Borsten und räuberisch sind meine spezialen
Steffen Popp, 118, 65
Verstärker auf Waldpfaden, Käfer spiegelns
Hase-Fuchs-Reh, selbstrufend Herr und Frau
Kuckuck. Der Mensch, idealisch, sei immer
dem Walde zu, singend. Beeren‑, Pilzkörbe
neben sich an dem glucksenden Bache sitzen
gleichsam zaubrisch. Nicht achte Zwergen-
werk niedrig und ‑horte in Germaniens Adern.
Nebst Dispo, Glatzen, Spuk, mag sein, auch
ächtes Gold … Denn wer hat nachgeforscht.
Waldwege
Schlagwort: steffen popp
Ein schöner Text über die Zeit zwischen Leben und Sterben, der vor allem von der reichen Welt der Gedanken lebt. Handlung gibt es wenig, dafür viel Überlegen, viel Erinnern und viel Selbstbefragung: Ostermaiers Roman lebt von seinen Aus- und Abschweifungen. Das klingt jetzt trockener, als es wirklich ist. Denn für den Protagonisten, der auf verschlungenen Wegen die Diagnose einer wahrscheinlich tödlichen Infektionskrankheit erhält (es sei denn, er unterzieht sich einer sehr obskuren Therapie) geht es eben wirklich um Leben um Tod, um sein bisheriges Leben, sein momentanes und darum, wie er in den Tod geht oder mit ihm umgeht oder ihm vielleicht enflieht. Dass sich dann herausstellt, dass die Ärztin eine Scharlatanin ist, von Krankheit nichts zu spüren ist und alles nur als eine Art Verschwörung scheint, ist dann fast enttäuschend — denn der Text, der sehr durch seine bewusste Sprachlichkeit lebt, hätte so einen etwas schablonenhaften Plot vielleicht gar nicht benötigt
Ich hatte nicht verstanden, dass alles zu Literatur werden konnte, und gedacht, alles sei nichts, das nicht Literatur sei. (30)
Die Zeit geriet mir aus dem Denken, dem Fühlen, dem Schauen, ich konnte nicht aufhören zu denken, konnte mich nicht ablenken, nicht vergessen. (163)
Ein wunderbares kleines Bändchen, das zeigt, wie großartig postmodern-dekonstruktivistische Analyse sein kann. Dazu gehört auch der entsprechende postmoderne Stil — auf den muss man sich einlassen (wollen), sonst wird das keine Spaß. Drei Essays versammelt Schestag hier: Zu einem Gedicht von Paul Celan, zu Baudelaire und Poe und ihrem (Übersetzer-)Verhältnis und zu einem Drogenversuch Walter Benjamins, der für das “Kritzeln” sorgt. Beeindruckt hat mich vor allem die Untersuchung von Paul Celans Gedicht. Das ist kurz und scheinbar recht unproblematisch:
Jetzt, da die Betschemel brennen,
eß ich das Buch
mit allen
Insignien.
An diesen wenigen Zeilen und Wörtern exerziert Schestag die dekonstruktivistische Methode (falls man das so nennen kann …) geradezu exemplarisch durch — und schöpft daraus erstaunliche Einsichten. Da gibt es einige verblüffende, überraschende, aber durchaus einleuchtende Einblicke in den weiten Bedeutungsraum, den diese vier Zeilen mit den gerade mal 12 Wörtern eröffnen (können) … Man muss dem Autor da sicherlich nicht in jede Verästelung folgen — aber es ist eine intellektuelle Freude, es zu tun. Der zweite Essay zu Baudelaire und Poe bietet interessante Überlegung zur Intertextualität, vor allem zum “Pausen” (im Sinne von Durchpausen, von Ab-Schreiben etc) als primären (?) Schreibakt. Interessant fand ich hier vor allem die allgemeineren Überlegungen, weniger (für mich) die Ausführungen zum konkreten Verhältnis von Baudelaire und Poe (dafür kenne ich beide zu wenig).
