Ann Cotten liest von unerwiederter Liebe, Prinzipienbastelei, Selbstschau und Ekel — und ein Text wie “Der schaudernde Fächer”, in dem Wendungen wie “indulgierte Idiosynkrasien” vorkommmen, verheißt mir Lesevergnügen … Zum Anschauen/Anhören muss man sich leider zur “Zeit” hinüber begeben, das Video lässt sich nicht einbinden: klick.
Jahr: 2013 Seite 4 von 31
David Gilmour, Wish you were here (unplugged, live)
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Neuer Tee! Endlich ist es mal wieder so weit, ein großes Paket von Kolodziej & Lieder konnte ich heute bei der Post abholen. Und lauter feine Dinge sind da drin, so dass ich kaum weiß, womit ich anfangen soll ;-)
Also war heute der “Kabuse Diamond Leaf” aus der Präfektur Kagoshima in der südlichsten Spitze von Japan dran. Das ist grüner Tee, der ganz schick in einer luftdicht versiegelten Dose verkauft wird. Der Name — Kabuse — weist schon darauf hin: Das ist ein Tee, der im Anbau beschattet (Halbschatten) wird. Und diese Variante wird noch dazu — so verspricht die Werbung — besonders selektiv und auch vergleichsweise früh, nämlich in der ersten Aprilhälfte, geerntet.
Unvergessliches Aroma hat der Händler mir versprochen — und das stimmt. Das ist einer dieser großartigen japanischen Tees, die ganz unscheinbar daherkommen, aber raffiniert und tiefgründig sind. Schon die feinen grünen Blätte verströmen aus der Dose einen intensiven fruchtigen Duft, der die Spannung auf die Tasse noch erhöht. Knapp 60 Sekunden später ist klar: Der Tee ist wirklich so lecker, wie er riecht. Der erste Aufguss bei ca. 65 °C, wie es sich gehört, in der Seitengriffkanne, durfte eine knappe Minute ziehen und bringt so eine helle Tasse, die aber stark duftet, hervor. Dabei — und das ist ja fast immer das Zeichen besonders guten Tees — drängt sich kein einzelnes Aroma hervor. Stattdessen zeigt der Kabuse sich seines Namens wirklich würdig: Diamantenqualität sozusagen, von hoher Reinheit und Ebenmäßigkeit. Die folgenden Aufgüsse sind — bei wesentlich kürzeren Ziehzeiten — erwartungsgemäß etwas kräftiger, dann auch robuster und handfester. Ich finde es ja immer wieder spannend, wie so ein Tee sich vom ersten zum vierten oder fünften Aufguss hin verändert, wie ein paar Sekunden mehr oder weniger einen deutlichen Unterschied machen können und manchmal sogar ein ganz neuen Tee hervorbringen. Mit den Diamantblättern des “Kabuse Diamond Leaf” werde ich sicherlich noch viel solchen Spaß haben …
Tee: Kabuse Diamond Leaf, Japan Kagoshima (Keiko)
Zubereitung: 65 °C warmes Wasser, ca. 1 flacher Teelöffel in die Seitengriffkanne, der 1. Aufguss mit 60 Sekunden, Aufgüsse 2–4 mit 15–20 Sekunden Ziehzeit.
Ins Netz gegangen am 7.11.:
- The war diaries of Dieter Finzen in both world wars: Ende — Das Tagebuch von Dieter Finzen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ist vollständig online — mit dem 23. Oktober 1940 enden die Eintragungen, und damit ist auch das Blog mit den zeitversetzten Veröffentlichungen seiner Tageseinträge zu einem Ende gekommen. Spannend ist die Lektüre trotzdem …
- Twitter / usmanm: This is a ship-shipping ship, … — total verrückt: RT @usmanm: This is a ship-shipping ship, shipping shipping ships.
- Bedeutungsverlust des „Spiegel“: Genug der Dickhodigkeit — taz.de — Daran liegt es also — die taz hat den Grund für die Misere des Spiegels gefunden:
die Anzahl der Romane, die mittlerweile von Spiegel-Redakteuren neben ihrem Job verfasst werden, korreliert auffällig mit dem Qualitätsverlust im Blatt.
