Albert Oster­mai­er: Schwar­ze Son­ne schei­ne. Ber­lin: Suhr­kamp 2012. 288 Sei­ten

ostermaier, schwarze sonne scheineEin schö­ner Text über die Zeit zwi­schen Leben und Ster­ben, der vor allem von der rei­chen Welt der Gedan­ken lebt. Hand­lung gibt es wenig, dafür viel Über­le­gen, viel Erin­nern und viel Selbst­be­fra­gung: Oster­mai­ers Roman lebt von sei­nen Aus- und Abschwei­fun­gen. Das klingt jetzt tro­cke­ner, als es wirk­lich ist. Denn für den Prot­ago­nis­ten, der auf ver­schlun­ge­nen Wegen die Dia­gno­se einer wahr­schein­lich töd­li­chen Infek­ti­ons­krank­heit erhält (es sei denn, er unter­zieht sich einer sehr obsku­ren The­ra­pie) geht es eben wirk­lich um Leben um Tod, um sein bis­he­ri­ges Leben, sein momen­ta­nes und dar­um, wie er in den Tod geht oder mit ihm umgeht oder ihm viel­leicht enflieht. Dass sich dann her­aus­stellt, dass die Ärz­tin eine Schar­la­ta­nin ist, von Krank­heit nichts zu spü­ren ist und alles nur als eine Art Ver­schwö­rung scheint, ist dann fast ent­täu­schend – denn der Text, der sehr durch sei­ne bewuss­te Sprach­lich­keit lebt, hät­te so einen etwas scha­blo­nen­haf­ten Plot viel­leicht gar nicht benö­tigt

Ich hat­te nicht ver­stan­den, dass alles zu Lite­ra­tur wer­den konn­te, und gedacht, alles sei nichts, das nicht Lite­ra­tur sei. (30)

Die Zeit geriet mir aus dem Den­ken, dem Füh­len, dem Schau­en, ich konn­te nicht auf­hö­ren zu den­ken, konn­te mich nicht ablen­ken, nicht ver­ges­sen. (163)

Tho­mas Sche­s­tag: Lesen – Spre­chen – Schrei­ben (Krit­zeln). Ber­lin: Matthes & Seitz 2014. 142 Sei­ten

schestag, lesenEin wun­der­ba­res klei­nes Bänd­chen, das zeigt, wie groß­ar­tig post­mo­dern-dekon­struk­ti­vis­ti­sche Ana­ly­se sein kann. Dazu gehört auch der ent­spre­chen­de post­mo­der­ne Stil – auf den muss man sich ein­las­sen (wol­len), sonst wird das kei­ne Spaß. Drei Essays ver­sam­melt Sche­s­tag hier: Zu einem Gedicht von Paul Celan, zu Bau­de­lai­re und Poe und ihrem (Übersetzer-)Verhältnis und zu einem Dro­gen­ver­such Wal­ter Ben­ja­mins, der für das „Krit­zeln“ sorgt. Beein­druckt hat mich vor allem die Unter­su­chung von Paul Cel­ans Gedicht. Das ist kurz und schein­bar recht unpro­ble­ma­tisch:

Jetzt, da die Bet­sche­mel bren­nen,
eß ich das Buch
mit allen
Insi­gni­en.

An die­sen weni­gen Zei­len und Wör­tern exer­ziert Sche­s­tag die dekon­struk­ti­vis­ti­sche Metho­de (falls man das so nen­nen kann …) gera­de­zu exem­pla­risch durch – und schöpft dar­aus erstaun­li­che Ein­sich­ten. Da gibt es eini­ge ver­blüf­fen­de, über­ra­schen­de, aber durch­aus ein­leuch­ten­de Ein­bli­cke in den wei­ten Bedeu­tungs­raum, den die­se vier Zei­len mit den gera­de mal 12 Wör­tern eröff­nen (kön­nen) … Man muss dem Autor da sicher­lich nicht in jede Ver­äs­te­lung fol­gen – aber es ist eine intel­lek­tu­el­le Freu­de, es zu tun. Der zwei­te Essay zu Bau­de­lai­re und Poe bie­tet inter­es­san­te Über­le­gung zur Inter­tex­tua­li­tät, vor allem zum „Pau­sen“ (im Sin­ne von Durch­pau­sen, von Ab-Schrei­ben etc) als pri­mä­ren (?) Schreib­akt. Inter­es­sant fand ich hier vor allem die all­ge­mei­ne­ren Über­le­gun­gen, weni­ger (für mich) die Aus­füh­run­gen zum kon­kre­ten Ver­hält­nis von Bau­de­lai­re und Poe (dafür ken­ne ich bei­de zu wenig).

