Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: thomas mann

Wochenblog 9/​2023

Der Win­ter ist also noch ein­mal zurück. Zumin­dest was die Tem­pe­ra­tu­ren angeht, wenigs­tens hat es nicht wie­der geschneit – sonst ist das Fahr­rad­fah­ren in der Stadt doch immer kein Spaß. Das schö­ne, son­ni­ge Wet­ter konn­te ich aller­dings vor allem durch das Büro­fens­ter beob­ach­ten ;-) Und pünkt­lich zum Wochen­en­de wur­de es natür­lich wie­der grau, bedeckt und recht düs­ter. Das ewi­ge Schick­sal der Lohnarbeitenden … 

Und sonst hat ein­fach der All­tag geherrscht, kei­ne beson­de­ren Vor­komm­nis­se. So eine ganz gewöhn­li­che Woche ist aber auch mal nicht schlecht.

Text: Lan­ge­wie­sches pri­ckeln­de, inter­es­san­te, anre­gen­de Geschich­te Deutsch­lands (Vom viel­staat­li­chen Reich zum föde­ra­ti­ven Bun­des­staat), d.h. vor allem der deut­schen Nati­on und des deut­schen Staa­tes, fer­tig gele­sen. Lan­ge­wie­sche bün­delt hier eini­ges, was sich in der his­to­ri­schen For­schung der letz­ten Jah­re eigent­lich schon ange­deu­tet hat, aber noch immer nicht in die gro­ßen Meis­ter­er­zäh­lun­gen gelangt ist. Die sehen die Ent­wick­lung Deutsch­lands als Nati­on immer noch recht teleo­lo­gisch, auf das Wil­hel­mi­ni­sche Reich zustre­bend, und zugleich ger­ne als „Son­der­fall“. Lan­ge­wie­sche dage­gen erzählt anders: Immer wie­der die Kon­tin­genz beto­nend, die Unge­wis­sen­heit oder Offen­heit der wei­te­ren Ent­wick­lung (gera­de im 19. Jahr­hun­dert), die beson­ders im Ver­hält­nis von Reich und Staaten/​Ländern, in den ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen der föde­ra­len Orga­ni­sa­ti­on, sich deut­lich zeigt. In der Tat sehr anre­gend, gera­de im Anspruch, nicht alles erzäh­len zu wol­len, son­dern sich auf wich­ti­ge Momen­te, Kern-Ent­wick­lun­gen zu beschrän­ken – es sind ja auch nur wenig mehr als 100 Seiten.

Auch been­det: Phil­ip Sara­sins gro­ßes Buch „1977″ – wirk­lich eine fas­zi­nie­ren­de Arbeit, die Geschich­te der Gegen­wart in wesent­li­chen Momen­ten neu zu den­ken und zu schreiben.

Außer­dem: Sla­ta Roschals klei­nen Gedicht­band „Wir tau­schen Ansich­ten und Ängs­te wie wei­che war­me Tie­re aus“ von 2021 (im wun­der­ba­ren hoch­roth-Ver­lags-Kol­lek­tiv), der trotz schö­nen, tref­fen­den Ver­sen der Sehn­sucht und Suche im Gan­zen dann doch etwas im All­tag ste­cken­bleibt und in sei­ner tro­cke­nen Lako­nie dabei auch manch­mal fremd und abwei­send wir­ken kann. Ihr Roman „153 For­men des Nicht­seins“, der mit ganz ähn­li­chen Metho­den arbei­tet, war dann doch fas­zi­nie­ren­der für mich.

Eben­falls gele­sen: Peter Stamms klei­ner Roman „Das Archiv der Gefüh­le“. Das ist dann doch eher belang­lo­se Kul­tur­in­dus­trie­wa­re, die sich den Anstrich kunst­haf­ter Gestal­tung gibt, das aber in keins­ter Wei­se (weder for­mal noch sprach­lich oder inhalt­lich) ein­lö­sen kann.