- BMW i3: Carsharing bestimmt das Autofahren von morgen — SPIEGEL ONLINE — Margret Hucko interviewt für den Spiegel den Verkehrsplaner Konrad Rothfuchs, der halbwegs optimistisch ist, dass die Situation in den Städten sich in nächster Zeit doch allmählich ändern wird — nicht so sehr aus ökologischen oder ökonomischen Gründen, sondern weil Zeit und Raum knapper werden:
aber schauen Sie mal mit welcher Selbstverständlichkeit die Autos die Straßen dominieren. Es ist ja nicht nur Raum weg. Autos stellen ein großes Unsicherheitsproblem dar
[…] Die derzeit noch relativ hohe Durchschnittsgeschwindigkeit in deutschen Städten sinkt weiter kontinuierlich. Damit wird ein Umstieg oder ein Rückschritt aufs Auto eher unwahrscheinlich. Weniger der ökologische Gedanke veranlasst uns, Bus und Bahn zu nehmen. Vielmehr zählt der Faktor Zeit. […] Dem öffentlichen Nahverkehr gehört die Zukunft. - Alter Affe Männlichkeit — Mann könnte ja mal … — dieStandard.at › Alltag — Nils Pickert arbeitet sich an den Maskulinisten — hier v.a. Leon de Winter — ab (leider mal wieder aus aktuellem Anlass):
Eigentlich hat der alte Affe Männlichkeit nur Angst. Wenn er ein Mann wäre, wüsste er, dass das in Ordnung ist. Aber so wird er manchmal ziemlich fies. Dann sagt er Sachen wie “Feminismus ist hasserfüllt und verhasst – lasst ihn uns töten!” und merkt nicht einmal, wie sehr er sich damit entlarvt. Denn spätestens dann weiß man ganz genau, wie man mit ihm umzugehen hat: Gib dem Affen keinen Zucker!/
- Liegefahrräder aus Kriftel: Am Anfang ging das Licht aus — Rhein-Main — FAZ — Ein netter kleiner Bericht über HP-Verlotechnik:
„Am Anfang bekam die ganze Gemeinde mit, wenn wir Metallrahmen herstellten“, erzählt Hollants. „Die Maschine brauchte so viel Spannung, dass immer kurz das Licht ausging, wenn wir sie eingeschaltet haben.“
Eine schöne kleine Spaß-/Werbe-Guerilla-Aktion von Amanda Palmer: Aus Kurzweil, der Marke des Instruments, wird Kurt Weill — also ein ästhetisches Statement. So einfach ist das manchmal.
Der Trafikant beruht auf einer spannenden Idee: Mit Hilfe eines Protagonisten, der aus der ländlichen Region am Attersee nach Wien kommt, um dort Trafikant zu werden, erzählt Seethaler die Geschichte Österreichs/Deutschlands/Europas in den 1930er und 1940er Jahren. Die Spiegelung des kulturellen und politischen (Welt-)Geschehens (bzw. markante Punkte/Auszüge davon) in einem persönlichen Leben — das ist sicherlich der interessanteste Aspekt am Trafikant. Diese Verschränkung von Zeitgeschichte und persönlicher Biographi ist keineswegs eine neue, innovative Idee Seethalers — aber die Art, wie er das erzählerisch umsetzt, ist doch charmant und überzeugend. Das liegt auch daran, dass er gut zwischen beiden Polen balanciert — das ist in diesem Fall ja gerade das Kunststück. Dazu kommt sein starker, kräftig zupackender Stil. Und einige gute Einfälle wie zum Beispiel die geschickte Integration von Sigmund Freud als “Kapizität” und Therapeut (v.a./u.a. in Liebesnöten). Das ist auch ein schöner Schachzug des Erzählers. So werden nämlich auch Traum-Erinnerung und ‑Deutung ganz unauffällig zum Motiv im Trafikant — und Träume als Texte. Einfach schön ist, wie das nach und nach ganz sorgsam eingeführt wird … Sowieso muss man die erzählerische Sorgfalt Seethalers loben, seine Planung der Anlage der Handlung(en) — das gelingt ihm vorzüglich und macht den Trafikant zu so einer interessanten Lektüre.
