Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: daniela krien

Aus-Lese #53

Jür­gen Becker: Die fol­gen­den Sei­ten. Jour­nal­ge­schich­ten. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2006. 156 Sei­ten. ISBN 978−3−518−41820−8.

becker, seiten (cover)Schon der Unter­ti­tel zeigt die Ambi­va­lenz des Buches: Ist das ein Jour­nal oder sind es Geschich­ten? Man muss das wohl wirk­lich zusam­men­den­ken: Das ist kein Tage­buch, also schon Fik­ti­on. Aber es simu­liert das täg­li­che Schrei­ben: Der Erzäh­ler nimmt sich ein Notiz­buch mit 200 Sei­ten vor und beschreibt jeden Tag eine Sei­te mehr oder weni­ger voll. Viel­leicht hat Becker das auch so gemacht – aber das ist ja auch egal. Scha­de ist nur, dass der Ver­lag die Idee, die 200 Sei­ten eines Jour­na­le fik­tio­nal zu beschrei­ben (des Erzäh­lers), nicht im rea­len Buch abbil­den woll­te – das wäre doch eine schö­ne Per­for­manz des Tex­tes gewe­sen, der sein Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip ja immer­hin selbst erläu­tert. Dafür sind die Jour­nal­ge­schich­ten aber immer­hin ohne Sei­ten­zah­len gedruckt. 

Man erlebt, seufzt der Mensch, das Wet­ter gar nicht mehr, wie es kommt, wie es ist, wie es geht. Man erlebt nur noch, wie es eine Pro­phe­zei­ung erfüllt. (150)

Der Text ist eine Mischung aus grund­sätz­li­chen Refle­xio­nen, leicht und fast neben­bei, als Zufall und Fund­stü­cke etc prä­sen­tiert, mit den Erin­ne­run­gen und viel­fäl­ti­gen Erin­ne­rungs­an­läs­sen eines alt(ernd)en Man­nes, die immer wie­der vom Ein­bruch der „Rea­li­tät“ der Schreib­ge­gen­wart, zum Bei­spiel den wie­der­holt auf­tau­chen­den „Gäs­ten“, unter­bro­chen wer­den. Vie­les sind „net­te“, freund­li­che, zuge­wand­te Tage­buch­skiz­zen mit viel unter­ge­misch­ter (per­sön­li­cher) „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“, auch viel Hit­ler & Co. Das ist dann – nicht nur hin und wie­der – schon etwas sen­ti­men­tal, aber dank der Wort­kunst Beckers noch aus­zu­hal­ten. Den­noch ist mir das ins­ge­samt etwas zu belang­los, das plät­schert zu ziel­los vor sich hin. Die sym­pa­thi­sche kurze/​kleine Form wird für mei­nen Geschmack nicht aus­rei­chend für die poe­ti­sche Ver­dich­tung genutzt, des­halb wirkt vie­les doch etwas blass und bleibt ohne tie­fe­re Wir­kung für mich.

In die­sem Jahr könn­te es soweit sein. Im ver­gan­ge­nen Jahr hät­te es auch soweit sein kön­nen, eben­so im Jahr davor, oder vor zwei, drei, vor zehn Jah­ren schon. Viel­leicht ist es erst im nächs­ten Jahr soweit, oder im über­nächs­ten; dabei müs­sen es nicht ein­mal Jah­re, es kön­nen auch kür­ze­re Fris­ten sein, Wochen, Tage, Stun­den, wer weiß. Ganz sicher ist, irgend­wann ist es soweit, ob plötz­lich, oder ob es sich hin­zieht. (16)