Finnisches Feuer ist eine sehr unterhaltsame Lektüre. Dabei ist es eigentlich eine Dystopie: Die Geschlechterklischees wurden inzwischen noch weiter verabsolutiert und sogar in gewisser Weise „verstaatlicht“. Im Namen der gesellschaftlichen Gesundheit, die zur Tyrannis wurde (und natürlich die Frauen noch weiter entmündigt als die Männer) sind die Frauen zu “Eloi” domestiziert worden. Chilli — das “Feuer” — bzw. Capsaicin ist in dieser Gesundheitsdiktatur zwar auch schon verboten, aber als einzige Droge, als einziges Suchtmittel überhaupt noch halbwegs zu bekommen. In einer schönen Montage aus Gesetzen, Anweisungen, Märchen, Briefen an die verschwundene Schwester und der Erzählung Vannas und Jares hat Sinisalo daraus eine unterhaltsame und interessante Parabel des Beziehungskapitalismus geschrieben, in der Chili als eine Art Religio oder Befreiungstheologie dient — trotz des ganzen Feuers ein sehr cooles Buch!
Manchmal braucht man nur eine Gruppe von Leuten, die laut und einflussreich genug ist, um die Welt so zu verändern, wie die Mitglieder dieser Gruppe es wollen. Die Gruppe muss nicht besonders groß sein. Es genügt, wenn einige Leute ihre eigenen persönlichen Vorlieben zur einzigen Wahrheit erklären und mit ihrer Lautstärke den Eindruck entstehen lassen, dass hinter ihnen Massen von Vergessenen und Missachteten stehen. (239)
Der Wunschbruder ist ein (übermäßig) langes Buch voller Volten. Dabei ist die Geschichte eigentlich gar nicht übermäßig kompliziert: Es geht um Max Stollstein, ein wohl behütetes Einzelkind im beschaulichen dörflichen Nachkriegs-Baden-Württemberg. Weil er eben das einzige Kind seiner Eltern — der Vater ist Schreiner — bleibt, soll/darf er die volle Ladung des bundesrepublikanischen Bildung mit all ihren Aufstiegs-Implikationen genießen. Zur Geschichte gehört aber auch Wenzel, Kind einer zerrütteten Aussiedlerfamilie, der dann eben Wunschbruder — und beinahe Adoptivbruder — wird. Und dann geht es noch weiter und weiter — das alles wird erzählt in der Rückschau des älteren Max, der auf einmal wieder Wenzel begegnet. Und da kommen sie eben in immer neuen Schüben, die Volten in die Vergangenheit, in die Erinnerung des Ich-Erzählers (der von (fast) keinen Erinnerungsproblemen getrübt ist). Dementsprechend wird eigentlich alles nur berichtet, fast nichts passiert, alles — quasi das ganze Leben — gibt es nur im Rückblick, im Erinnern: Ein Leben in der Vergangenheit. Nach der Austreibung aus der Heimat ist es das Wühlen in der Geschichte, das an ihre Stelle tritt. Erzählerisch (und auch sprachlich) fand ich das aber recht unergiebig — nur auschweifend, umständlich, hypergenau, alles wird immer bis ins Letzte auserzählt und wieder und wieder durchdekliniert und vorgekaut. Das entmüdigt den Leser in gewisser Weise, lässt ihm keine Arbeit, keine Vorstellung mehr. Das liegt aber weder am Umfang noch an der Detailversessenheit, sondern an der mangelnden Poesie der Sprache — wie es mit ähnlichen Themen besser geht, zeigt Peter Kurzeck.
