Jürgen Becker: Die folgenden Seiten. Journalgeschichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. 156 Seiten. ISBN 978–3‑518–41820‑8.
Schon der Untertitel zeigt die Ambivalenz des Buches: Ist das ein Journal oder sind es Geschichten? Man muss das wohl wirklich zusammendenken: Das ist kein Tagebuch, also schon Fiktion. Aber es simuliert das tägliche Schreiben: Der Erzähler nimmt sich ein Notizbuch mit 200 Seiten vor und beschreibt jeden Tag eine Seite mehr oder weniger voll. Vielleicht hat Becker das auch so gemacht — aber das ist ja auch egal. Schade ist nur, dass der Verlag die Idee, die 200 Seiten eines Journale fiktional zu beschreiben (des Erzählers), nicht im realen Buch abbilden wollte — das wäre doch eine schöne Performanz des Textes gewesen, der sein Organisationsprinzip ja immerhin selbst erläutert. Dafür sind die Journalgeschichten aber immerhin ohne Seitenzahlen gedruckt.
Man erlebt, seufzt der Mensch, das Wetter gar nicht mehr, wie es kommt, wie es ist, wie es geht. Man erlebt nur noch, wie es eine Prophezeiung erfüllt. (150)
Der Text ist eine Mischung aus grundsätzlichen Reflexionen, leicht und fast nebenbei, als Zufall und Fundstücke etc präsentiert, mit den Erinnerungen und vielfältigen Erinnerungsanlässen eines alt(ernd)en Mannes, die immer wieder vom Einbruch der “Realität” der Schreibgegenwart, zum Beispiel den wiederholt auftauchenden “Gästen”, unterbrochen werden. Vieles sind “nette”, freundliche, zugewandte Tagebuchskizzen mit viel untergemischter (persönlicher) “Vergangenheitsbewältigung”, auch viel Hitler & Co. Das ist dann — nicht nur hin und wieder — schon etwas sentimental, aber dank der Wortkunst Beckers noch auszuhalten. Dennoch ist mir das insgesamt etwas zu belanglos, das plätschert zu ziellos vor sich hin. Die sympathische kurze/kleine Form wird für meinen Geschmack nicht ausreichend für die poetische Verdichtung genutzt, deshalb wirkt vieles doch etwas blass und bleibt ohne tiefere Wirkung für mich.
In diesem Jahr könnte es soweit sein. Im vergangenen Jahr hätte es auch soweit sein können, ebenso im Jahr davor, oder vor zwei, drei, vor zehn Jahren schon. Vielleicht ist es erst im nächsten Jahr soweit, oder im übernächsten; dabei müssen es nicht einmal Jahre, es können auch kürzere Fristen sein, Wochen, Tage, Stunden, wer weiß. Ganz sicher ist, irgendwann ist es soweit, ob plötzlich, oder ob es sich hinzieht. (16)
Giulia Becker: Das Leben ist eines der Härtesten. Hamburg: Rowohlt 2019. 224 Seiten. ISBN 978–3‑498–00689‑1.
Giulia Beckers erster Roman mit dem schönen Titel Das Leben ist eines der Härtesten fällt hier wahrscheinlich etwas aus dem Rahmen. Denn das ist, auch wenn es im Literaturverlag Rowohlt erschienen ist, keine Kunst, sondern Unterhaltung. Und auch noch recht derbe Unterhaltung dazu. Die kurze, episodenhaft erzählte Geschichte um einige Verlierertypen aus Borken ist aber immerhin durchaus komisch oder, um das gleich etwas einzuschränken, hat zumindest viele komische Momente in der Übertreibung und Zuspitzung der Charaktere (die eher ziemlich flache Typen sind). Aber, und das ist halt ein großes Aber: Literarisch taugt das nicht, weder formal noch stilistisch trägt das irgendwie. Ästhetisch ist das belanglos (so wie der Inhalt der Geschichte ja auch eigentlich eher belanglos bleibt). Das funktioniert als nette — und recht flache — Unterhaltung, als eine unkomplizierte, anspruchslose Lektüre für zwischendurch, mit dem einen oder anderen Lacher. Die Süddeutsche hat das in ihrer Rezension als “Privatfernsehliteratur” bezeichnet (behauptet der Perlentaucher) — und das trifft es ziemlich genau: Mit und vor allem über die vermurksten Leben der anderen lachen, sich selbst dabei wohlig überheblich und sicher fühlen — viel mehr will und kann dieser Text nicht.