Johan­na Sini­sa­lo: Fin­ni­sches Feu­er. Stutt­gart: Tro­pen 2014. 318 Sei­ten

sinisalo, finnisches feuerFin­ni­sches Feu­er ist eine sehr unter­halt­sa­me Lek­tü­re. Dabei ist es eigent­lich eine Dys­to­pie: Die Geschlech­ter­kli­schees wur­den inzwi­schen noch wei­ter ver­ab­so­lu­tiert und sogar in gewis­ser Wei­se „ver­staat­licht“. Im Namen der gesell­schaft­li­chen Gesund­heit, die zur Tyran­nis wur­de (und natür­lich die Frau­en noch wei­ter ent­mün­digt als die Män­ner) sind die Frau­en zu „Eloi“ domes­ti­ziert wor­den. Chil­li – das „Feu­er“ – bzw. Cap­sai­cin ist in die­ser Gesund­heits­dik­ta­tur zwar auch schon ver­bo­ten, aber als ein­zi­ge Dro­ge, als ein­zi­ges Sucht­mit­tel über­haupt noch halb­wegs zu bekom­men. In einer schö­nen Mon­ta­ge aus Geset­zen, Anwei­sun­gen, Mär­chen, Brie­fen an die ver­schwun­de­ne Schwes­ter und der Erzäh­lung Van­nas und Jares hat Sini­sa­lo dar­aus eine unter­halt­sa­me und inter­es­san­te Para­bel des Bezie­hungs­ka­pi­ta­lis­mus geschrie­ben, in der Chi­li als eine Art Reli­gio oder Befrei­ungs­theo­lo­gie dient – trotz des gan­zen Feu­ers ein sehr coo­les Buch!

Manch­mal braucht man nur eine Grup­pe von Leu­ten, die laut und ein­fluss­reich genug ist, um die Welt so zu ver­än­dern, wie die Mit­glie­der die­ser Grup­pe es wol­len. Die Grup­pe muss nicht beson­ders groß sein. Es genügt, wenn eini­ge Leu­te ihre eige­nen per­sön­li­chen Vor­lie­ben zur ein­zi­gen Wahr­heit erklä­ren und mit ihrer Laut­stär­ke den Ein­druck ent­ste­hen las­sen, dass hin­ter ihnen Mas­sen von Ver­ges­se­nen und Miss­ach­te­ten ste­hen. (239)

Kurt Oes­ter­le: Der Wunsch­bru­der. Tübin­gen: Köp­fer und Mey­er 2014. 533 Sei­ten

oesterle, wunschbruder

Der Wunsch­bru­der ist ein (über­mä­ßig) lan­ges Buch vol­ler Vol­ten. Dabei ist die Geschich­te eigent­lich gar nicht über­mä­ßig kom­pli­ziert: Es geht um Max Stoll­stein, ein wohl behü­te­tes Ein­zel­kind im beschau­li­chen dörf­li­chen Nach­kriegs-Baden-Würt­tem­berg. Weil er eben das ein­zi­ge Kind sei­ner Eltern – der Vater ist Schrei­ner – bleibt, soll/​darf er die vol­le Ladung des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Bil­dung mit all ihren Auf­stiegs-Impli­ka­tio­nen genie­ßen. Zur Geschich­te gehört aber auch Wen­zel, Kind einer zer­rüt­te­ten Aus­sied­ler­fa­mi­lie, der dann eben Wunsch­bru­der – und bei­na­he Adop­tiv­bru­der – wird. Und dann geht es noch wei­ter und wei­ter – das alles wird erzählt in der Rück­schau des älte­ren Max, der auf ein­mal wie­der Wen­zel begeg­net. Und da kom­men sie eben in immer neu­en Schü­ben, die Vol­ten in die Ver­gan­gen­heit, in die Erin­ne­rung des Ich-Erzäh­lers (der von (fast) kei­nen Erin­ne­rungs­pro­ble­men getrübt ist). Dem­entspre­chend wird eigent­lich alles nur berich­tet, fast nichts pas­siert, alles – qua­si das gan­ze Leben – gibt es nur im Rück­blick, im Erin­nern: Ein Leben in der Ver­gan­gen­heit. Nach der Aus­trei­bung aus der Hei­mat ist es das Wüh­len in der Geschich­te, das an ihre Stel­le tritt. Erzäh­le­risch (und auch sprach­lich) fand ich das aber recht uner­gie­big – nur auschwei­fend, umständ­lich, hyper­ge­nau, alles wird immer bis ins Letz­te aus­er­zählt und wie­der und wie­der durch­de­kli­niert und vor­ge­kaut. Das ent­mü­digt den Leser in gewis­ser Wei­se, lässt ihm kei­ne Arbeit, kei­ne Vor­stel­lung mehr. Das liegt aber weder am Umfang noch an der Detail­ver­ses­sen­heit, son­dern an der man­geln­den Poe­sie der Spra­che – wie es mit ähn­li­chen The­men bes­ser geht, zeigt Peter Kurz­eck.