Du kennst eben den wahren Wert deiner Geschichte nicht, den Erzähl- und Erfahrungswert, gewissermaßen ihren Goldgeahlt – aber die meisten Menschen heutzutage kennen diesen Wert ihrer Geschichte nicht und wissen ihn darum auch nicht zu schätzen; einen Wert vermuten sie nur in den Geschichten von deren: denen, die jeden Tag öffentlich vorgeführt werden, im Netz, im Fernsehen, in der Presse … (227)
Wenn ich ein Gedicht auswendig konnte, dann hatte ich es besiegt und beherrschte es. Dieses Gedicht [Celans Todesfuge], das spürte ich gleich, wollte nicht beherrscht werden und wies mich ab wie kein zweites. Nicht ein einziges Gefühl, das ich kannte, war darin enthalten. (484)
Der Klassiker des “Neuen Realismus”. Und trotzdem konnte mich das 1966 erstmals erschienen Ein schöner Tagnicht so recht fesseln oder begeistern. Es gibt zweifellos große Momente, in denen Wellershoff zeigt, wie genau er beobachtet hat und wie sorgfältig er beschreibt, seine Figuren wahrnehmen und erkennen lässt. Im Gedächtnis geblieben ist mir etwa die Episode im achten Kapitel, in dem Günther einer Frau ins Freibad folgt und versucht, sich ihr anzunähern — was einserseits gelingt, andererseits total in die Hose geht. Da steckt wirklich unheimlich viel Realität drin, das ist leicht zu erkennen und nachzuvollziehen. Unklar bleibt mir dagegen noch der eigentliche Kern des Romans: Will Wellershoff hier nur die Dysfunktionalität des Modells (Kern-)Familie vorführen? Oder will er dem Leser mehr sagen? Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass nur Misslingen gezeigt wird, dass nur negative Elemente, scheiternde Lebensentwürfe und Beziehungsunfähigkeiten, gezeigt werden, positive Ideen oder Entwicklungen dagegen eigentlich überhaupt nicht vorkommen: Die (gesellschaftliche und ästhetische) Kritik ist also klar — aber was soll an die Stelle der defizitären Gegenwart und ihrer Realität treten?
Das ist ein sehr lustigses, amüsantes kleines Büchlein. Glavinic taucht hier gleich selbst als Erzähler, Hauptfigur und Autor auf, als Schrifsteller, der zwischen (mäßigem) Erfolg und Scheitern taumelt oder hängt, sich zugleich auch noch mit seiner Hypochondrie und dem Familienleben mit Kleinkind herumschlagen muss. Dazu noch etwas Literaturbetriebsbeschreibung der Wiener Variante, etwas groteske Begegnungen im Kultur- und Medienwesen sowie die Freundschaft mit Daniel Kehlmann, dessen Buch gerade alle Erfolgsgrenzen überschreitet — und fertig ist die Mischung aus Groteske, Satire und lakonischer Selbstbeobachtung, die beim Lesen viel Spaß macht …
Manchmal schaut überleben eben nicht schön aus, und Helden sind immer schon tot, wenn sie Helden genannt werden. (33)
Sehr positiv sind weder das Buch noch seine “Heldin”, die Autorin Nelia Fehn. Die kennt man schon aus Streeuwitz’ Nachfahren., in dem sie wegen eben dieses Buches oder Textes, der Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland nach Frankfurt zur Buchpreisverleihung kommt. Eigentlich ist es auch ein recht seltsames Büchlein — und nicht nur wegen der Autorenfiktion, die es auf ganz spezielle Weise in das Streeruwitz-Werk eingliedert (ähnliches hat sie ja schon bei Lisa’s Welt unternommen) -, sondern auch in seiner ganzen Gestalt. Interessant wird es nämlich eben nur durch die Verknüpfung im Streeruwitz-Werk-Kontext. Für sich ist das sprachlich mäßig spannend, inhaltlich fand ich es auch nur so halb interessant: der „Kampf“ mit/gegen die Macht, die unsichtbaren polititischen/exekutiven Mächte des Staates und des Zufalls, der immer wieder das Zusammentreffen der beiden Liebenden in Athen verhindert bzw. verzögert und erschwert — das ist schnell durchschaut und vermag dann nur noch mäßig zu faszinieren. Allerdings ist der Text ja auch nicht übermäßig lang …
Es war nur eine dieser Lügen. Es war eine dieser Lügen, von denen ohnehin alle wussten, dass sie Lügen waren. Man musste nur das Kleingedruckte durchstudieren, um zu einer gewissen Wahrheit zu gelangen, und man durfte kein Vertrauen haben. […] Am Ende kosteten alle diese Übergriffe die Liebe. Mir war elend, und ich hatte Angst. (23f.)
außerdem noch:
- Steffen Popp: Dickicht mit Reden und Augen. Berlin: kookbooks 2013.
- Edit. Papier für neue Texte. #65 (2014)
- Günter Herburger: Ventile. 1966
- Judith C. Vogt & Michael Kuhn (Hrsg.): Karl. Geschichten eines Großen. Aachen: Ammianus 2014.
- Philipp Theisohn: Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Stuttgart: Kröner 2012 (Kröner Taschenbuch 510).