Ton: The Bran­den­burg Pro­ject: Tho­mas Daus­gaard hat mit dem Swe­disch Cham­ber Orches­tra nicht nur ein­fach eine gute Ein­spie­lung der Bran­den­bur­gi­schen Kon­zer­te von Bach vor­ge­legt, son­dern das mit sechs Auf­trags­kom­po­si­tio­nen zeit­ge­nös­si­scher Komponist*innen ergänzt, die jeweils auf ein Kon­zert direkt Bezug neh­men – moti­visch, in der Beset­zung oder eher gene­rell. Vor allem bei Mark-Antho­ny Tur­na­ge und Olga Neu­wirth ist dabei ziem­lich coo­le Musik ent­stan­den. Vor allem ergibt das aber drei sehr span­nen­de und auch unter­halt­sa­me Stunden.

Bild: Det­lev Bucks Ver­fil­mung von Tho­mas Manns „Bekennt­nis­se des Hoch­stap­lers Felix Krull“ – ein behä­bi­ger, kon­ven­tio­nel­ler, ja lang­wei­li­ger Kos­tüm­film, der gera­de die ele­gant-sprit­zi­gen, unter­schwel­lig sub­ti­len Sei­ten der Roman­vor­la­ge völ­lig igno­riert und des­halb am Eigent­lich erstaun­lich deut­lich vorbeisegelt.

Drau­ßen: Der Streak hält und es läuft wei­ter­hin (also jeden Tag), aber immer noch in mäßi­gem Umfang.

bücherstapel

Aus-Lese #50

Ger­hard Falk­ner: Romeo oder Julia. Mün­chen: Ber­lin 2017. 269 Sei­ten. ISBN 978−3−8270−1358−3.

falkner, romeo oder julia (cover)Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirk­lich begeis­tert gewe­sen wäre. Das liegt vor allem dar­an, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigent­lich (sein) möch­te. Dabei hat er unbe­streit­bar aus­ge­zeich­ne­te Momen­te und Sei­ten, neben eini­gen Län­gen. Eini­ge der aus­ge­zeich­ne­ten Momen­te fin­den auf der Ebe­ne der Spra­che statt: Es gibt fun­keln­de ein­zel­ne Sät­ze in einem Meer von sti­lis­ti­schem und gedank­li­chem Cha­os. So habe ich mir das zunächst notiert – aber das stimmt so nicht ganz: chao­tisch (also rea­lis­tisch) erscheint der Text zunächst nur, er ent­wi­ckelt dann aber schon sei­ne Form. Die zumin­dest stel­len­wei­se hyper­tro­phe Sti­lis­tik in der Über­stei­ge­rung auf allen Ebe­nen ist dann auch tat­säch­lich lustig.

Uner­müd­lich arbei­te­ten hin­ter den Din­gen, an denen ich vor­bei­kam, die Grund­ma­schi­nen der Exis­tenz, die seit Jahr­tau­sen­den mit Men­schen­le­ben gefüt­tert wer­den, und die Stadt stütz­te ihre tau­be und orna­men­ta­le Mas­se auf die­ses unter­ir­di­sche Mag­ma von Lebens­gier, Kampf, Wil­le, Lust und Bewe­gung. 227

Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Fra­ge. Irgend­wie geht es um einen Schrift­stel­ler, Kurt Prinz­horn (über des­sen lite­ra­ri­sche Wer­ke nichts zu erfah­ren ist), der bei einem Hotel­auf­ent­halt in Inns­bruck von einer benutz­ten Bade­wan­ne und ver­schwun­de­nen Schlüs­seln etwas erschreckt wird. Rat­los bleibt er zurück und denkt immer wie­der über die Rät­sel­haf­tig­keit des Gesche­hens nach, wäh­rend das Autoren­le­ben mit Sta­tio­nen in Mos­kau und Madrid wei­ter­geht. Dort nähert sich dann auch die anti­kli­mak­ti­sche Auf­lö­sung, die in einem Nach­spiel in Ber­lin noch ein­mal aus­ge­brei­tet wird: Der Erzäh­ler wird von einer sehr viel frü­he­ren kurz­zei­ti­gen Freun­din ver­folgt und bedroht, die dann beim Ver­such, zu ihm zu gelan­gen (um ihn zu töten), selbst stirbt … Trotz des Plots, der nach Kri­mi oder Thril­ler klingt, bleibt Romeo oder Julia bei einer unbe­schwer­ten Rät­sel­haf­tig­keit, ein Spiel mit Span­nungs­ele­men­ten, sexis­ti­schem und völ­ker­psy­cho­lo­gi­schem Unsinn und ande­ren Pein­lich­kei­ten. Immer­hin sind der knap­pe Umfang und die eher kur­zen Kapi­tel (übri­gens genau 42 – wobei ich bei Falk­ner in die­sem Fall kei­ne Absicht unter­stel­le) sehr leser­freund­lich. Durch die zumin­dest ein­ge­streu­ten sti­lis­ti­schen Höhen­flü­ge war das für mich eine durch­aus unter­halt­sa­me Lek­tü­re, bei der ich kei­ne Ahnung habe, was das eigent­lich sein soll, was der Text eigent­lich will. Weder die Kri­mi-Ele­men­te noch die Pop­li­te­ra­tur­kom­po­nen­te oder die mas­si­ven Inter­tex­tua­li­täts­si­gna­le (die ich nicht alle in ver­nünf­ti­ge Bezie­hung zum Text brin­ge, aber sicher­lich habe ich auch eine Men­ge schlicht über­se­hen) for­men sich bei mei­ner Lek­tü­re zu einem Kon­zept: Ein schlüs­si­ges Sinn­kon­strukt kann ich nicht so recht erken­nen, nicht lesen und lei­der auch nicht basteln.

