recht zu passen scheint. Aber typ­isch für Die Liebe im Ern­st­fall ist, dass auch dies — wie nahezu alle äußere Hand­lung (abseits von der Gefühlsin­nen­welt der Pro­tag­o­nistin­nen) nur Neben­sache ist, nur so anbei geschieht. “Sätze ohne Span­nung, ohne Klang, ohne Zauber” beschreibt eine der Pro­tag­o­nistin­nen, die als Schrift­stel­lerin arbeit­et oder zu arbeit­en ver­sucht, wenn die Kinder ihr Zeit und Energie lassen, ein­mal ihre Tage­spro­duk­tion (125). Und das trifft auch Die Liebe im Ern­st­fall ziem­lich genau.

außer­dem gele­sen:

  • Moritz Föllmer: “Ein Leben wie im Traum”. Kul­tur im Drit­ten Reich. München Beck 2016. 288 Seit­en. ISBN 978–3‑406–67905‑6.
  • Jan Philipp Reemts­ma: Gewalt als Lebens­form. Zwei Reden. Stuttgart: Reclam 2016. 64 Seit­en. ISBN 9783150193822.
  • Heinz Gärt­ner: Der Kalte Krieg. Bünd­nisse — Krisen — Kon­flik­te. Wies­baden: mar­ix 2017. 254 Seit­en. ISBN 9783737410335.
  • Hans Eisen­träger: Der Mann sein­er Frau. Nov­el­le. Hrsg. von Niko­la Roßbach. Han­nover: Wehrhahn 2018. 68 Seit­en. ISBN 978–3‑86525–641‑6.

Aus-Lese #37

Daniela Krien: Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen. Berlin: List 2012. 236 Seit­en

krien, irgendwannNaja, das war keine so lohnende Lek­türe … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekom­men bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Ver­trauen­spunk­te zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teil­weise blöd: Ein junges Mäd­chen zieht kurz vor den Som­mer­fe­rien auf dem Bauern­hof der Fam­i­lie ihres älteren Fre­un­des ein, ver­nach­läs­sigt die Schule und gibt sich lieber ein­er selt­samen geheim gehal­te­nen Beziehung zu dem mehr als dop­pelt so alten Nach­bar­bauern hin, die vor allem auf ihrer Aus­nutzung und ihrem Miss­brauch (kör­per­lich, sex­uell und psy­chisch) beruht und natür­lich tragisch enden muss …
Das Set­ting im Som­mer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Gren­ze ist auch nicht so span­nend, gibt aber Gele­gen­heit, ein biss­chen (freilich nur wenig) Poli­tik und Geschichte einzu­flecht­en — und ist natür­lich ein Spiegel der Fig­ur Maria: In der Zwis­chen­zeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwach­sene — spiegelt sich das Land zwis­chen DDR und BRD … Aber da die Fig­uren alle reich­lich blass bleiben, von der Erzäh­lerin über ihre Rest­fam­i­lie bis zu Johannes und Hen­ner, kann sich da sowieso kaum etwas ent­fal­ten. Das merkt man sehr deut­lich an der müh­sam insze­nierten Inter­tex­tu­al­ität: Maria wird gerne als begeis­terte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monate­lang an Dos­to­jew­skis Die Brüder Kara­ma­sow herum, was natür­lich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lek­türe hier immer auss­chließlich eine iden­ti­fika­torische …). Auch die Kom­po­si­tion von Irgend­wann wer­den wir uns alles erzählen ist nicht weit­er bemerkenswert, eher klein­teilig angelegt, mit Schwächen in der Zeit­gestal­tung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschen­buch (ganze zwei Seit­en vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhn­lich ist.

alles in allem die über­steigerten Gefüh­le ein­er Siebzehn­jähri­gen in den Wirrun­gen ein­er unruhi­gen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)

Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Wien, München: Fritz Mold­en 1966. 419 Seit­en

basil, wenn das der führer wüßte

Eine schöne Idee der kon­trafak­tis­chen Geschichte: NS-Deutsch­land hat den Zweit­en Weltkrieg gewon­nen und sich die halbe Welt unter­tan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel erset­zt — oder ist das ein Mord und Staatsstre­ich? Die entsprechen­den Ver­mu­tun­gen kur­sieren und geben der Hand­lung im gle­ichzeit­i­gen Bürg­erkrieg und dem durch die bei­den Großmächte ent­fes­sel­ten atom­aren Krieg ordentliche Ver­wick­lun­gen und Hand­lungsantrieb. Dazwis­chen treibt Höll­riegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der ver­schwörung­stech­nisch in die große Poli­tik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Fig­ur: wenig Ahnung, dafür aber viel Sit­u­a­tion­s­geschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit sein­er Liebe bzw. seinem Begehren nach der (schein­bar) ide­alen (in ide­ol­o­gis­ch­er, d.h. rassen­ty­pol­o­gis­ch­er Sicht), aber unter nor­malen Umstän­den unerr­e­ich­baren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desil­lu­sion­ierend im Tod — allerd­ings nicht durch Ver­strahlung (das hätte noch etwas gedauert), son­dern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die kon­se­quente Weit­er­führung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ide­olo­gie mit ihren Auswüchen, den Grup­pen, dem Ein­heitswahn, der uner­schöpflichen Kat­e­gorisierungssucht etc. Ins­ge­samt lei­det das Buch aber daran, dass es diese kon­trafak­tis­che Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Hand­lun­gen sprechen lässt. Wun­der­bar sprechend sind dage­gen die vie­len, vie­len Namen … Jeden­falls eine dur­chaus unter­halt­same Lek­türe.

Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hat­te seinen Meldegänger zum großen Rap­port nach Wal­hall gerufen. (50)

Jür­gen Buch­mann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des ExterThals, nach denen Diari­is Sein­er Hoch Ehrwür­den Her­ren Mar­t­i­nus Oester­mann, wei­land Pfar­rer an St. Jako­bi zu Alme­na. Leipzig: Rei­necke & Voß 2014. 46 Seit­en

buchmann, bericht

Eine wun­der­bare Spiel­erei ist dieses kleine, feine Büch­lein (schon die ISBN: in römis­chen Zif­fern, eine echte Fleißar­beit …), eine nette Cam­ou­flage, echt­es Schel­men­stück (der Autor scheint ein in der Wolle getränk­te Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philol­o­gis­che Fan­ta­sy (der Bezug auf Tolkien taucht sog­ar im Vor­wort auf), nur in die Ver­gan­gen­heit ver­legt: Es han­delt sich um den (fik­tiv­en) Bericht eines gelehrten Landp­far­rers, der von ein­er Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekan­nt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Mor­pholo­gie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist einge­bet­tet und kom­biniert mit dem Tage­buch der „Ent­deck­ung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Krim­i­nal­fall des Ver­schwindens sowohl des Pfar­rers als auch sein­er Infor­man­tin (ein Wech­seln ins Elfen­re­ich liegt ganz märchen­typ­isch nahe, weil keine Leiche gefun­den wird …). Lei­der fehlt aus­gerech­net die Lexik der Elfen­sprache in den “Aufze­ich­nun­gen”, so dass die Frag­mente, die „Oester­mann“ „über­liefert“, dum­mer­weise unver­ständlich bleiben (aber wer weiß, vielle­icht haben sie ja sog­ar eine Bedeu­tung? — Das wäre eine schöne Auf­gabe für einen Com­put­er mit einem find­i­gen Pro­gram­mier­er …). Das ganze ist von Buch­mann ver­flixt geschickt vor­getäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder par­o­diert wor­den. Von dem Drumherum ist allerd­ings nicht alles gel­o­gen — das „Gelehrten-Lex­i­con“ von Jöch­er z.B., aus dem zitiert wird, gibt es dur­chaus — allerd­ings ohne den hier abge­druck­ten Ein­trag zu Oester­mann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seit­en beanspruchen die “über­liefer­ten” Texte samt edi­torischen Vor­worten und Anhän­gen von dem kleinen Leipziger Dichter-Ver­lag Rei­necke & Voß sehr schön her­aus­ge­bracht wor­den, mit angenehm passen­dem Satz und schö­nen Schriften.