Sinclair Lewis: Babbitt. Übersetzt von Bernhard Robben. Mit einem Nachwort von Michael Köhlmeier. München: Manesse 2017. 784 Seiten. ISBN 978–3‑641–211476‑0.
Bonaventura hat mich darauf gebracht, doch mal wieder außerhalb des deutschsprachigen Bereichs zu lesen. In der Tat war mir Sinclair Lewis bisher gerade so dem Namen nach bekannt, gelesen hatte ich noch nichts. Das hat sich nun geändert: Babbitt ist eine durchaus vergnügliche Lektüre. Von den über 700 Seiten sollte man sich nicht abschrecken lassen. Erstens sind das Seiten im kleinen Manesse-Verlag, wo die Neuübersetzung von Bernhard Robben (mit einigen wenigen Stellen, die mir seltsam schienen, ohne sie am Original geprüft zu haben) 2017 erschienen ist. Zweitens lässt sich das, zumindest in der Übersetzung, recht flott lesen. Babbitt ist, da würde ich Michael Köhlmeiers seltsamen Nachwort doch widersprechen, eine Satire. Eine Satire auf den amerikanischen Mittelstand kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Der namensgebende Titelheld, George F. Babbitt, ist Immobilienmakler und vor allem ein Angeber und Schwätzer vor dem Herren. Der Roman bestätigt schön meine Vorurteile über die oberflächliche, kapitalistische, patriarchalische und weitgehend un- bzw. amoralische Gesellschaft der USA im 20. Jahrhundert (ja, ich weiß, böse Vorurteile — und nicht, dass es in Europa besser wäre …). Lewis macht das aber auf eine sehr amüsante Weise und erzählt Babbitt vor allem als einen imperfekten Menschen, der nach mehr — dem Sinn des Lebens, der Erfüllung, irgendwas neben dem erwarteten und vorgezeichneten Leben eines amerikanischen Geschäftsmannes eben — sucht, ohne selbst zu wissen, das er auf der Suche ist und schon gar nicht, wonach ihm eigentlich dürstet und gelüstet (jenseits des Alkohols natürlich …). Babbitt fängt sehr dicht am Protagonisten an, folgt ihm sozusagen zunächst auf Schritt und Tritt, in feiner Detailauflösung. Zunehmend löst sich das, die Handlung springt, beschleunigt und bremst wieder, was mir doch hin und wieder den Eindruck eines formalen Ungleichgewichts erweckte: Nach der äußerst detaillierten und ausführlichen Exposition scheint sich die Fabel gerade im letzten Viertel immer mehr zu beschleunigen und weniger genau erzählt zu werden. Das funktioniert natürlich trotzdem, gerade durch und wegen des hyperdetaillierten Beginns. Dabei wird die Gesellschaft der fiktiven Großstadt Zenith, in der Babbitt spielt, aber immer deutlicher als eine restriktive und stratifizierte erkennbar, in der gerade nichtsnutzige Schwätzer wie Babbitt durch ihre Verbindung mit anderen ihresgleichen (in den Clubs und Vereinigungen) die Macht und vor allem das wirtschaftliche Geschehen, ungeachtetet ihrer im Roman ziemlich deutlich zutage tretenden Inkompetenz und Amoralität, fest in der Hand haben und behalten.
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 2019. 288 Seiten. ISBN 978–3‑85420–978‑2.
Ich weiß ja wieder einmal nicht so recht: Von der Kritik recht einhellig sehr positiv bewertet und besprochen, finde ich das Buch dann doch eher belanglos. Ja, die fünf Lebensläufe der Frauen, die lose miteinander verknüpft diesen Roman bzw. dessen fünf Abschnitte bilden, sind interessant zu verfolgen (auch gerade als männlicher Leser wahrscheinlich). Aber das bleibt im Erzählen wieder so schrecklich banal und gewöhnlich. Vielleicht sind solche Bücher, gerade in ihrer Stillosigkeit (oder zumindest in ihrem neutralen, unauffälligen Stil) notwendig — aber packen oder gar begeistern kann mich das nicht.