Ins Netz gegangen am 8.4.:
- [toread] Verkehr — Aufgesattelt und … ausgebremst — Schönes Feature von Carolin Nokel bei Deutschlandradio Kultur über Fahradfahren und Verkehr in der Stadt
Radfahren ist gesund, verursacht keine Abgase und keinen Lärm. Doch Autofahrer dominieren den Verkehr, die Autolobby die Verkehrs- und Steuerpolitik. Fahrradfreundlichkeit zieht in den meisten Kommunen und Großstädten nur im Schneckentempo ein.
- Lokal? Egal! | JakBlog — Christian Jakubetz überlegt, was die momentanen Veränderungen auf dem Lokaljournalismusmarkt für Gründe und Auswirkungen haben könnten:
Tatsächlich gibt es keine Mediengattung, bei der Anspruch, Wahrnehmung und Wirklichkeit so weit auseinander klaffen wie im Lokalen. Niemand käme theoretisch auf die Idee, Lokaljournalismus für überflüssig erklären zu wollen. […]
Und was, wenn sich irgendwann herausstellt, dass eine junge Generation, die in einer global-digitalen Welt aufgewachsen i… - (500) http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/zeitgenossen/swr2-zeitgenossen-steffen-popp-huchel-preistraeger-2014/-/id=660664/did=12929790/nid=660664/3r4u20/index.html — »Wenn man etwas erreichen will im Gedicht, nützt es nicht, es auszusprechen.« (Steffen Popp)
- Kriminologin über den „Islam-Rabatt“: „Ehrenmorde werden härter bestraft“ — taz.deKönnen muslimische Täter vor deutschen Gerichten mit Nachsicht rechnen? Eine Krimonologin im Interview
- Research Fragments: Visualizing the seventeenth century — Die deutsche Buchproduktion im 17. Jahrhundert (wie sie sich in den momentan vorhandenen VD17-Daten spiegelt): Mit schöner Delle im Dreißigjährigen Krieg
- [toread] My Night in Solitary — NYTimes.com -
If an inmate acts up, we slam a steel door on him. Ad Seg allows a prison to run more efficiently for a period of time, but by placing a difficult offender in isolation you have not solved the problem — only delayed or more likely exacerbated it, not only for the prison, but ultimately for the public. Our job in corrections is to protect the community, not to release people who are worse than they were when they came in.
- Überlegungen zur gesellschaftlichen Relevanz vasallitischer Beziehungen in der Karolingerzeit | Mittelalter —
- 22. Flache Geschichte | Geschichte wird gemacht -
Was solcherart produziert wird, ist eine flache Geschichte, die keine Winkel und Kanten hat, keinen Widerstand bietet, sondern problemlos unseren Erwartungen unterworfen wird. Geschichte wird zweidimensional. Das ist in etwa so, als würden wir die Vielfalt einer Landschaft mit der Landkarte verwechseln, die wir von ihr angefertigt haben. Flache Geschichte ist die bequeme Möglichkeit, sich von all den Kompliziertheiten und Komplexitäten zu verabschieden, die eine intensive (und damit …
- Hamburger Hedonisten enttarnen sich: „Ein reines Schauspiel“ — taz.de — Der “Privatdozent des Hedonistischen Intituts für angewandte Populismusforschung” in Hamburg über Populismus und die Leichtigkeit, Medien zu manipulieren:
Natürlich ist es kein Grund zu triumphieren, zu sehen, wie weit sich der Journalismus von ursprünglichen Idealen entfernt hat. Aber genau das wollten wir ja auch erreichen, mit einer hanebüchenen Geschichte und abstrusen Falschbehauptungen in die Medien zu kommen. Es ist natürlich auch ein Spiel, das Spaß macht, wenn man sich mit e…
- Bayreuther Manifest zu Recht und Moral — Die Beyreuther Juristen (?) schreiben ein Manifest zum Zusammenhang von Recht und Moral und den notwendigen und gewünschten Verhaltensweisen einiger gesellschaftlicher Akteure
Wenn man aber weder verrechtlichen noch moralisieren will, muss man die Orientierung der Moral am Recht und die moralische Verbindlichkeit des Rechts stärken. Recht und Moral betreffen unterschiedliche Geltungssphären, die nicht fusioniert werden dürfen, nämlich die demokratische und die autonome Gesetzgebung. …