Es war Sonn­tag­vor­mit­tag, und es gab kaum Leu­te auf der Stra­ße. Stra­ßen auf den Leu­ten gab es erst recht nicht. es gab auch kei­ne Bus­se, die man sich auf der Zun­ge hät­te zer­ge­hen las­sen kön­nen, oder Fri­seu­re, die auf­grund einer unge­stü­men Blü­mer­anz der Ohn­macht nahe gewe­sen wären. Auch nicht die Hel­den­fried­hö­fe, die in wil­den und aus­ufern­den Vor­früh­lings­näch­ten von den Such­ma­schi­nen auf die Bild­schir­me gezau­bert wer­den, um mit ihren schnee­wei­ßen und chris­tus­lo­sen Kreu­zen die Sur­fer in ihre lee­re Erde zu locken. Es gab nicht ein­mal die feuch­te, war­me Hand der katho­li­schen Kir­che oder das tröst­li­che Röcheln des Dra­chens, dem sein belieb­tes­ter Geg­ner, der hei­li­ge Georg, gera­de die eiser­ne Lan­ze in den Rachen gesto­ßen hat. Es gab ein­fach wirk­lich nur das, was da war, was wir unmit­tel­bar vor Augen hat­ten, und die Tat­sa­che, dass ich in Kür­ze los­muss­te. 78

Ali­na Her­bing: Nie­mand ist bei den Käl­bern. Zürich, Ham­burg: Arche 2017. 256 Sei­ten. ISBN 9783716027622.

herbing, niemand ist bei den kälbern (cover)Das ist mal ein ziem­lich trost­lo­ses Buch über eine jun­ge Bäue­rin aus Alter­na­tiv­lo­sig­keit, die auch in den angeb­lich so fes­ten Wer­ten und sozia­len Net­zen des Land­le­bens (der „Hei­mat“) kei­nen Halt fin­det, kei­nen Sinn für ihr Leben. Statt­des­sen herrscht über­all Gewalt – gegen Din­ge, Tie­re und Men­schen. Einer­seits ist da also die Bana­li­tät des Land­le­bens, der Ödnis, der „Nor­ma­li­tät“, dem nicht-beson­de­ren, nicht-indi­vi­du­el­len Leben. Ande­rer­seits bro­delt es dar­un­ter so stark, dass auch die Ober­flä­che in Bewe­gung gerät und Ris­se bekommt. Natür­lich gibt es die Schön­heit des Lan­des, auch in der beschrei­ben­den Spra­che (die frei­lich nicht so recht zur eigent­li­chen Erzähl­hal­tung passt und mit ihren ange­deu­te­ten pseu­do-umgangs­sprach­li­chen Wen­dun­ge („nich“, „glaub ich“) auch vie­le schwa­che Sei­ten hat und ner­ven kann). Aber genau­so natür­lich gibt es auch die Ver­let­zun­gen, die die Men­schen sich gegen­sei­tig und der „natür­li­chen“ Umwelt glei­cher­ma­ßen zufügen.