Das mag auch daran liegen, dass mir das arg pessimistisch grundiert zu sein scheint: Änderungen, Entwicklungen der Protagonistinnen zum Beispiel, scheinen hier kaum bis gar nicht möglich. Ansätze dazu gibt es, die werden aber gerne und immer wieder von der Außenwelt, von den anderen, von Männern und Kindern und anderen Verwandten vor allem, vernichtet und zerschmettert.
Sie weiß mehr als damals, doch was nützt es ihr? (125)
Interessant übrigens, das nur am Rande, dass alle Frauen auffällig viel Musik — und zwar in erster Linie klassische Musik — hören. Das wäre wahrscheinlich einen genaueren Blick wert. Beim ersten Lesen scheint mir das aber, gerade im Zusammenhang mit den erzählten Lebensläufen und deren Problemen, nicht besonders ergiebig. Aufgefallen ist es mir vor allem, weil es mir zumindest zu einem Teil der Figuren nicht so recht zu passen scheint. Aber typisch für Die Liebe im Ernstfall ist, dass auch dies — wie nahezu alle äußere Handlung (abseits von der Gefühlsinnenwelt der Protagonistinnen) nur Nebensache ist, nur so anbei geschieht. “Sätze ohne Spannung, ohne Klang, ohne Zauber” beschreibt eine der Protagonistinnen, die als Schriftstellerin arbeitet oder zu arbeiten versucht, wenn die Kinder ihr Zeit und Energie lassen, einmal ihre Tagesproduktion (125). Und das trifft auch Die Liebe im Ernstfall ziemlich genau.
außerdem gelesen:
Moritz Föllmer: “Ein Leben wie im Traum”. Kultur im Dritten Reich. München Beck 2016. 288 Seiten. ISBN 978–3‑406–67905‑6.
Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Stuttgart: Reclam 2016. 64 Seiten. ISBN 9783150193822.
Heinz Gärtner: Der Kalte Krieg. Bündnisse — Krisen — Konflikte. Wiesbaden: marix 2017. 254 Seiten. ISBN 9783737410335.
Hans Eisenträger: Der Mann seiner Frau. Novelle. Hrsg. von Nikola Roßbach. Hannover: Wehrhahn 2018. 68 Seiten. ISBN 978–3‑86525–641‑6.
Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Berlin: List 2012. 236 Seiten
Naja, das war keine so lohnende Lektüre … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/der Rezensentin Vertrauenspunkte zu entziehen …). Die Geschichte ist schwach und teilweise blöd: Ein junges Mädchen zieht kurz vor den Sommerferien auf dem Bauernhof der Familie ihres älteren Freundes ein, vernachlässigt die Schule und gibt sich lieber einer seltsamen geheim gehaltenen Beziehung zu dem mehr als doppelt so alten Nachbarbauern hin, die vor allem auf ihrer Ausnutzung und ihrem Missbrauch (körperlich, sexuell und psychisch) beruht und natürlich tragisch enden muss … Das Setting im Sommer 1990 auf der Noch-DDR-Seite der Grenze ist auch nicht so spannend, gibt aber Gelegenheit, ein bisschen (freilich nur wenig) Politik und Geschichte einzuflechten — und ist natürlich ein Spiegel der Figur Maria: In der Zwischenzeit — nicht mehr Kind, noch nicht Erwachsene — spiegelt sich das Land zwischen DDR und BRD … Aber da die Figuren alle reichlich blass bleiben, von der Erzählerin über ihre Restfamilie bis zu Johannes und Henner, kann sich da sowieso kaum etwas entfalten. Das merkt man sehr deutlich an der mühsam inszenierten Intertextualität: Maria wird gerne als begeisterte Leserin porträtiert, liest aber wochen-/monatelang an Dostojewskis Die Brüder Karamasow herum, was natürlich wenig ergiebig ist (sowieso ist Lektüre hier immer ausschließlich eine identifikatorische …). Auch die Komposition von Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist nicht weiter bemerkenswert, eher kleinteilig angelegt, mit Schwächen in der Zeitgestaltung. Und die so gelobte Sprache — wenn man den Blurbs im Taschenbuch (ganze zwei Seiten vor dem Titel!) glauben darf — hat für mich keinen Reiz, weil sie eigentlich doch recht gewöhnlich ist.