Du kennst eben den wah­ren Wert dei­ner Geschich­te nicht, den Erzähl- und Erfah­rungs­wert, gewis­ser­ma­ßen ihren Gold­ge­ahlt – aber die meis­ten Men­schen heut­zu­ta­ge ken­nen die­sen Wert ihrer Geschich­te nicht und wis­sen ihn dar­um auch nicht zu schät­zen; einen Wert ver­mu­ten sie nur in den Geschich­ten von deren: denen, die jeden Tag öffent­lich vor­ge­führt wer­den, im Netz, im Fern­se­hen, in der Pres­se … (227)

Wenn ich ein Gedicht aus­wen­dig konn­te, dann hat­te ich es besiegt und beherrsch­te es. Die­ses Gedicht [Cel­ans Todes­fu­ge], das spür­te ich gleich, woll­te nicht beherrscht wer­den und wies mich ab wie kein zwei­tes. Nicht ein ein­zi­ges Gefühl, das ich kann­te, war dar­in ent­hal­ten. (484)

Die­ter Wes­ter­hoff: Ein schö­ner Tag. Rein­bek: Rowohlt 1969. 151 Sei­ten

wellershoff, tag
Der Klas­si­ker des „Neu­en Rea­lis­mus“. Und trotz­dem konn­te mich das 1966 erst­mals erschie­nen Ein schö­ner Tagnicht so recht fes­seln oder begeis­tern. Es gibt zwei­fel­los gro­ße Momen­te, in denen Wel­lers­hoff zeigt, wie genau er beob­ach­tet hat und wie sorg­fäl­tig er beschreibt, sei­ne Figu­ren wahr­neh­men und erken­nen lässt. Im Gedächt­nis geblie­ben ist mir etwa die Epi­so­de im ach­ten Kapi­tel, in dem Gün­ther einer Frau ins Frei­bad folgt und ver­sucht, sich ihr anzu­nä­hern – was ein­ser­seits gelingt, ande­rer­seits total in die Hose geht. Da steckt wirk­lich unheim­lich viel Rea­li­tät drin, das ist leicht zu erken­nen und nach­zu­voll­zie­hen. Unklar bleibt mir dage­gen noch der eigent­li­che Kern des Romans: Will Wel­lers­hoff hier nur die Dys­funk­tio­na­li­tät des Modells (Kern-)Familie vor­füh­ren? Oder will er dem Leser mehr sagen? Das hängt viel­leicht auch damit zusam­men, dass nur Miss­lin­gen gezeigt wird, dass nur nega­ti­ve Ele­men­te, schei­tern­de Lebens­ent­wür­fe und Bezie­hungs­un­fä­hig­kei­ten, gezeigt wer­den, posi­ti­ve Ideen oder Ent­wick­lun­gen dage­gen eigent­lich über­haupt nicht vor­kom­men: Die (gesell­schaft­li­che und ästhe­ti­sche) Kri­tik ist also klar – aber was soll an die Stel­le der defi­zi­tä­ren Gegen­wart und ihrer Rea­li­tät tre­ten?