Giu­lia Becker: Das Leben ist eines der Här­tes­ten. Ham­burg: Rowohlt 2019. 224 Sei­ten. ISBN 978−3−498−00689−1.
giulia becker, das leben ist eines der härtesten (cover)
Giu­lia Beckers ers­ter Roman mit dem schö­nen Titel Das Leben ist eines der Här­tes­ten fällt hier wahr­schein­lich etwas aus dem Rah­men. Denn das ist, auch wenn es im Lite­ra­tur­ver­lag Rowohlt erschie­nen ist, kei­ne Kunst, son­dern Unter­hal­tung. Und auch noch recht der­be Unter­hal­tung dazu. Die kur­ze, epi­so­den­haft erzähl­te Geschich­te um eini­ge Ver­lie­rer­ty­pen aus Bor­ken ist aber immer­hin durch­aus komisch oder, um das gleich etwas ein­zu­schrän­ken, hat zumin­dest vie­le komi­sche Momen­te in der Über­trei­bung und Zuspit­zung der Cha­rak­te­re (die eher ziem­lich fla­che Typen sind).
Aber, und das ist halt ein gro­ßes Aber: Lite­ra­risch taugt das nicht, weder for­mal noch sti­lis­tisch trägt das irgend­wie. Ästhe­tisch ist das belang­los (so wie der Inhalt der Geschich­te ja auch eigent­lich eher belang­los bleibt). Das funk­tio­niert als net­te – und recht fla­che – Unter­hal­tung, als eine unkom­pli­zier­te, anspruchs­lo­se Lek­tü­re für zwi­schen­durch, mit dem einen oder ande­ren Lacher. Die Süd­deut­sche hat das in ihrer Rezen­si­on als „Pri­vat­fern­seh­li­te­ra­tur“ bezeich­net (behaup­tet der Per­len­tau­cher) – und das trifft es ziem­lich genau: Mit und vor allem über die ver­murks­ten Leben der ande­ren lachen, sich selbst dabei woh­lig über­heb­lich und sicher füh­len – viel mehr will und kann die­ser Text nicht.
Sin­clair Lewis: Bab­bitt. Über­setzt von Bern­hard Rob­ben. Mit einem Nach­wort von Micha­el Köhl­mei­er. Mün­chen: Manes­se 2017. 784 Sei­ten. ISBN 978−3−641−211476−0.
lewis, babbitt (cover)
Bona­ven­tura hat mich dar­auf gebracht, doch mal wie­der außer­halb des deutsch­spra­chi­gen Bereichs zu lesen. In der Tat war mir Sin­clair Lewis bis­her gera­de so dem Namen nach bekannt, gele­sen hat­te ich noch nichts. Das hat sich nun geän­dert: Bab­bitt ist eine durch­aus ver­gnüg­li­che Lek­tü­re. Von den über 700 Sei­ten soll­te man sich nicht abschre­cken las­sen. Ers­tens sind das Sei­ten im klei­nen Manes­se-Ver­lag, wo die Neu­über­set­zung von Bern­hard Rob­ben (mit eini­gen weni­gen Stel­len, die mir selt­sam schie­nen, ohne sie am Ori­gi­nal geprüft zu haben) 2017 erschie­nen ist. Zwei­tens lässt sich das, zumin­dest in der Über­set­zung, recht flott lesen. Bab­bitt ist, da wür­de ich Micha­el Köhl­mei­ers selt­sa­men Nach­wort doch wider­spre­chen, eine Sati­re. Eine Sati­re auf den ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­stand kurz nach dem Ers­ten Welt­krieg. Der namens­ge­ben­de Titel­held, Geor­ge F. Bab­bitt, ist Immo­bi­li­en­mak­ler und vor allem ein Ange­ber und Schwät­zer vor dem Her­ren. Der Roman bestä­tigt schön mei­ne Vor­ur­tei­le über die ober­fläch­li­che, kapi­ta­lis­ti­sche, patri­ar­cha­li­sche und weit­ge­hend un- bzw. amo­ra­li­sche Gesell­schaft der USA im 20. Jahr­hun­dert (ja, ich weiß, böse Vor­ur­tei­le – und nicht, dass es in Euro­pa bes­ser wäre …). Lewis macht das aber auf eine sehr amü­san­te Wei­se und erzählt Bab­bitt vor allem als einen imper­fek­ten Men­schen, der nach mehr – dem Sinn des Lebens, der Erfül­lung, irgend­was neben dem erwar­te­ten und vor­ge­zeich­ne­ten Leben eines ame­ri­ka­ni­schen Geschäfts­man­nes eben – sucht, ohne selbst zu wis­sen, das er auf der Suche ist und schon gar nicht, wonach ihm eigent­lich dürs­tet und gelüs­tet (jen­seits des Alko­hols natür­lich …). Bab­bitt fängt sehr dicht am Prot­ago­nis­ten an, folgt ihm sozu­sa­gen zunächst auf Schritt und Tritt, in fei­ner Detail­auf­lö­sung. Zuneh­mend löst sich das, die Hand­lung springt, beschleu­nigt und bremst wie­der, was mir doch hin und wie­der den Ein­druck eines for­ma­len Ungleich­ge­wichts erweck­te: Nach der äußerst detail­lier­ten und aus­führ­li­chen Expo­si­ti­on scheint sich die Fabel gera­de im letz­ten Vier­tel immer mehr zu beschleu­ni­gen und weni­ger genau erzählt zu wer­den. Das funk­tio­niert natür­lich trotz­dem, gera­de durch und wegen des hyper­de­tail­lier­ten Beginns. Dabei wird die Gesell­schaft der fik­ti­ven Groß­stadt Zenith, in der Bab­bitt spielt, aber immer deut­li­cher als eine restrik­ti­ve und stra­ti­fi­zier­te erkenn­bar, in der gera­de nichts­nut­zi­ge Schwät­zer wie Bab­bitt durch ihre Ver­bin­dung mit ande­ren ihres­glei­chen (in den Clubs und Ver­ei­ni­gun­gen) die Macht und vor allem das wirt­schaft­li­che Gesche­hen, unge­ach­te­tet ihrer im Roman ziem­lich deut­lich zuta­ge tre­ten­den Inkom­pe­tenz und Amo­ra­li­tät, fest in der Hand haben und behalten.
Danie­la Kri­en: Die Lie­be im Ernst­fall. Frank­furt am Main: Bücher­gil­de Guten­berg 2019. 288 Sei­ten. ISBN 978−3−85420−978−2.
daniela krien, liebe im ernstfall (cover)
Ich weiß ja wie­der ein­mal nicht so recht: Von der Kri­tik recht ein­hel­lig sehr posi­tiv bewer­tet und bespro­chen, fin­de ich das Buch dann doch eher belang­los. Ja, die fünf Lebens­läu­fe der Frau­en, die lose mit­ein­an­der ver­knüpft die­sen Roman bzw. des­sen fünf Abschnit­te bil­den, sind inter­es­sant zu ver­fol­gen (auch gera­de als männ­li­cher Leser wahr­schein­lich). Aber das bleibt im Erzäh­len wie­der so schreck­lich banal und gewöhn­lich. Viel­leicht sind sol­che Bücher, gera­de in ihrer Stil­lo­sig­keit (oder zumin­dest in ihrem neu­tra­len, unauf­fäl­li­gen Stil) not­wen­dig – aber packen oder gar begeis­tern kann mich das nicht. 