alles in allem die übersteigerten Gefühle einer Siebzehnjährigen in den Wirrungen einer unruhigen Zeit. (234f. — mehr muss man kaum sagen ;-) …)
Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Wien, München: Fritz Molden 1966. 419 Seiten
Eine schöne Idee der kontrafaktischen Geschichte: NS-Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen und sich die halbe Welt untertan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gakkai“), Juden gibt es (fast) keine mehr. Dann stirbt Hitler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöpfel ersetzt — oder ist das ein Mord und Staatsstreich? Die entsprechenden Vermutungen kursieren und geben der Handlung im gleichzeitigen Bürgerkrieg und dem durch die beiden Großmächte entfesselten atomaren Krieg ordentliche Verwicklungen und Handlungsantrieb. Dazwischen treibt Höllriegel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der verschwörungstechnisch in die große Politik gerät und sich wieder rauswurschtelt (hat etwas vom Schelm, diese Figur: wenig Ahnung, dafür aber viel Situationsgeschick) und dessen Treiben noch verquickt wird mit seiner Liebe bzw. seinem Begehren nach der (scheinbar) idealen (in ideologischer, d.h. rassentypologischer Sicht), aber unter normalen Umständen unerreichbaren Ulla. Das ganze Gewusel endet dann etwas desillusionierend im Tod — allerdings nicht durch Verstrahlung (das hätte noch etwas gedauert), sondern im Gefecht. Schön an Basils Roman ist die konsequente Weiterführung, das Zu-Ende-Denken der NS-Ideologie mit ihren Auswüchen, den Gruppen, dem Einheitswahn, der unerschöpflichen Kategorisierungssucht etc. Insgesamt leidet das Buch aber daran, dass es diese kontrafaktische Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Handlungen sprechen lässt. Wunderbar sprechend sind dagegen die vielen, vielen Namen … Jedenfalls eine durchaus unterhaltsame Lektüre.
Doch Adolf Hitler war nicht mehr, Odin hatte seinen Meldegänger zum großen Rapport nach Walhall gerufen. (50)
Jürgen Buchmann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des ExterThals, nach denen Diariis Seiner Hoch Ehrwürden Herren Martinus Oestermann, weiland Pfarrer an St. Jakobi zu Almena. Leipzig: Reinecke & Voß 2014. 46 Seiten
Eine wunderbare Spielerei ist dieses kleine, feine Büchlein (schon die ISBN: in römischen Ziffern, eine echte Fleißarbeit …), eine nette Camouflage, echtes Schelmenstück (der Autor scheint ein in der Wolle getränkte Schelm zu sein …). Der Wahrhafftige Bericht ist eine Art philologische Fantasy (der Bezug auf Tolkien taucht sogar im Vorwort auf), nur in die Vergangenheit verlegt: Es handelt sich um den (fiktiven) Bericht eines gelehrten Landpfarrers, der von einer Giftmischerin/Zigeunerin/Heilkundigen mit den Elfen seines Tales bekannt gemacht wird und Grundzüge (d.h. vor allem Phonetik und Morphologie) ihrer Sprache beschreibt. Das ist eingebettet und kombiniert mit dem Tagebuch der „Entdeckung“ dieser geheimen (?) Sprache bis zum Kriminalfall des Verschwindens sowohl des Pfarrers als auch seiner Informantin (ein Wechseln ins Elfenreich liegt ganz märchentypisch nahe, weil keine Leiche gefunden wird …). Leider fehlt ausgerechnet die Lexik der Elfensprache in den “Aufzeichnungen”, so dass die Fragmente, die „Oestermann“ „überliefert“, dummerweise unverständlich bleiben (aber wer weiß, vielleicht haben sie ja sogar eine Bedeutung? — Das wäre eine schöne Aufgabe für einen Computer mit einem findigen Programmierer …). Das ganze ist von Buchmann verflixt geschickt vorgetäuscht oder gefälscht oder nachgeahmt oder parodiert worden. Von dem Drumherum ist allerdings nicht alles gelogen — das „Gelehrten-Lexicon“ von Jöcher z.B., aus dem zitiert wird, gibt es durchaus — allerdings ohne den hier abgedruckten Eintrag zu Oestermann. Und dann ist das Ganze — es ist ja nicht viel, kaum mehr als vierzig Seiten beanspruchen die “überlieferten” Texte samt editorischen Vorworten und Anhängen von dem kleinen Leipziger Dichter-Verlag Reinecke & Voß sehr schön herausgebracht worden, mit angenehm passendem Satz und schönen Schriften.