Die Absicht von Nie­mand ist bei den Käl­bern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, sonst spä­tes­tens auf der ers­ten Sei­te, wenn das Reh­kitz beim Mähen getö­tet wird): Hei­mat, v.a. aber das Land­le­ben ent­zau­bern – denn es ist auch nur eine Rei­he von Bana­li­tä­ten und Ein­sam­kei­ten (auch & gera­de zu zweit) und suche nach Lie­be, Nähe, Emo­tio­nen. Die Natur bleibt von all dem unbe­tei­ligt und eigent­lich unbe­rührt. Mich ner­ven aber so Haupt­fi­gu­ren wie die­se Chris­tin, die – obwohl viel­leicht nicht direkt defä­tis­tisch – alles (!) ein­fach so hin­neh­men, ohne Gefühls­re­gung, ohne Gestal­tungs­wil­len, ja fast ohne Wil­len über­haupt, denen alles nur pas­siert, die alles mit sich gesche­hen las­sen. Dass da dann kein erfüll­ter Lebens­ent­wurf her­aus­kommt, ist abzu­se­hen. Mir war das unter ande­rem des­halb zu ein­sei­tig, zu eindimensional.

Manch­mal glaub ich, jedes Flug­zeug, das ich sehe, exis­tiert über­haupt nur, um mich dar­an zu erin­nern, dass ich einer der unbe­deu­tends­ten Men­schen der Welt bin. Wie­so soll­te ich sonst in die­sem Moment auf einem halb abge­mäh­ten Feld ste­hen? Nicht mal in einer Nazi-Hoch­burg, nicht mal an der Ost­see oder auf der Seen­plat­te, nicht mal auf dem Todes­strei­fen, son­dern kurz davor, dane­ben, irgend­wo zwi­schen all­dem. Genau da, wo es eigent­lich nichts gibt außer Gras und Lehm­bo­den und ein paar Plät­ze, die gut genug sind, um da Wind­rä­der hin­zu­stel­len. 11

Lau­rent Binet: Die sieb­te Sprach­funk­ti­on. Rein­bek: Rowohlt 2017. 524 Sei­ten. ISBN 9783498006761.

laurent binet, die siebte sprachfunktion (cover)Das ist tat­säch­lich ein ziem­lich lus­ti­ger Roman über Roland Bar­thes, die post­mo­der­ne Phi­lo­so­phie, Sprach­wis­sen­schaft und Psy­cho­lo­gie in Frank­reich, auch wenn der Text eini­ge Län­gen hat. Viel­leicht ist das aber wirk­lich nur für Leser lus­tig, die sich zumin­dest ein biss­chen in der Geschich­te der fran­zö­si­schen Post­mo­der­ne, ihrem Per­so­nal und ihren Ideen (und deren Rezep­ti­on in den USA und Euro­pa) aus­ken­nen. Und es ist auch ein etwas gro­tes­ker Humor, der so ziem­lich alle Geis­tes­he­ro­en des 20. Jahr­hun­derts kör­per­lich und see­lisch beschä­digt zurücklässt.

Aus­gangs­punkt der mehr als 500 Sei­ten, die aber schnell gele­sen sind, ist der Tod des Struk­tu­ra­lis­ten und Semio­ti­kers Roland Bar­thes, der im Febru­ar 1980 bei einen Unfall über­fah­ren wur­de. Für die Ermitt­lun­gen, die schnell einer­seits in das phi­lo­so­phisch gepräg­te Milieu der Post­mo­der­ne füh­ren, ande­rer­seits vol­ler Absur­di­tä­ten und gro­tes­ker Gescheh­nis­se sind, ver­pflich­tet der etwas hemds­är­me­li­ge Kom­mis­sar einen Dok­to­rand, der sich in die­sem Gebiet gut aus­zu­ken­nen scheint. Ihre Ermitt­lun­gen führt das Duo dann in fünf Sta­tio­nen von Paris über Bolo­gna nach Ithaca/​USA und zurück zu Umber­to Eco (der ein­zi­ge, der eini­ger­ma­ßen unver­sehrt davon­kommt), womit die Rei­se, die Ermitt­lung und der Text das Netz­werk euro­päi­schen Den­kens (mit sei­nen ame­ri­ka­ni­schen Satel­li­ten der Ost­küs­te) in der zwei­ten Hälf­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts nach­zeich­nen. Das ist so etwas wie ein Pop-Phi­lo­so­phie-Thril­ler, der für mich doch recht zügig sei­nen Reiz ver­lor, weil das als Roman­text eher banal und kon­ven­tio­nell bleibt. Inter­es­sant sind höchs­tens die Meta­ebe­nen der Erzäh­lung (die es reich­lich gibt) und die Ana­chro­nis­men (die auch ger­ne und mit Absicht ver­wen­det wer­den), zumal die Theo­rie und ihr Per­so­nal immer mehr aus dem Blick geraten