Das mag auch dar­an lie­gen, dass mir das arg pes­si­mis­tisch grun­diert zu sein scheint: Ände­run­gen, Ent­wick­lun­gen der Prot­ago­nis­tin­nen zum Bei­spiel, schei­nen hier kaum bis gar nicht mög­lich. Ansät­ze dazu gibt es, die wer­den aber ger­ne und immer wie­der von der Außen­welt, von den ande­ren, von Män­nern und Kin­dern und ande­ren Ver­wand­ten vor allem, ver­nich­tet und zerschmettert. 

Sie weiß mehr als damals, doch was nützt es ihr? (125)

Inter­es­sant übri­gens, das nur am Ran­de, dass alle Frau­en auf­fäl­lig viel Musik – und zwar in ers­ter Linie klas­si­sche Musik – hören. Das wäre wahr­schein­lich einen genaue­ren Blick wert. Beim ers­ten Lesen scheint mir das aber, gera­de im Zusam­men­hang mit den erzähl­ten Lebens­läu­fen und deren Pro­ble­men, nicht beson­ders ergie­big. Auf­ge­fal­len ist es mir vor allem, weil es mir zumin­dest zu einem Teil der Figu­ren nicht so recht zu pas­sen scheint. Aber typisch für Die Lie­be im Ernst­fall ist, dass auch dies – wie nahe­zu alle äuße­re Hand­lung (abseits von der Gefühls­in­nen­welt der Prot­ago­nis­tin­nen) nur Neben­sa­che ist, nur so anbei geschieht. „Sät­ze ohne Span­nung, ohne Klang, ohne Zau­ber“ beschreibt eine der Prot­ago­nis­tin­nen, die als Schrift­stel­le­rin arbei­tet oder zu arbei­ten ver­sucht, wenn die Kin­der ihr Zeit und Ener­gie las­sen, ein­mal ihre Tages­pro­duk­ti­on (125). Und das trifft auch Die Lie­be im Ernst­fall ziem­lich genau.