Wir fassen die Let­tern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)

Ulf Stolter­fo­ht: Das deutsche Dichter­abze­ichen. Leipzig: Rei­necke & Voß 2012. 49 Seit­en

stolterfoht, dichterabzeichen

Und gle­ich noch ein schmales Bänd­chen von Rei­necke & Voss, den Hör­spiel­text Das deutsche Dichter­abze­ichen. des großen Lyrik­ers Ulf Stolter­fo­ht. Dich­tung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reg­uliertes, ent­behrungsre­ich­es Handw­erk insze­niert (ein biss­chen wie eine mod­erne Vari­ante der Meis­tersinger …), das ist ganz nett aus­gedacht. Zugle­ich ist es aber auch noch eine “Sys­tem­atik“ der Lyrik mit ver­schiede­nen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:

Wild­texte, die noch vor Zeit­en weite Teile Europas besiedel­ten, haben sich mit­tler­weile den immer spezielleren Anforderung­spro­filen unter­wor­fen. (17)

Weit­er geht es im belehren­den Gespräch über die Dichter-Aus­bil­dung, also die handw­erk­liche Kom­po­nente des Dicht­ens. Weit­eres, ganz wichtiges The­ma: Die kom­pet­i­tive Kom­po­nente des Dicht­ens, die Lesun­gen und die Wet­tbe­werbe. Das führt Stolter­fo­ht als Zirkus vor, als eine Art Dres­sur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possier­lich, gut für die Unter­hal­tung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und ver­gle­ichende Kom­po­nente der Dich­tung übergestülpt wird, ist das natür­lich — daraus macht der Text kein großes Geheim­nis — eine Para­bel auf den deutschen Lit­er­aturbe­trieb der Gegen­wart. Aber eine — ganz wie es das The­ma ver­langt — unter­hal­tende, in der sich dur­chaus — schließlich ist Stolter­fo­ht selb­st ein intel­li­gen­ter Teil­nehmer — wahre und tre­f­fende Beobach­tun­gen find­en:

Im Zeital­ter hoch entwick­el­ter Prosa hat das Gedicht an Bedeu­tung ver­loren. in dem Maße aber, in dem es aus sein­er natür­lichen Umge­bung ver­schwindet, wächst seine Beliebtheit als domes­tiziert­er Wet­tbe­werb­s­text. (7)

Schön auch kurz vor Schluss:

Etwas ganz beson­deres ver­birgt sich hin­ter der Beze­ich­nung „Viel­seit­igkeit­sprü­fung“: Der Dreikampf näm­lich aus Lyrik, lyrisch­er Über­set­zung und Poe­t­olo­gie — das alles an drei aufeinan­der fol­gen­den Tagen. (40)

Wal­ter Kem­pows­ki: Hamit. Tage­buch 1990. Berlin: btb 2010. Seit­en

kempowski, hamit

Mit diesem Buch habe ich mir Kem­pows­ki ver­lei­det, das ist zum Abgewöh­nen …
Hamit — die dialek­tale Vari­ante von “Heimat” — ist ein Tage­buch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kem­pows­ki heißt das: Er kann wieder Ros­tock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingek­erk­ert war. Weit­ere The­men des Tage­buchs: Die Medi­en — wie sie über Poli­tik und über ihn bericht­en -, die Fer­tig­stel­lung von Alkor, Zwistigkeit­en, Besuche etc. Dazwis­chen taucht noch die Samm­lung von Tage­büch­ern und Erin­nerun­gen ander­er Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Poli­tik der Gegen­wart spielt natür­lich eine Rolle, ger­ade hin­sichtlich des Vere­ini­gung­sprozess­es. Das ist aber auch der Bere­ich, wo Kem­pows­ki vor allem seinen Ani­mositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und weni­gen anderen) hat nie­mand je etwas kapiert, sehen alle die Wider­sprüche und Prob­leme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tage­buch, es ist min­destens zwei Mal über­ar­beit­et (und damit endgültig lit­er­arisiert) wor­den. Aber auch die Anmerkun­gen aus den 2000ern ver­stärken die Ten­denz der Besser­wis­serei noch lassen ihn als den einzi­gen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen ein­fach nicht erre­ichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressen­ti­ments gegen so ziem­lich alle und jeden (mit Aus­nahme vielle­icht bes­timmter Bere­iche der Ver­gan­gen­heit). Und eine große Eit­elkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Lit­er­aturbe­trieb, die Medi­en und die Kri­tik, aber auch sein Ver­lag, alle verken­nen seine Genial­ität und seine Leis­tun­gen. Dabei ist er doch uner­set­zlich, wie er ganz typ­isch beschei­den fes­thält:

Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschicht­en zurück. (284)

Was wür­den wir Armen also nur ohne ihn tun!