Tho­mas Gla­vi­nic: Das bin doch ich. München: Deut­scher Taschen­buch Ver­lag 2010. 238 Sei­ten.

glavinic, ichDas ist ein sehr lus­tig­ses, amü­san­tes klei­nes Büch­lein. Gla­vi­nic taucht hier gleich selbst als Erzäh­ler, Haupt­fi­gur und Autor auf, als Schrif­stel­ler, der zwi­schen (mäßi­gem) Erfolg und Schei­tern tau­melt oder hängt, sich zugleich auch noch mit sei­ner Hypo­chon­drie und dem Fami­li­en­le­ben mit Klein­kind her­um­schla­gen muss. Dazu noch etwas Lite­ra­tur­be­triebs­be­schrei­bung der Wie­ner Vari­an­te, etwas gro­tes­ke Begeg­nun­gen im Kul­tur- und Medi­en­we­sen sowie die Freund­schaft mit Dani­el Kehl­mann, des­sen Buch gera­de alle Erfolgs­gren­zen über­schrei­tet – und fer­tig ist die Mischung aus Gro­tes­ke, Sati­re und lako­ni­scher Selbst­be­ob­ach­tung, die beim Lesen viel Spaß macht …

Mar­le­ne Stre­eru­witz als Nelia Fehn: Die Rei­se einer jun­gen Anar­chis­tin in Grie­chen­land. Frank­furt: Fischer 2014. 188 Sei­ten.

fehn, reise

Manch­mal schaut über­le­ben eben nicht schön aus, und Hel­den sind immer schon tot, wenn sie Hel­den genannt wer­den. (33)

Sehr posi­tiv sind weder das Buch noch sei­ne „Hel­din“, die Autorin Nelia Fehn. Die kennt man schon aus Stree­u­witz‘ Nach­fah­ren., in dem sie wegen eben die­ses Buches oder Tex­tes, der Rei­se einer jun­gen Anar­chis­tin in Grie­chen­land nach Frank­furt zur Buch­preis­ver­lei­hung kommt. Eigent­lich ist es auch ein recht selt­sa­mes Büch­lein – und nicht nur wegen der Autoren­fik­ti­on, die es auf ganz spe­zi­el­le Wei­se in das Stre­eru­witz-Werk ein­glie­dert (ähn­li­ches hat sie ja schon bei Lisa’s Welt unter­nom­men) -, son­dern auch in sei­ner gan­zen Gestalt. Inter­es­sant wird es näm­lich eben nur durch die Ver­knüp­fung im Stre­eru­witz-Werk-Kon­text. Für sich ist das sprach­lich mäßig span­nend, inhalt­lich fand ich es auch nur so halb inter­es­sant: der „Kampf“ mit/​gegen die Macht, die unsicht­ba­ren polititischen/​exekutiven Mäch­te des Staa­tes und des Zufalls, der immer wie­der das Zusam­men­tref­fen der bei­den Lie­ben­den in Athen ver­hin­dert bzw. ver­zö­gert und erschwert – das ist schnell durch­schaut und ver­mag dann nur noch mäßig zu fas­zi­nie­ren. Aller­dings ist der Text ja auch nicht über­mä­ßig lang …

Es war nur eine die­ser Lügen. Es war eine die­ser Lügen, von denen ohne­hin alle wuss­ten, dass sie Lügen waren. Man muss­te nur das Klein­ge­druck­te durch­stu­die­ren, um zu einer gewis­sen Wahr­heit zu gelan­gen, und man durf­te kein Ver­trau­en haben. […] Am Ende kos­te­ten alle die­se Über­grif­fe die Lie­be. Mir war elend, und ich hat­te Angst. (23f.)

außer­dem noch:

  • Stef­fen Popp: Dickicht mit Reden und Augen. Ber­lin: kook­books 2013.
  • Edit. Papier für neue Tex­te. #65 (2014)
  • Gün­ter Her­bur­ger: Ven­ti­le. 1966
  • Judith C. Vogt & Micha­el Kuhn (Hrsg.): Karl. Geschich­ten eines Gro­ßen. Aachen: Ammi­a­nus 2014.
  • Phil­ipp Thei­sohn: Lite­ra­ri­sches Eigen­tum. Zur Ethik geis­ti­ger Arbeit im digi­ta­len Zeit­al­ter. Stutt­gart: Krö­ner 2012 (Krö­ner Taschen­buch 510).