außer­dem gelesen:

  • Moritz Föll­mer: „Ein Leben wie im Traum“. Kul­tur im Drit­ten Reich. Mün­chen Beck 2016. 288 Sei­ten. ISBN 978−3−406−67905−6.
  • Jan Phil­ipp Reemts­ma: Gewalt als Lebens­form. Zwei Reden. Stutt­gart: Reclam 2016. 64 Sei­ten. ISBN 9783150193822.
  • Heinz Gärt­ner: Der Kal­te Krieg. Bünd­nis­se – Kri­sen – Kon­flik­te. Wies­ba­den: marix 2017. 254 Sei­ten. ISBN 9783737410335.
  • Hans Eisen­trä­ger: Der Mann sei­ner Frau. Novel­le. Hrsg. von Niko­la Roß­bach. Han­no­ver: Wehr­hahn 2018. 68 Sei­ten. ISBN 978−3−86525−641−6.

Aus-Lese #37

Danie­la Kri­en: Irgend­wann wer­den wir uns alles erzäh­len. Ber­lin: List 2012. 236 Seiten 

krien, irgendwannNaja, das war kei­ne so loh­nen­de Lek­tü­re … Ich weiß auch nicht mehr, wie ich dar­auf gekom­men bin (wäre ein Grund, dem Rezensenten/​der Rezen­sen­tin Ver­trau­ens­punk­te zu ent­zie­hen …). Die Geschich­te ist schwach und teil­wei­se blöd: Ein jun­ges Mäd­chen zieht kurz vor den Som­mer­fe­ri­en auf dem Bau­ern­hof der Fami­lie ihres älte­ren Freun­des ein, ver­nach­läs­sigt die Schu­le und gibt sich lie­ber einer selt­sa­men geheim gehal­te­nen Bezie­hung zu dem mehr als dop­pelt so alten Nach­bar­bau­ern hin, die vor allem auf ihrer Aus­nut­zung und ihrem Miss­brauch (kör­per­lich, sexu­ell und psy­chisch) beruht und natür­lich tra­gisch enden muss …
Das Set­ting im Som­mer 1990 auf der Noch-DDR-Sei­te der Gren­ze ist auch nicht so span­nend, gibt aber Gele­gen­heit, ein biss­chen (frei­lich nur wenig) Poli­tik und Geschich­te ein­zu­flech­ten – und ist natür­lich ein Spie­gel der Figur Maria: In der Zwi­schen­zeit – nicht mehr Kind, noch nicht Erwach­se­ne – spie­gelt sich das Land zwi­schen DDR und BRD … Aber da die Figu­ren alle reich­lich blass blei­ben, von der Erzäh­le­rin über ihre Rest­fa­mi­lie bis zu Johan­nes und Hen­ner, kann sich da sowie­so kaum etwas ent­fal­ten. Das merkt man sehr deut­lich an der müh­sam insze­nier­ten Inter­tex­tua­li­tät: Maria wird ger­ne als begeis­ter­te Lese­rin por­trä­tiert, liest aber wochen-/mo­na­te­lang an Dos­to­jew­skis Die Brü­der Kara­ma­sow her­um, was natür­lich wenig ergie­big ist (sowie­so ist Lek­tü­re hier immer aus­schließ­lich eine iden­ti­fi­ka­to­ri­sche …). Auch die Kom­po­si­ti­on von Irgend­wann wer­den wir uns alles erzäh­len ist nicht wei­ter bemer­kens­wert, eher klein­tei­lig ange­legt, mit Schwä­chen in der Zeit­ge­stal­tung. Und die so gelob­te Spra­che – wenn man den Blurbs im Taschen­buch (gan­ze zwei Sei­ten vor dem Titel!) glau­ben darf – hat für mich kei­nen Reiz, weil sie eigent­lich doch recht gewöhn­lich ist.

alles in allem die über­stei­ger­ten Gefüh­le einer Sieb­zehn­jäh­ri­gen in den Wir­run­gen einer unru­hi­gen Zeit. (234f. – mehr muss man kaum sagen ;-) …)