Die im Titel ver­hie­ße­ne sieb­te Sprach­funk­ti­on bleibt natür­lich Leer­stel­le und wird nur in Andeu­tun­gen – als unwi­der­steh­li­che, poli­tisch nutz­ba­re Über­zeu­gungs­kraft der Rede – kon­tu­riert. Dafür gibt es genü­gend ande­re Sta­tio­nen, bei denen Binet sein Wis­sen der euro­päi­schen und ame­ri­ka­ni­schen Post­mo­der­ne groß­zü­gig aus­brei­ten kann. 

Wäh­rend er rück­wärts­geht, über­legt Simon: Ange­nom­men, er wäre wirk­lich eine Roman­ge­stalt (eine Annah­me, die wei­te­re Nah­rung erhält durch das Set­ting, die Mas­ken, die mäch­ti­gen male­ri­schen Gegen­stän­de: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Kli­schees zu bedie­nen, denkt er), wel­cher Gefahr wäre er im Ernst aus­ge­setzt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkom­men. Hin­wie­der­um kommt nor­ma­ler­wei­se die Haupt­fi­gur nicht ums Leben, außer viel­leicht gegen Ende der Hand­lung. /​Aber wenn es das Ende der Hand­lung wäre, wie wür­de er das erfah­ren? Wie erfährt man, wann man auf der letz­ten Sei­te ange­kom­men ist? /​Und wenn er gar nicht die Haupt­fi­gur wäre? Hält sich nicht jeder für den Hel­den sei­ner eige­nen Exis­tenz? 420

Die­ter Grimm: „Ich bin ein Freund der Ver­fas­sung“. Wis­sen­schafts­bio­gra­phi­sches Inter­view von Oli­ver Lep­si­us, Chris­ti­an Wald­hoff(span> und Mat­thi­as Roß­bach mit Die­ter Grimm. Tübin­gen: Mohr Sie­beck 2017. 325 Sei­ten. ISBN 9783161554490.

grimm, freund der verfassung (cover)Ein fei­nes, klei­nes Büch­lein. Mit „Inter­view“ ist es viel zu pro­sa­isch umschrie­ben, denn einer­seits ist das ein ver­nünf­ti­ges Gespräch, ande­rer­seits aber auch so etwas wie ein Aus­kunfts­buch: Die­ter Grimm gibt Aus­kunft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-Jurist eine Men­ge – zumin­dest ging es mir so: Viel span­nen­des zur Ent­wick­lung von recht und Ver­fas­sung konn­te ich hier lesen – span­nend vor allem durch das Inter­es­se Grimms an Nach­bar­dis­zi­pli­nen des Rechts, ins­be­son­de­re der Sozio­lo­gie. Des­halb tau­chen dann auch ein paar net­te Luh­mann-Anek­do­ten auf. Außer­dem gewinnt man als Leser auch ein biss­chen Ein­blick in Ver­fah­ren, Orga­ni­sa­ti­on und Bera­tung am Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, an dem Grimm für 12 Jah­re als Rich­ter tätig war. Schön ist schon die nüch­ter­ne Schil­de­rung der der nüch­ter­nen Wahl zum Rich­ter – ein poli­ti­scher Aus­wahl­pro­zess, den Grimm für „erfreu­lich unpro­fes­sio­nell“ (126) hält. Natür­lich gewinnt das Buch nicht nur durch Grimms Ein­blick in grund­le­gen­de Wesens­merk­ma­le des Rechts und der Juris­pru­denz, son­dern auch durch sei­ne durch­aus span­nen­de Bio­gra­phie mit ihren vie­len Sta­tio­nen – von Kas­sel über Frank­furt und Frei­burg nach Paris und Har­vard wie­der zurück nach Frank­furt und Bie­le­feld, dann natür­lich Karls­ru­he und zum Schluss noch Ber­lin – also qua­si die gesam­te Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land – Grimm ist 1937 gebo­ren – in einem Leben kondensiert. 