„Die Leute sind ganz narrisch nach diesem Hitler und nach schlechten Nachrichten — was ja praktisch ein und dasselbe ist“, sagte Otto Trsnjek. „Jedenfalls ist das gut für das Zeitungsgeschäft — und geraucht wird sowieso immer!“ (35)
Dieses Mal in einer der besten Zeitschriften: Guy Davenport schreibt assoziationsreich über Balthus, Stephan Broser führt vor, wie man psychoanalytische die Geburt der Psychoanalyse beschreibt oder erklärt (Anna — Ananke), dazu noch einne spannende “OhrenPerformance mit LiveGuide” von Brigitte Oleschinski, “spricht ins Ohr und Sie gehen mit” betitelt. Und noch die Fortsetzung von Günter Plessows Faulkner-Übersetzung (das erste Kapitel aus “Absalom, Absalom!”) — sehr anregend und anreichernd (lustig übrigens, dass eine Zeitschrift mit dem Namen “Mütze”, was ja eigentlich so etwas wie eine Einhegung des Kopfes meint, eine absichernde Beschränkung, sich so ganz und gar der Befreiung des Denkens verschreibt und in alle Richtungen ihre Fühler ausstreckt, Grenzen ignoriert und zur Seite stößt …)
Auf diesen luftigen Text bin ich durch das 100-Seiten-Projekt des Umblättereres gestoßen. Und ich muss sagen: Es macht Spaß, diesen abseitigen Text zu lesen. Das ist ein wunderbar ernster Schabernack … Dabei lässt es De Quincey nie an Pietät und Verehrung fehlen.
Inzwischen habe ich aus einer eigenen (absolut zuverlässigen) Quelle einige Angaben erhalten, die die Aussagen […] teilweise widerlegen. Würde ich mir deshalb erlauben, die Glaubwürdigkeit dieser Herren anzuzweifeln? Keineswegs. (79)
Der kurze Text betont die abstrusen Eigenheiten und Sonderlichkeiten Kants in der Schilderung seines Tagesablaufs und seines Verfalss zum Sterben. 1827 erstmals erschienen, folgt er in einer seltsamen Mischung aus Wahrheit und Dichtung den Berichten Ehregott Andreas Wasianskis, einem Vertrauten Kants aus dessen letzten Lebensjahren. De Quincey tut dies nüchtern und empathisch, pedantisch und barock zugleich.
Die Ausgabe bei Matthes & Seitz ist außerdem auch ein schönes Buch und mir ihren reichlichen Beigaben, die die Rezeption des Textes in verschiedenen Sprachen Europas beiläufig noch vorführt und außerdem die Absurdität des in die Schädelmesserei verliebten 19. Jahrhunderts.
außerdem:
- Goethes Werther (die Fassung von 1774)
- einiges von Arno Schmidt im Arno-Schmidt-Lesebuch
Ins Netz gegangen am 3.11.:
- Facebook History of the World | CollegeHumor — großartig und ziemlich cool (auch wenn’s etwas Amerika-lastig ist): Eine kurze Geschichte der Welt im Facebook-Style
- Sibylle Berg über Kulturpessimismus — hach, Sibylle Berg hat mal wieder sehr recht — und bringt das ausgzeichnet auf den Punkt:
All die Texte, in denen wir, Jahrgang vor 1990, das Verschwinden der kulturellen Werte beweinen, sind für die Toilette geschrieben. Oder noch nicht mal dafür, wir schreiben ja online. Es ist das Jammern Sterbender, die dummerweise zwischen zwei Zeiten leben.
- Bilder im digitalen Zeitalter — Abgeschossen — Süddeutsche.de — Peter Richter denkt in der Süddeutschen über den Umgang mit dieversen Formen von Porträtfotos nach — beim Erstellen wie beim Anschauen und — willentlichen oder unwillentlichen — Verbreiten
Halbwüchsige mailen wie wild Selfies herum, Frauen wehren sich auf Revenge Porn gegen im Web kursierende freizügige Bilder von sich selbst und Hugh Grant fungiert als Mona Lisa der Mugshots. Neue digitale Bildformate zerstören unseren Ruf, setzen ganze Existenzen aufs Spiel. Das Phänomen ist nicht neu. Aber Wegschauen hilft nicht.