Otto Basil: Wenn das der Füh­rer wüß­te. Wien, Mün­chen: Fritz Mol­den 1966. 419 Seiten 

basil, wenn das der führer wüßte

Eine schö­ne Idee der kon­tra­fak­ti­schen Geschich­te: NS-Deutsch­land hat den Zwei­ten Welt­krieg gewon­nen und sich die hal­be Welt unter­tan gemacht (der Rest gehört zu „Soka Gak­kai“), Juden gibt es (fast) kei­ne mehr. Dann stirbt Hit­ler aber in den 60ern und wird durch Ivo Klöp­fel ersetzt – oder ist das ein Mord und Staats­streich? Die ent­spre­chen­den Ver­mu­tun­gen kur­sie­ren und geben der Hand­lung im gleich­zei­ti­gen Bür­ger­krieg und dem durch die bei­den Groß­mäch­te ent­fes­sel­ten ato­ma­ren Krieg ordent­li­che Ver­wick­lun­gen und Hand­lungs­an­trieb. Dazwi­schen treibt Höll­rie­gel umher, ein „Pendler“/Gyromant, der ver­schwö­rungs­tech­nisch in die gro­ße Poli­tik gerät und sich wie­der raus­wursch­telt (hat etwas vom Schelm, die­se Figur: wenig Ahnung, dafür aber viel Situa­ti­ons­ge­schick) und des­sen Trei­ben noch ver­quickt wird mit sei­ner Lie­be bzw. sei­nem Begeh­ren nach der (schein­bar) idea­len (in ideo­lo­gi­scher, d.h. ras­sen­ty­po­lo­gi­scher Sicht), aber unter nor­ma­len Umstän­den uner­reich­ba­ren Ulla. Das gan­ze Gewu­sel endet dann etwas des­il­lu­sio­nie­rend im Tod – aller­dings nicht durch Ver­strah­lung (das hät­te noch etwas gedau­ert), son­dern im Gefecht.
Schön an Basils Roman ist die kon­se­quen­te Wei­ter­füh­rung, das Zu-Ende-Den­ken der NS-Ideo­lo­gie mit ihren Aus­wü­chen, den Grup­pen, dem Ein­heits­wahn, der uner­schöpf­li­chen Kate­go­ri­sie­rungs­sucht etc. Ins­ge­samt lei­det das Buch aber dar­an, dass es die­se kon­tra­fak­ti­sche Welt zu sehr beschreibt und nicht durch Hand­lun­gen spre­chen lässt. Wun­der­bar spre­chend sind dage­gen die vie­len, vie­len Namen … Jeden­falls eine durch­aus unter­halt­sa­me Lektüre.

Doch Adolf Hit­ler war nicht mehr, Odin hat­te sei­nen Mel­de­gän­ger zum gro­ßen Rap­port nach Wal­hall geru­fen. (50)

Jür­gen Buch­mann: Wahr­haff­ti­ger Bericht über die Spra­che der Elfen des ExterT­hals, nach denen Dia­ri­is Sei­ner Hoch Ehr­wür­den Her­ren Mar­ti­nus Oes­ter­mann, wei­land Pfar­rer an St. Jako­bi zu Alme­na. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2014. 46 Seiten 