Wir fassen die Lettern und stoßen auf | Klänge; wir fassen die Klänge und stoßen auf Namen; wir fassen die Namen und stoßen auf Nichts. (15f.)
Ulf Stolterfoht: Das deutsche Dichterabzeichen. Leipzig: Reinecke & Voß 2012. 49 Seiten
Und gleich noch ein schmales Bändchen von Reinecke & Voss, den Hörspieltext Das deutsche Dichterabzeichen. des großen Lyrikers Ulf Stolterfoht. Dichtung und vor allem die Lyrik wird hier als streng reguliertes, entbehrungsreiches Handwerk inszeniert (ein bisschen wie eine moderne Variante der Meistersinger …), das ist ganz nett ausgedacht. Zugleich ist es aber auch noch eine “Systematik“ der Lyrik mit verschiedenen „lyrischen Typen”. Da heißt es zum Beispiel:
Wildtexte, die noch vor Zeiten weite Teile Europas besiedelten, haben sich mittlerweile den immer spezielleren Anforderungsprofilen unterworfen. (17)
Weiter geht es im belehrenden Gespräch über die Dichter-Ausbildung, also die handwerkliche Komponente des Dichtens. Weiteres, ganz wichtiges Thema: Die kompetitive Komponente des Dichtens, die Lesungen und die Wettbewerbe. Das führt Stolterfoht als Zirkus vor, als eine Art Dressur, in der die Dichter die Rolle der Tierchen übernehmen: possierlich, gut für die Unterhaltung, aber nicht ernst zu nehmen … In der Radikalität, in der diese messenden und vergleichende Komponente der Dichtung übergestülpt wird, ist das natürlich — daraus macht der Text kein großes Geheimnis — eine Parabel auf den deutschen Literaturbetrieb der Gegenwart. Aber eine — ganz wie es das Thema verlangt — unterhaltende, in der sich durchaus — schließlich ist Stolterfoht selbst ein intelligenter Teilnehmer — wahre und treffende Beobachtungen finden:
Im Zeitalter hoch entwickelter Prosa hat das Gedicht an Bedeutung verloren. in dem Maße aber, in dem es aus seiner natürlichen Umgebung verschwindet, wächst seine Beliebtheit als domestizierter Wettbewerbstext. (7)
Schön auch kurz vor Schluss:
Etwas ganz besonderes verbirgt sich hinter der Bezeichnung „Vielseitigkeitsprüfung“: Der Dreikampf nämlich aus Lyrik, lyrischer Übersetzung und Poetologie — das alles an drei aufeinander folgenden Tagen. (40)
Mit diesem Buch habe ich mir Kempowski verleidet, das ist zum Abgewöhnen … Hamit — die dialektale Variante von “Heimat” — ist ein Tagebuch der Zeit direkt während bzw. nach der Wende. Für Kempowski heißt das: Er kann wieder Rostock besuchen, die Stadt, in der er aufwuchs. Und auch Bautzen, wo er eingekerkert war. Weitere Themen des Tagebuchs: Die Medien — wie sie über Politik und über ihn berichten -, die Fertigstellung von Alkor, Zwistigkeiten, Besuche etc. Dazwischen taucht noch die Sammlung von Tagebüchern und Erinnerungen anderer Leute immer wieder auf (fürs sein Echolot und um’s dem „Vergessen zu entreißen“), auch die Politik der Gegenwart spielt natürlich eine Rolle, gerade hinsichtlich des Vereinigungsprozesses. Das ist aber auch der Bereich, wo Kempowski vor allem seinen Animositäten freien Lauf lässt: Außer ihm (und wenigen anderen) hat niemand je etwas kapiert, sehen alle die Widersprüche und Probleme nicht. Dabei ist das kein ganz reines Tagebuch, es ist mindestens zwei Mal überarbeitet (und damit endgültig literarisiert) worden. Aber auch die Anmerkungen aus den 2000ern verstärken die Tendenz der Besserwisserei noch lassen ihn als den einzigen „Weisen“ und das große Genie erscheinen, dass die anderen einfach nicht erreichen. Dabei ist der ganze Text durchtränkt von Ressentiments gegen so ziemlich alle und jeden (mit Ausnahme vielleicht bestimmter Bereiche der Vergangenheit). Und eine große Eitelkeit bricht sich immer wieder Bahn: Alle, die Leser, der Literaturbetrieb, die Medien und die Kritik, aber auch sein Verlag, alle verkennen seine Genialität und seine Leistungen. Dabei ist er doch unersetzlich, wie er ganz typisch bescheiden festhält:
Ich gebe der Gesellschaft ihre Geschichten zurück. (284)
Was würden wir Armen also nur ohne ihn tun!