- Wacken-Festival nutzt Cargo-Bikes « Velophil — Nicht nur das Wacken-Festival, auch ökonomisch kalkulierende Unternehmen entdecken die Vorteile von Lastenrädern:
In großen Industrieanlagen werden Lastenräder bereits seit Jahrzehnten eingesetzt. Timo Messerschmidt von der Firma Wisag machte auf der Lastenradtagung in Hamburg deutlich, dass Unternehmer mit den Cargo-Bikes auch richtig Geld sparen.
- Edward Snowden: Ein Flüchtling, wie er im Buche steht — Politik — Süddeutsche.de — Heribert Prantl spricht in seinem Kommentar mal wieder deutliche und wahre Worte (die vermutlich an den entscheidenen Stellen aber wieder mal nicht gehört und beachtet werden werden):
Man kann die Art von Spionage, die der NSA betrieben hat und wohl immer noch betreibt, als Staatskriminalität beschreiben. Snowdens Handeln mag in den USA strafbar sein, weil er US-Gesetze verletzt hat; wirklich kriminell sind die Zustände und die Machenschaften, die er anprangert.[…] Deutschland braucht Aufklärung über die umfassenden Lauschangriffe der USA. Dieser Aufklärung ist nur mit der Hilfe von Snowden möglich. Und Aufklärung ist der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.
In Edgar Wolfrums Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrebublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart heißt es auf Seite 641:
Hinsichtlich der Anti-Systempartein am echten und linken Rand des politischen Spektrums erwiesen sich Parteienverbote der wehrhaften Demokratie als ein probates Mittel, die Republik zu konsolidieren.
Ich glaube, einen schöneren Flüchtigkeitsfehler habe ich bisher noch nicht wahrgenommen: Der “echte Rand” hat schon seine ganz eigenen Qualität (ich möchte jetzt nicht darüber spekulieren, ob — und was — uns dieser Fehler über die Einstellung oder den Standort des Verfassers verrät …).
“Revolution mit Feder und Skalpell” ist die große Ausstellung zum 200. Geburtstag von Georg Büchner untertitelt. Das ist bemerkenswert (weil momentan das Revolutionäre in Leben und Werk Büchners keine besondere Konjunktur hat …) und sonderbar, weil es die Ausstellung nicht widerspiegelt. Offenbar war die Lust nach einem griffigen Slogan aber größer als der Wunsch, dem Besucher zu signalisieren, was ihn erwartet …
Ganz Darmstadt büchnert dafür, für die Gelegenheit “seinen” Dichter zu ehren. Überall wird für ihn und vor allem die Ausstellung geworben. Auch das übrigens viel bunter, peppiger und poppiger als in den Hallen selbst — da herrscht klassische Typographie in Schwarz auf Weiß bzw. Weiß auf Schwarz vor. Sonst tun sie das ja eher nicht oder doch zumindest deutlich zurückhaltender. Sei’s drum …
Im Darmstadtium hat die veranstaltende Mathildenhöhe mit der Ausstellung Raum gefunden, Georg Büchner zu erinnern und zu vergegenwärtigen. Wobei Raum schon schwierig ist — das sind offenbar ein paar Ecken, die bisher ungenutzt waren, verwinkelt und verschachtelt — was der Ausstellung nur mäßig guttut, Übersicht oder logische Abläufe oder auch bloße Entwicklungen gibt es hier wenig.
Was gibt es aber in der Ausstellung zu erfahren und zu sehen? Zuerst mal gibt es unheimlich viel zu sehen — und viele schöne, spannende Sachen. Zum Beispiel das nachgebaute Wohnzimmer der Büchners — nicht rekonstruiert, aber schön gemacht (schon die Wände haben mir gefallen). Sehr schön auch die Rekonstruktion seiner letzten Wohnung in Zürich (Spiegelgasse 12 — ganz in der Nähe wird später auch Lenin residieren), seines Sterbezimmers (zwar hinter Glas, aber dennoch sehr schön). Auch die Büchner’sche Haarlocke darf natürlich nicht fehlen.