buchmann, bericht

Eine wun­der­ba­re Spie­le­rei ist die­ses klei­ne, fei­ne Büch­lein (schon die ISBN: in römi­schen Zif­fern, eine ech­te Fleiß­ar­beit …), eine net­te Camou­fla­ge, ech­tes Schel­men­stück (der Autor scheint ein in der Wol­le getränk­te Schelm zu sein …). Der Wahr­haff­ti­ge Bericht ist eine Art phi­lo­lo­gi­sche Fan­ta­sy (der Bezug auf Tol­ki­en taucht sogar im Vor­wort auf), nur in die Ver­gan­gen­heit ver­legt: Es han­delt sich um den (fik­ti­ven) Bericht eines gelehr­ten Land­pfar­rers, der von einer Giftmischerin/​Zigeunerin/​Heilkundigen mit den Elfen sei­nes Tales bekannt gemacht wird und Grund­zü­ge (d.h. vor allem Pho­ne­tik und Mor­pho­lo­gie) ihrer Spra­che beschreibt. Das ist ein­ge­bet­tet und kom­bi­niert mit dem Tage­buch der „Ent­de­ckung“ die­ser gehei­men (?) Spra­che bis zum Kri­mi­nal­fall des Ver­schwin­dens sowohl des Pfar­rers als auch sei­ner Infor­man­tin (ein Wech­seln ins Elfen­reich liegt ganz mär­chen­ty­pisch nahe, weil kei­ne Lei­che gefun­den wird …). Lei­der fehlt aus­ge­rech­net die Lexik der Elfen­spra­che in den „Auf­zeich­nun­gen“, so dass die Frag­men­te, die „Oes­ter­mann“ „über­lie­fert“, dum­mer­wei­se unver­ständ­lich blei­ben (aber wer weiß, viel­leicht haben sie ja sogar eine Bedeu­tung? – Das wäre eine schö­ne Auf­ga­be für einen Com­pu­ter mit einem fin­di­gen Pro­gram­mie­rer …). Das gan­ze ist von Buch­mann ver­flixt geschickt vor­ge­täuscht oder gefälscht oder nach­ge­ahmt oder par­odiert wor­den. Von dem Drum­her­um ist aller­dings nicht alles gelo­gen – das „Gelehr­ten-Lexi­con“ von Jöcher z.B., aus dem zitiert wird, gibt es durch­aus – aller­dings ohne den hier abge­druck­ten Ein­trag zu Oes­ter­mann. Und dann ist das Gan­ze – es ist ja nicht viel, kaum mehr als vier­zig Sei­ten bean­spru­chen die „über­lie­fer­ten“ Tex­te samt edi­to­ri­schen Vor­wor­ten und Anhän­gen von dem klei­nen Leip­zi­ger Dich­ter-Ver­lag Rei­ne­cke & Voß sehr schön her­aus­ge­bracht wor­den, mit ange­nehm pas­sen­dem Satz und schö­nen Schriften.

Wir fas­sen die Let­tern und sto­ßen auf | Klän­ge; wir fas­sen die Klän­ge und sto­ßen auf Namen; wir fas­sen die Namen und sto­ßen auf Nichts. (15f.)

Ulf Stol­ter­foht: Das deut­sche Dich­ter­ab­zei­chen. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2012. 49 Seiten 

stolterfoht, dichterabzeichen

Und gleich noch ein schma­les Bänd­chen von Rei­ne­cke & Voss, den Hör­spiel­text Das deut­sche Dich­ter­ab­zei­chen. des gro­ßen Lyri­kers Ulf Stol­ter­foht. Dich­tung und vor allem die Lyrik wird hier als streng regu­lier­tes, ent­beh­rungs­rei­ches Hand­werk insze­niert (ein biss­chen wie eine moder­ne Vari­an­te der Meis­ter­sin­ger …), das ist ganz nett aus­ge­dacht. Zugleich ist es aber auch noch eine „Sys­te­ma­tik“ der Lyrik mit ver­schie­de­nen „lyri­schen Typen“. Da heißt es zum Beispiel: 

Wild­tex­te, die noch vor Zei­ten wei­te Tei­le Euro­pas besie­del­ten, haben sich mitt­ler­wei­le den immer spe­zi­el­le­ren Anfor­de­rungs­pro­fi­len unter­wor­fen. (17)

Wei­ter geht es im beleh­ren­den Gespräch über die Dich­ter-Aus­bil­dung, also die hand­werk­li­che Kom­po­nen­te des Dich­tens. Wei­te­res, ganz wich­ti­ges The­ma: Die kom­pe­ti­ti­ve Kom­po­nen­te des Dich­tens, die Lesun­gen und die Wett­be­wer­be. Das führt Stol­ter­foht als Zir­kus vor, als eine Art Dres­sur, in der die Dich­ter die Rol­le der Tier­chen über­neh­men: pos­sier­lich, gut für die Unter­hal­tung, aber nicht ernst zu neh­men … In der Radi­ka­li­tät, in der die­se mes­sen­den und ver­glei­chen­de Kom­po­nen­te der Dich­tung über­ge­stülpt wird, ist das natür­lich – dar­aus macht der Text kein gro­ßes Geheim­nis – eine Para­bel auf den deut­schen Lite­ra­tur­be­trieb der Gegen­wart. Aber eine – ganz wie es das The­ma ver­langt – unter­hal­ten­de, in der sich durch­aus – schließ­lich ist Stol­ter­foht selbst ein intel­li­gen­ter Teil­neh­mer – wah­re und tref­fen­de Beob­ach­tun­gen finden:

Im Zeit­al­ter hoch ent­wi­ckel­ter Pro­sa hat das Gedicht an Bedeu­tung ver­lo­ren. in dem Maße aber, in dem es aus sei­ner natür­li­chen Umge­bung ver­schwin­det, wächst sei­ne Beliebt­heit als domes­ti­zier­ter Wett­be­werbs­text. (7)

Schön auch kurz vor Schluss: 

Etwas ganz beson­de­res ver­birgt sich hin­ter der Bezeich­nung „Viel­sei­tig­keits­prü­fung“: Der Drei­kampf näm­lich aus Lyrik, lyri­scher Über­set­zung und Poe­to­lo­gie – das alles an drei auf­ein­an­der fol­gen­den Tagen. (40)

Wal­ter Kem­pow­ski: Hamit. Tage­buch 1990. Ber­lin: btb 2010. Seiten 

kempowski, hamit

Mit die­sem Buch habe ich mir Kem­pow­ski ver­lei­det, das ist zum Abgewöhnen …
Hamit – die dia­lek­ta­le Vari­an­te von „Hei­mat“ – ist ein Tage­buch der Zeit direkt wäh­rend bzw. nach der Wen­de. Für Kem­pow­ski heißt das: Er kann wie­der Ros­tock besu­chen, die Stadt, in der er auf­wuchs. Und auch Baut­zen, wo er ein­ge­ker­kert war. Wei­te­re The­men des Tage­buchs: Die Medi­en – wie sie über Poli­tik und über ihn berich­ten -, die Fer­tig­stel­lung von Alkor, Zwis­tig­kei­ten, Besu­che etc. Dazwi­schen taucht noch die Samm­lung von Tage­bü­chern und Erin­ne­run­gen ande­rer Leu­te immer wie­der auf (fürs sein Echo­lot und um’s dem „Ver­ges­sen zu ent­rei­ßen“), auch die Poli­tik der Gegen­wart spielt natür­lich eine Rol­le, gera­de hin­sicht­lich des Ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses. Das ist aber auch der Bereich, wo Kem­pow­ski vor allem sei­nen Ani­mo­si­tä­ten frei­en Lauf lässt: Außer ihm (und weni­gen ande­ren) hat nie­mand je etwas kapiert, sehen alle die Wider­sprü­che und Pro­ble­me nicht. Dabei ist das kein ganz rei­nes Tage­buch, es ist min­des­tens zwei Mal über­ar­bei­tet (und damit end­gül­tig lite­r­a­ri­siert) wor­den. Aber auch die Anmer­kun­gen aus den 2000ern ver­stär­ken die Ten­denz der Bes­ser­wis­se­rei noch las­sen ihn als den ein­zi­gen „Wei­sen“ und das gro­ße Genie erschei­nen, dass die ande­ren ein­fach nicht errei­chen. Dabei ist der gan­ze Text durch­tränkt von Res­sen­ti­ments gegen so ziem­lich alle und jeden (mit Aus­nah­me viel­leicht bestimm­ter Berei­che der Ver­gan­gen­heit). Und eine gro­ße Eitel­keit bricht sich immer wie­der Bahn: Alle, die Leser, der Lite­ra­tur­be­trieb, die Medi­en und die Kri­tik, aber auch sein Ver­lag, alle ver­ken­nen sei­ne Genia­li­tät und sei­ne Leis­tun­gen. Dabei ist er doch uner­setz­lich, wie er ganz typisch beschei­den festhält: 

Ich gebe der Gesell­schaft ihre Geschich­ten zurück. (284)

Was wür­den wir Armen also nur ohne ihn tun!

Mir war der Kem­pow­ski, der sich hier zeigt, jeden­falls aus­ge­spro­chen unsym­pa­thisch. Lus­tig am Ran­de auch: Bei einem Ver­dienst von 50.000 DM/​Monat bzw. 1200 DM/​Tag (321) beschwert er sich immer wie­der dar­über, dass er Restau­rant­rech­nun­gen bezah­len muss/​soll: total ich­zen­triert eben, der Schrei­ber die­ser Sei­ten, der sich vor allem durch sei­ne Kau­zig­kei­ten – wie die total kon­tin­gent schei­nen­de Ableh­nung der Wor­te „Akzep­tanz“ und „Diri­gat“ (329) – auszeichnet.