Mir war der Kempowski, der sich hier zeigt, jedenfalls ausgesprochen unsympathisch. Lustig am Rande auch: Bei einem Verdienst von 50.000 DM/Monat bzw. 1200 DM/Tag (321) beschwert er sich immer wieder darüber, dass er Restaurantrechnungen bezahlen muss/soll: total ichzentriert eben, der Schreiber dieser Seiten, der sich vor allem durch seine Kauzigkeiten — wie die total kontingent scheinende Ablehnung der Worte „Akzeptanz“ und „Dirigat“ (329) — auszeichnet.
Wenn niemand eine Biographie über mich schreibt, tue ich es eben selbst. (177)
Jürg Halter: Wir fürchten das Ende der Musik. Gedichte. Göttingen: Wallstein 2014. 72 Seiten
“Für sich” steht als Widmung in diesem Gedichtband. Und das stimmt einerseits, andererseits aber auch überhaupt nicht. Zwar stehen die Gedichte erst einmal “für sich” da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber andererseits bleiben sie auch gerade nicht “für sich”, denn Halter geizt nicht mit intertextuellen Anspielungen und Verweisen. Gerade die Musik spielt da durchaus eine große Rolle. Und dennoch: Man muss diese Intertextualitäten nicht erkennen, man muss ihnen schon gar nicht nachgehen (obwohl das durchaus spannend sein könnte, das systematisch zu tun), um die Lyrik Halters verstehen zu können. Oder zumindest glauben zu können, etwas verstanden zu haben. Denn seine Gedichte bleiben zugänglich und wollen das wohl auch sein. Oft sind sie geradezu erzählend, ihre Metaphern bleiben leicht nachvollziehbar, die Form klar und übersichtlich. Manchmal wirkt das mit dem lockeren Sprachduktus, dem leichten Ton mir aber auch etwas zu plätschernd, zu prosa-nah, zu wenig formbestimmt für Lyrik. Doch gibt es durchaus schöne und spannende Text in diesem Band. Da zeigt sich nicht nur die Verwurzelung Halters und Tradition und Intertextualität (seine Gedichte schöpfen viel aus oder mit der Kultur und ihrer Geschichte), da ist auch ein anregendes Spiel mit sich selbst immer wieder zu beobachten, die Selbstreflextion des Lyrikers und des Gedichtes zu erkennen. Interessant ist auch das immer wieder auftauchende Zeitkonzept — ein sehr vages Konzept von Zeit, das nicht auf das Trennende von Vergangenheit und Gegenwart abzielt, sondern auf den Übergang, die fließende Entwicklung: Vom Holozän bis zum Jetzt und dem Augenblick sind einzelnen Momente kaum zu fassen und zu bestimmen:
Etwas hat begonnen, dauert an oder ist vorüber. (25)
Nicht alles ist sprachlich oder inhaltlich sehr stark, gerade im Abschnitt IV („O, aufgeklärtes Leben, unsere Droge!“ überschrieben) scheinen mir einige schwache Texte den Weg in den Druck gefunden zu haben. Die Digital-Skepsis in „Hypnose“ ist zum Beispiel ziemlich oberflächlich und billig. Dazwischen gibt es aber immmer wieder schöne Momente, die das Lesen dennoch lesenswert mache, wie etwa die „Eine sich stets wiederholende Szene“:
Die sich leerenden Straßen an einem Sommerabend in einer kleinen Stadt. Das Rücklicht des letzten Busses, ein leichter Wind, der geht. Im Ohr ein Lied über das Ende einer Freundschaft.