Das Buch hat immer­hin auch sei­ne Selt­sam­kei­ten – in einem sol­chen Text in zwei Stich­wör­tern in der Fuß­no­te zu erklä­ren, wer Kon­rad Ade­nau­er war, hat schon sei­ne komi­sche Sei­te. Bei so manch ande­rem Namen war ich aber froh über zumin­dest die gro­be Auf­klä­rung, um wen es sich han­delt. Die ande­re Selt­sam­keit betrifft den Satz. Dabei hat jemand näm­lich geschlampt, es kom­men immer wie­der Pas­sa­gen vor, die ein Schrift­grad klei­ner gesetzt wur­den, ohne dass das inhalt­lich moti­viert zu sein scheint – offen­sicht­lich ein unschö­ner Feh­ler, der bei einem renom­mier­ten und tra­di­ti­ons­rei­chen Ver­lag wie Mohr Sie­beck ziem­lich pein­lich ist.

Ador­no ver­stand ich nicht. Stre­cken­wei­se unter­hielt ich mich ein­fach damit zu prü­fen, ober er sei­ne Schach­tel­sät­ze kor­rekt zu Ende brach­te. Er tat es. 41

Con­stan­ti­jn Huy­gens: Euphra­sia. Augen­trost. Über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Ard Post­hu­ma. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. [ohne Sei­ten­zäh­lung]. ISBN 9783942901222.

Zu die­sem schö­nen, wenn auch recht kur­zen Ver­gnü­gen habe ich vor eini­ger Zeit schon etwas geson­dert geschrie­ben: klick.

außer­dem gelesen:

  • Dirk von Peters­dorff: In der Bar zum Kro­ko­dil. Lie­der und Songs als Gedich­te. Göt­tin­gen: Wall­stein 2017 (Klei­ne Schrif­ten zur lite­ra­ri­schen Ästhe­tik und Her­me­neu­tik, 9). 113 Sei­ten. ISBN 978−3−8353−3022−1.
  • Hans-Rudolf Vaget: „Weh­vol­les Erbe“. Richard Wag­ner in Deutsch­land. Hit­ler, Knap­perts­busch, Mann. Frank­furt am Main: Fischer 2017. 560 Sei­ten. ISBN 9783103972443.

Ins Netz gegangen (21.9.)

Ins Netz gegan­gen am 21.9.:

Ins Netz gegangen (15.12.)

Ins Netz gegan­gen am 15.12.:

Vergessen: 3000 unbekannte Briefe im Thomas-Mann-Archiv

Die FAZ berich­tet heu­te im Feuil­le­ton (S. 31, lei­der nicht online), dass das Tho­mas-Mann-Archiv in Zürich unge­fähr drei­tau­send Brie­fe aus dem Nach­lass des Autors bzw. sei­ner Frau Katia bis zum Dezem­ber 2012 ein­fach „ver­ges­sen“ hat. Das sind schlap­pe 13 Kis­ten, die die Archi­va­re dort in den letz­ten Jahr­zehn­ten kom­plett „über­se­hen“ haben: Die wur­den nicht erfasst, nicht kata­lo­gi­siert, nicht aus­ge­wer­tet und waren auch nie­man­dem zugäng­lich – nicht den For­schern, aber auch nicht den Fami­li­en­mit­glie­dern. Schon die Umstän­de, wie die Brie­fe ins Archiv gelangt sind, sind selt­sam (für Schrift­stel­ler-Nach­läs­se aller­dings wie­der­um gar nicht so sehr …): 