Wenn nie­mand eine Bio­gra­phie über mich schreibt, tue ich es eben selbst. (177)

Jürg Hal­ter: Wir fürch­ten das Ende der Musik. Gedich­te. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 72 Seiten 

halter, wir fürchten das ende der musik

„Für sich“ steht als Wid­mung in die­sem Gedicht­band. Und das stimmt einer­seits, ande­rer­seits aber auch über­haupt nicht. Zwar ste­hen die Gedich­te erst ein­mal „für sich“ da, geben sich recht offen und direkt dem Leser preis. Aber ande­rer­seits blei­ben sie auch gera­de nicht „für sich“, denn Hal­ter geizt nicht mit inter­tex­tu­el­len Anspie­lun­gen und Ver­wei­sen. Gera­de die Musik spielt da durch­aus eine gro­ße Rol­le. Und den­noch: Man muss die­se Inter­tex­tua­li­tä­ten nicht erken­nen, man muss ihnen schon gar nicht nach­ge­hen (obwohl das durch­aus span­nend sein könn­te, das sys­te­ma­tisch zu tun), um die Lyrik Hal­ters ver­ste­hen zu kön­nen. Oder zumin­dest glau­ben zu kön­nen, etwas ver­stan­den zu haben. Denn sei­ne Gedich­te blei­ben zugäng­lich und wol­len das wohl auch sein. Oft sind sie gera­de­zu erzäh­lend, ihre Meta­phern blei­ben leicht nach­voll­zieh­bar, die Form klar und über­sicht­lich. Manch­mal wirkt das mit dem locke­ren Sprach­duk­tus, dem leich­ten Ton mir aber auch etwas zu plät­schernd, zu pro­sa-nah, zu wenig form­be­stimmt für Lyrik.
Doch gibt es durch­aus schö­ne und span­nen­de Text in die­sem Band. Da zeigt sich nicht nur die Ver­wur­ze­lung Hal­ters und Tra­di­ti­on und Inter­tex­tua­li­tät (sei­ne Gedich­te schöp­fen viel aus oder mit der Kul­tur und ihrer Geschich­te), da ist auch ein anre­gen­des Spiel mit sich selbst immer wie­der zu beob­ach­ten, die Selbst­re­flex­ti­on des Lyri­kers und des Gedich­tes zu erken­nen. Inter­es­sant ist auch das immer wie­der auf­tau­chen­de Zeit­kon­zept – ein sehr vages Kon­zept von Zeit, das nicht auf das Tren­nen­de von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart abzielt, son­dern auf den Über­gang, die flie­ßen­de Ent­wick­lung: Vom Holo­zän bis zum Jetzt und dem Augen­blick sind ein­zel­nen Momen­te kaum zu fas­sen und zu bestimmen: 

Etwas hat begon­nen, dau­ert an oder ist vor­über. (25)

Nicht alles ist sprach­lich oder inhalt­lich sehr stark, gera­de im Abschnitt IV („O, auf­ge­klär­tes Leben, unse­re Dro­ge!“ über­schrie­ben) schei­nen mir eini­ge schwa­che Tex­te den Weg in den Druck gefun­den zu haben. Die Digi­tal-Skep­sis in „Hyp­no­se“ ist zum Bei­spiel ziem­lich ober­fläch­lich und bil­lig. Dazwi­schen gibt es aber immmer wie­der schö­ne Momen­te, die das Lesen den­noch lesens­wert mache, wie etwa die „Eine sich stets wie­der­ho­len­de Szene“:

Die sich lee­ren­den Straßen
an einem Sommerabend
in einer klei­nen Stadt.
Das Rück­licht des letz­ten Busses,
ein leich­ter Wind, der geht.
Im Ohr ein Lied über
das Ende einer Freundschaft. 

außer­dem noch:

  • Jost Amman & Hans Sachs: Das Stän­de­buch (1568).
  • Geor­ges Duby: Die Zeit der Kathedralen. 

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