Überhaupt, das kann man nicht oft genug betonen: Zu sehen gibt es unendlich viel: Unzählige Stiche, Radierungen, Bilder — von Darmstadt und Straßburg vor allem. Gießen zum Beispiel ist extrem unterrepräsentiert. Und natürlich gibt es Texte über Texte: Schriften, die Büchner gelesen hat, die er benutzt hat, die er verarbeitet hat — sie tauchen (fast) alle in den enstprechenden Drucken der Büchnerzeit hier auf, von Shakespeare bis zu den medizinischen Traktaten, von Descartes bis Goethe und Tieck.Auch Büchner selbst ist mit seinen Schriften vertreten — naturgemäß weniger mit Drucken — da ist außer “Danton’s Tod” ja wenig zu machen -, sondern mit Handschriften. Die sind in der Ausstellung zwar reichlich in Originalen zu bewundern, aber Transkriptionen darf man nicht erwarten. Und lesen, das ist bei Büchners Sauklaue oft nicht gerade einfach. Zumal mir da noch ein anderer Umstand arg aufgestoßen ist: Die Exponate in der (aus konservatorischen Gründen) sehr dämmrigen Ausstellung sind in der Regel von schräg oben beleuchtet — und zwar in einem sehr ungünstigen Winkel: Immer wenn ich mir einen Brief an oder von Büchner genauer betrachten wollte, um ihn zu entziffern, stand ich mir mit meiner Rübe selbst im Licht.
Sonst bietet die Ausstellung so ziemlich alles, was moderne Ausstellungsplaner und ‑bauer so in ihrem Repertoire haben: Projektionen, Multimediainstallationen, Animationen, überblendete Bilder, eine Art Nachrichtenticker (der schwer zu bedienen ist, weil er dazu tendiert, in irrem Tempo durchzurasen), mit Vorhängen abgetrennte Separées (während das beim Sezieren/der Anatomie unmittelbar Sinn macht, hat mir das erotische Kabinett insgesamt nicht so recht eingeleuchtet …) und sogar einen “Lenz-Tunnel” (von dem man sich nicht zu viel erwarten darf und sollte). Der letzte Raum, der sich der Rezeption der letzten Jahrzehnte widmet, hat das übliche Problem: So ganz mag man die Rezeption nicht weglassen, eine verünftige Idee dafür hatte man aber auch nicht. Da er auch deutlich vom Rest der Ausstellung getrennt ist und quasi schon im Foyer liegt, verliert er zusätzlich. Viel spannendes gibt es da aber eh’ nicht zu sehen, so dass man durchaus mit Recht hindurcheilen darf (wie ich es getan hab — Werner Herzog kenne ich, Alban Berg kenne ich, Tom Waits auch, die Herbert-Grönemeyer-Bearbeitung von “Leonce und Lena” sollte man sowieso meiden …).
Bei manchen Wertungen bin ich naturgemäß zumindest unsicher, ob das der Wahrheit letzter Schluss ist — etwa bei der Betonung der Freude und des Engagements, das Büchner für die vergleichende Anatomie entwickelt haben soll — was übrigens in der Ausstellung selbst schon durch entsprechende Zitate konterkariert wird und in meiner Erinnerung in Hauschilds großer Büchner-Biografie nicht von ungefähr deutlich anders dargestellt wird. Unter den Experten und Büchner-Biografen schon immer umstritten war die Rolle des Vaters — hier taucht er überraschend wenig auf. Überhaupt bleibt die Familie sehr im Hintergrund: Sie bietet nur am Anfang ein wenig den Rahmen, in dem Georg aufwächst — mehr Wert als auf die Familie und persönliche Beziehungen überhaupt legt die Ausstellung aber auf Erfahrungen und Rezeptionen von Kunst (Literatur, Theater, Gemälde und andere mehr oder weniger museale Gegenständlichkeiten) und geo-/topographischem Umfeld.
Nicht zu vergessen sind bei den Exponaten aber die kürzlich entdeckte Zeichnung August Hoffmann, die wahrscheinlich Büchner zeigt. Auch wenn ich mir dabei wiederum nicht so sicher bin, dass sie das Büchner-Bild wirklich so radikal verändert, wie etwa Dedner meint (in der Ausstellung wird sie nicht weiter kommentiert). Und die erste “echte” Guillotine, die ich gesehen habe, auch wenn es “nur” eine deutsche ist.