Mir war der Kem­pows­ki, der sich hier zeigt, jeden­falls aus­ge­sprochen unsym­pa­thisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Ver­di­enst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschw­ert er sich immer wieder darüber, dass er Restau­rantrech­nun­gen bezahlen muss/soll: total ichzen­tri­ert eben, der Schreiber dieser Seit­en, der sich vor allem durch seine Kauzigkeit­en — wie die total kontin­gent scheinende Ablehnung der Worte „Akzep­tanz“ und „Diri­gat“ (329) — ausze­ich­net.

Wenn nie­mand eine Biogra­phie über mich schreibt, tue ich es eben selb­st. (177)

Jürg Hal­ter: Wir fürcht­en das Ende der Musik. Gedichte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 72 Seit­en

halter, wir fürchten das ende der musik

“Für sich” ste­ht als Wid­mung in diesem Gedicht­band. Und das stimmt ein­er­seits, ander­er­seits aber auch über­haupt nicht. Zwar ste­hen die Gedichte erst ein­mal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber ander­er­seits bleiben sie auch ger­ade nicht “für sich”, denn Hal­ter geizt nicht mit inter­textuellen Anspielun­gen und Ver­weisen. Ger­ade die Musik spielt da dur­chaus eine große Rolle. Und den­noch: Man muss diese Inter­tex­tu­al­itäten nicht erken­nen, man muss ihnen schon gar nicht nachge­hen (obwohl das dur­chaus span­nend sein kön­nte, das sys­tem­a­tisch zu tun), um die Lyrik Hal­ters ver­ste­hen zu kön­nen. Oder zumin­d­est glauben zu kön­nen, etwas ver­standen zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie ger­adezu erzäh­lend, ihre Meta­phern bleiben leicht nachvol­lziehbar, die Form klar und über­sichtlich. Manch­mal wirkt das mit dem lock­eren Sprach­duk­tus, dem leicht­en Ton mir aber auch etwas zu plätsch­ernd, zu prosa-nah, zu wenig formbes­timmt für Lyrik.
Doch gibt es dur­chaus schöne und span­nende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Ver­wurzelung Hal­ters und Tra­di­tion und Inter­tex­tu­al­ität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kul­tur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anre­gen­des Spiel mit sich selb­st immer wieder zu beobacht­en, die Selb­stre­flex­tion des Lyrik­ers und des Gedicht­es zu erken­nen. Inter­es­sant ist auch das immer wieder auf­tauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Tren­nende von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart abzielt, son­dern auf den Über­gang, die fließende Entwick­lung: Vom Holozän bis zum Jet­zt und dem Augen­blick sind einzel­nen Momente kaum zu fassen und zu bes­tim­men:

Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)

Nicht alles ist sprach­lich oder inhaltlich sehr stark, ger­ade im Abschnitt IV („O, aufgek­lärtes Leben, unsere Droge!“ über­schrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefun­den zu haben. Die Dig­i­tal-Skep­sis in „Hyp­nose“ ist zum Beispiel ziem­lich ober­fläch­lich und bil­lig. Dazwis­chen gibt es aber imm­mer wieder schöne Momente, die das Lesen den­noch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wieder­holende Szene“:

Die sich leeren­den Straßen
an einem Som­mer­abend
in ein­er kleinen Stadt.
Das Rück­licht des let­zten Busses,
ein leichter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende ein­er Fre­und­schaft.

außer­dem noch:

  • Jost Amman & Hans Sachs: Das Stän­de­buch (1568).
  • Georges Duby: Die Zeit der Kathe­dralen.

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