Der­zeit bemüht man sich im TMA, die Her­kunft der auf­ge­tauch­ten Brief­be­stän­de zu rekon­stru­ie­ren – auch das führt auf dunk­le Pfa­de. Ein Teil der Brie­fe sei wohl bereits 1981 ins Archiv gelangt, gebracht von Ani­ta Naef, der Sekre­tä­rin erst von Eri­ka, spä­ter von Golo Mann; der grö­ße­re Teil sei 1994 geschenkt wor­den, eben­falls aus der Hand von Ani­ta Naef. […] Nach den heu­ti­gen Recher­chen des TMA brach­te sie den größ­ten Teil des jetzt auf­ge­tauch­ten Brief­be­stands 1994, im Todes­jahr Golo Manns, als „Schen­kung“ ins TMA, ohne dass dies ver­zeich­net oder im Jah­res­be­richt des Archivs ver­merkt wor­den wäre.

Das ist schon eine ganz schö­ne Schlam­pe­rei – auch wenn Til­mann Lah­me in der FAZ sicher­lich zu recht dar­auf hin­weist, dass das TMA sich mehr als For­schungs­stät­te denn als klas­si­sches Archiv verstand: 

Dem­ge­gen­über sind Erfas­sung, Erschlie­ßung und Siche­rung der Archi­va­li­en nicht auf dem Stand eines moder­nen Archivs.

Immer­hin scheint sich nun etwas zu tun: 

Die Lei­tung der Hoch­schu­le hat nun, nach der Ein­glie­de­rung des TMA und unter dem Ein­druck des Auf­tau­chens der drei­tau­send Katia-Mann-Brie­fe, kurz­fris­tig ein grö­ße­res Pro­jekt bewil­ligt. Mehr als eine hal­be Mil­li­on Schwei­zer Fran­ken ste­hen von sofort an für Erschlie­ßung und Digi­ta­li­sie­rung der Archiv­be­stän­de zur Ver­fü­gung. Bis zum Ende des kom­men­den Jah­res sol­len die Bestän­de kom­plett in einem moder­nen, online abruf­ba­ren Sys­tem erfasst und digi­ta­li­siert sein

Ande­rer­seits gehen die Merk­wür­dig­kei­ten aber gleich wei­ter: Fri­do Mann, Enkel Tho­mas’, hat – offen­bar als eine Art „Ent­schä­di­gung“ für das lan­ge wäh­ren­de Ver­säum­nis des Archivs, „etwa fünf­zig Brie­fe sei­nes Vaters Micha­el an Katia Mann“ aus­ge­hän­digt bekom­men. Die sind also aus dem Archiv gleich wie­der verschwunden … 

Das Archiv selbst scheint auch sonst eher nach­läs­sig geführt zu wer­den, der FAZ-Arti­kel lässt da eini­ges anklin­gen (und macht dar­auf auf­merk­sam, dass das nicht unbe­dingt die Schuld der betei­lig­ten Per­so­nen sein muss, son­dern auch in sei­ner Kon­struk­ti­on und der man­geln­den Wert­schät­zung durch die Hoch­schul-Lei­tung geschul­det sein kann). Die Inter­net­sei­te des Archivs jeden­falls gibt kei­nen Hin­weis auf den Fund der Manuskripte …

Grundwiderwärtige Erscheinung

Goe­the hät­te Wag­ner als grund­wi­der­wär­ti­ge Erschei­nung emp­fin­den müs­sen. Frei­lich war er gro­ßen Tat­sa­chen und Wir­kun­gen gegen­über mora­lisch sehr tole­rant und zuwei­len fra­ge ich mich, ob er nicht geant­wor­tet hät­te: „Der Mann ist euch zu groß.“ Aber das wäre eine Sache. Die Deut­schen soll­te man vor die Ent­schei­dung stel­len: Goe­the oder Wag­ner. Bei­des zusam­men geht nicht. Aber ich fürch­te, sie wür­den „Wag­ner“ sagen. Oder doch viel­leicht nicht? Soll­te nicht doch viel­leicht jeder Deut­sche im Grun­de sei­nes Her­zens wis­sen, daß Goe­the ein unver­gleich­lich ver­eh­rungs- und ver­trau­ens­wür­di­ge­rer Füh­rer und Natio­nal­held ist als die­ser schnup­fen­de Gnom aus Sach­sen mit dem Bom­ben­ta­lent und dem schä­bi­gen Charakter?

Tho­mas Mann an Juli­us Bab, 14.9.1911

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