Gestört hat mich insgesamt vor allem die Fixierung auf den Audioguide — ich hätte gerne mehr Text an der Wand gehabt (zum Beispiel, wie erwähnt, die Transkriptionen der Handschriften — die muss man mir nicht vorlesen, da gibt es wesentlich elegantere Lösungen, die einer Ausstellung über einen Schriftsteller auch angemessener sind). Zumal die Sprecher manchmal arg gekünstelt wirken.
Und wieder ist mir aufgefallen: Büchner selbst ist fast so etwas wie das leere Zentrum der Ausstellung (auch wenn das jetzt etwas überspitzt ist). Es gibt hier unheimlich viel Material aus seinem näheren und weiteren Umkreis, zu seiner Zeitgeschichte und seiner Geographie — aber zu ihm selbst gar nicht so viel. Das ist natürlich kein Zufall, sondern hängt eben mit der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte zusammen. Aber als Panorama des Vormärz im Großherzogtum Hessen (und Straßburg) ist die Ausstellung durchaus tauglich. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir allerdings auf: Weder “Vormärz” noch “Junges Deutschland” sind mir in der Ausstellung begegnet. Von der Einbettung sollte man sich auch überhaupt weder in literaturgeschichtlicher noch in allgemeinhistorischer Hinsicht zu viel erwarten: Das ist nur auf Büchner selbst bezogen, nachträgliche Erkenntnisse der Forschung oder nicht von Büchner selbst explizierte Zusammenhänge verschwinden da etwas.
Und noch etwas: eines der überraschendsten Ausstellungsstücke ist übrigens Rudi Dutschkes Handexemplar der Enzensberger-Ausgabe des “Hessischen Landboten”, mit sehr intensiven Lektürespuren und Anmerkungen …
Aber dass der Katalog — ein gewaltiger Schinken — die Abbildungen aus irgend einer versponnenen Design-Idee alle auf den Kopf gestellt hat, halte ich gelinde gesagt für eine Frechheit. Ein Katalog ist meines Erachtens nicht der Platz für solche Spielereien (denen ich sonst ja überhaupt nicht abgeneigt bein), weil er dadurch fast unbenutzbar wird — so einen Brocken mag ich eigentlich nicht ständig hin und her drehen, so kann man ihn nicht vernünftig lesen.Aber trotzdem bietet die Ausstellung eine schöne Möglichkeit, in das frühe 19. Jahrhundert einzutauchen: Selten gibt es so viel Aura auf einmal. Die Ausstrahlung der Originale aus Büchners Hand und der (Druck-)Erzeugnisse seiner Gegenwart, von denen es hier ja eine fast übermäßige Zahl gibt, ist immer wieder beeindruckend — und irgendwie auch erhebend. Fast so eindrücklich übrigens wie die Lektüre der Texte Büchners selbst — dadrüber kommt die Ausstellung auch mit ihrer Masse an Exponaten nicht.
Ins Netz gegangen am 31.10.:
- 9Nov38 – ein Experiment auf Twitter | Schmalenstroer.net — Auch Michael Schmalenstroer hat noch ein paar Absätze zu seinem Projekt @9Nov38:
Es ist aber etwas anderes, eine kühle Verwaltungsakte zu lesen, in der mit aller verwaltungstechnischen Akribe die Entrechung, Ermordung und Beraubung von Menschen ausgearbeitet wird. In einem normalen Geschichtsbuch wird von “Hetze und Propaganda” in den Zeitungen geschrieben. Das zu lesen, kann schon an die Nieren gehen.
Das ist ja gerade das, was ich an Twitter, Blogs etc so liebe: Man kann solche “Kleinigkeiten” aus den Quellen einfach mal vorstellen, zeigen, zitieren und erzählen, ohne gleich ein richtiges “Thema” oder eine Forschungsfrage haben zu müssen (oder die gar beantworten zu müssen).
- Protokolle des Preußischen Staatsministeriums Acta Borussica — Das von 1994 bis 2003 tätige Akademienvorhaben “Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums (1817–1934/38)“ hat in 12 Regestenbänden über 5.200 Sitzungsprotokolle der obersten Kollegialbehörde des preußischen Staates wissenschaftlich erschlossen.
Die gesamte Edition fundiert auf Quellenbeständen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem sowie des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde und ist im Verlag Olms-Weidmann erschienen — alle online frei zugänglich als pdfs. - Neue Discountmarke “Ohne teuer”: Real will jetzt auch billig können | Supermarktblog — “(Kleiner Tipp: Weniger Phil Collins könnte die Kundenfrequenz von alleine drastisch erhöhen.)” #wahrheit >
- Kommt ein Imam in eine Kirche… « Radikale Ansichten — Manchmal ist Deutschland einfach nur verrückt:
Kommt ein Imam in eine Kirche …
… dann gibt es mittlerweile immer öfter Ärger. Zuletzt im pfälzischen Hambach, als während einer Anti-Kriegsmesse ein islamischer Gebetsruf erklang. Für selbsternannte “Islamkritiker” ein Anlass zur Hysterie.Yassin Musharbash bei Zeit-Online über die total hysterischen (und die Wahrheit mehr als einmal kräftig verdrehenden) Proteste anlässlich der Aufführung einer Messe von Karl Jenkins.
- » @9Nov38: Ein Projekt als Kompromiss — @hellojed erklärt das spannende Projekt, über Tweets den 9.11.1938 (und etwas Vorgeschichte) zu — nun ja, wie soll man’s nennen? — erzählen, vergegenwärtigen, lebendig zu machen oder zu halten
- Schluss mit Lustig? Über die sehr geringen Chancen, vor Lachen einen klaren politischen Gedanken zu fassen. | Das Schönste an Deutschland ist die Autobahn — Georg Seeßlen schreibt einen sehr lesenswerten, nachdenklichen und besorgten Text über unsere Zeit:
Ich bin gespalten. Ich wünsche mir keine Rückkehr der Sauertöpfe und der Rechthaber, schon gar keine der Stalinisten und Seminaristen. Zu Recht misstraut die Kultur des Unernstes den großen Welterzählungen und heroischen Mythen der Geschichte, zu Recht misstraut sie Lösungen, Modellen, Projektionen, Helden und Vordenkern; zu Unrecht aber glaubt sie, man könne sich durch Ironie, Moderation und Distanz von der Verantwortung für den Lauf der Dinge befreien. Zu Unrecht glaubt sie an eine Möglichkeit, sich rauszuhalten und trotzdem alles zu sehen. Zu Unrecht glaubt die Kultur von Abklärung und Unernst, den Mächtigen sei am besten mit taktischer Nachgiebigkeit und einem Hauch von Subversion zu begegnen. Leidenschaftliche und zornige Gesten erscheinen in der Kultur als kindisch, vulgär und unangenehm.
[…] Bislang hat doch noch ein jeder zu Ende gedachter Gedanken nichts als Terror oder Wahn mit sich gebracht. Bislang ist aus jeder Überzeugung eine Ideologie, und aus dieser ein neuer Unterdrückungsapparat geworden.Es ist ja auch verrückt: Alles hat seine Dialektik, alles hat sein Gegenteil. Und Extreme sowieso. Vielleicht müssen wir uns wirklich wieder ganz weit zurück besinnen. Zum Beispiel auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles? Aber deren poliitische Implikationen sind vielleicht auch nicht unbedingt unser Ding (und unser Heil wohl auch nicht …). Es ist eben schwierig, das alles. Und Auswege gibt es vielleicht auch gar nicht. Denn die Gefahr ist immer dar. Im Moment zum Beispiel so:
Aber sie ist auf dem besten Weg, eine Gesellschaft der grausamen Gleichgültigkeit zu werden, eine Gesellschaft, die aus lauter Ironie und Moderation der politischen Leidenschaften gar nicht mehr erkennt, dass sie selber zu etwas von dem geworden ist, was sie fürchtet. Denn auch die Abklärung hat so ihre Dialektik, auch sie kann zum Dogma und zum Wahn werden.