“Es ist die Sprache, die am Sprechen hindert, nicht ihr Verlust.”
— Marcus Steinweg, Subjekt und Wahrheit, 2018, 30
Schlagwort: sprache Seite 1 von 5

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- Does Philosophical Language Have to Be Difficult? | Blog of the APA → grant maxwell erklärt ziemlich kurz und schlüssig, warum philosophie manchmal schwierige sprache benutzen muss:
writers like G.W.F. Hegel or Alfred North Whitehead or Jacques Derrida weren’t simply writing works (which still stand as paragons of verbal complexity) to confuse or beguile their readers. They were creating new forms of language to widen the scope of what could be expressed. […] The process of generating meaning is a constant negotiation between our current world views, embodied in vast networks of words and other symbols, and the constraining facts of existence, both the material relations of the world and our own intrinsic characters. And the more we inquire into these apparently objective facts, the more we find that they are more like habits or tendencies susceptible to a startlingly broad range of possible constructions. The semiotic networks constituting our world views evolve, as ideas don’t exist in a vacuum, but are developed through a conversation that has been occurring for thousands of years, with each reply requiring a generation, or sometimes even centuries for its fullest expression. To abstract ideas from their historical context, and from the language developed to describe them in ever-greater nuance, would be to flatten the complexity of these concepts, which comprise the underlying modes of thought that have implicitly informed the more explicit historical occurrences.
- «Italien betreibt eine Fusion von Populismus und Technokratie» | NZZ → ein spannendes interview mit jan-werner müller über die herausforderung der antipluarlisten (populisten und technokraten) für die modernen demokratien
Beide scheinbar gegensätzliche Fraktionen sind letztlich Antipluralisten. Die Technokraten erklären, es gebe nur die eine rationale Lösung. Es brauche keine Debatte, auch keine parlamentarische Auseinandersetzung, weil es für vernünftige Menschen nichts zu diskutieren gebe. Die Populisten behaupten wiederum, es gebe nur den einen authentischen Volkswillen. Und sie seien die Einzigen, die ihn verstünden und verträten.
- Finnegans wachen donnerstags auf| a tempo → ein sehr sympathisches gespräch mit fritz senn, einem der besten joyce-kenner, über seine joyce-lektüren und ‑forschungen — und die zufälligkeiten des lebens
- Schule der Gewalt | Zeit → ute frevert hat einen schönen überblick über die geschichte der wehrpflicht (in deutschland) geschrieben
- Sind wir noch gute Europäer? | Zeit → jürgen habermas muss noch/mal wieder ran und den lust- und ideenlosen zustand europas und insbesondere der eu — und ihrer (nationalen) politischen eliten — scharfsinnig analysieren. zum beispiel:
Der Rechtspopulismus verdankt sich in erster Linie der verbreiteten Wahrnehmung der Betroffenen, dass der EU der politische Wille fehlt, handlungsfähig zu werden. Der heute im Zerfall begriffene Kern Europas wäre in Gestalt einer handlungsfähigen Euro-Union die einzige denkbare Kraft gegen eine weitere Zerstörung unseres viel beschworenen Sozialmodells. In ihrer gegenwärtigen Verfassung kann die Union diese gefährliche Destabilisierung nur noch beschleunigen. Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas ist das zunehmende und weiß Gott realistische Bewusstsein der europäischen Bevölkerungen, dass der glaubhafte politische Wille fehlt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Stattdessen versinken die politischen Eliten im Sog eines kleinmütigen, demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung

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- Umso schlimmer für die Tatsachen | Süddeutsche → wolfgang kraushaar wirft einen instruktiven blick auf die “ergebnisse” des gedenkjahres zum 50. jubiläum von “1968”
Kaum jemand, der sich damals auf die Bewegung eingelassen hatte, dürfte so wieder aus ihr herausgekommen sein, wie er zuvor in sie hineingegangen war. Das war ein komprimierter, äußerst dynamischer Prozess, der die Einzelnen nur zu häufig grundlegend verändert hat.
Diese Bewegung war aber in ihrem Kern auch etwas völlig Neuartiges. Ihre Akteure wollten ja nicht einfach wie noch die Arbeiter- oder Gewerkschafts‑, die Friedens- oder Ostermarschbewegung durch ihren Protest Interessen verfolgen und bestimmte Ziele erreichen. Nein, sie wollten sich dabei auch selbst entwickeln, verändern, manche sogar “befreien”. Es ging 1968 zugleich auch immer um die Bewegten selbst, um ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, ihre Träume — in einem emphatischen Sinne um Subjektivität. Die Schalen der alten Person sollten abgeschüttelt und darunter ein neues Ich entdeckt und geborgen werden. Damit hatte sie allen Irrungen und Wirrungen zum Trotz ein Bewegungsformat geschaffen, das für andere Protestierende zum Fixpunkt wurde und an dem sich viele später orientiert haben.
- Die Scheinfreiheit der Bibel | taz → heinz-werner kubitzka erklärt, warum es falsch (und scheinheilig) ist, sich für moderne werte auf das christentum zu berufen:
Toleranz und Freiheit sind eben nicht organisch aus dem Christentum erwachsen, sondern mussten geradezu in Gegnerschaft zum Christentum verwirklicht werden. […] Befreiung findet und fand nicht mit, sondern meist gegen die Religionen statt. Moderne Werte nimmt man nicht aus alten Schriften.
- Verbale Ausschussware | Spiegel → sascha lobo verzweifelt an facebooks community-standards — und zwar ausdrücklich schon an ihrer sprachlichen verfasstheit
- Mein erster DSGVO Rant – Zu viele Mythen und gefährliches Halbwissen zum neuen europäischen Datenschutzrecht | Recht 2.0 → carsten ulbricht ärgert sich über panik und falsche informationen in bezug auf die dsgvo
Wer sich hier von der Panikmache nicht anstecken lässt, sondern sich aus vernünftigen Quellen oder bei Beratern informiert, die einen praktikablen Weg zur Umsetzung zeigen und nicht nur mitteilen, wie unsicher und riskant alles wird, der wird auch die Vorgaben der DSGVO sinnvoll umgesetzt bekommen.
- Von der Lügenpresse zur Lügenwissenschaft? | Zeitgeschichte online → andreas wirsching macht sich gedanken über den platz und die relevanz der (zeit-)geschichte in der heutigen gesellschaft:
Mit ihrem pluralen Blick auf die Vergangenheit vermeidet die Problemerzeugungsgeschichte zugleich die Fragmentierung ihres Gegenstandes entlang identitärer Abgrenzungen. Sie lässt sich daher nicht vor den Karren außerwissenschaftlicher Identitätskonstruktionsbedürfnisse spannen, sondern analysiert diese selbst als Problemhorizont der Gegenwart.
So – und wie ich meine nur so – lässt sich die Zeitgeschichte als Vorgeschichte der Gegenwart verstehen. Und als solche kann sie nicht nur, sondern sollte unbedingt ihre Stimme in der Deutung aktueller Problemlagen erheben. Gegenüber den Reduktionisten aller Couleur wirkt sie störend, aber eben das erweist ihre öffentliche Relevanz.
Und in nicht wenigen Diskussionen liegt darin auch ihre besondere Kompetenz. Historische Wissenschaften sind nämlich die einzigen Disziplinen, die gleichsam mit zwei Augen sehen. Während das eine Auge in der Zeit- und Standortgebundenheit des Wissenschaftlers haften bleibt, richtet sich das andere auf die historische Tiefe. Und erlauben Sie mir zum Schluss eine nicht ganz ernstzunehmende Weiterführung des Bildes. Denn sind nicht die rein gegenwartsorientierten Wissenschaften gleichsam die Einäugigen unter den Blinden – den blinden Zeitgenossen, die ihre Gegenwart nicht zu verstehen vermögen? Und ist es demgegenüber nicht allein die Zeitgeschichte, die mit ihren beiden Augen zusammen räumlich sehen kann. Wenn es sich so verhält, ist die Zeitgeschichte weder antiquarische noch Lügenwissenschaft und um ihre Relevanz braucht uns nicht bange zu sein.
Der Inhalt allein kann nie einen Satz rechtfertigen. —Thomas Stangl

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- Interview: “Die Relevanz von Geschlecht nimmt ab” | Campus Mainz → die germanistische sprachwissenschaftlerin damaris nübling über sprache und geschlecht, gender und gerechtigkeit
Langfristig wäre es gut, die Kategorie Geschlecht aufzulösen, statt sie zu dramatisieren. Das funktioniert neben dem Streuen auch mit neutralisierenden Pronomen im Plural wie “alle”, “viele” oder “manche”. Außerdem kann man auch anstelle von Personenbezeichnungen abstraktere Begriffe verwenden, zum Beispiel: “Das Institut hat entschieden” anstelle von “Der Institutsleiter hat entschieden” und so weiter.
Allerdings kommt das immer auf den Kontext an. Feste Rezepte gibt es nicht, Kreativität ist gefragt. Dazu gehören auch die zunehmenden Präsenspartizipien im Plural wie “Studierende”. Singulare wie “der Studierende” taugen dagegen nicht, da Singulare immer mit Genus aufgeladen sind. Meine Erfahrung ist, dass es weniger eine Frage der Möglichkeiten als des Willens ist. - Kulturgut Buch — bröckelt der Mythos? | Deutschlandfunk Kultur → ein nachdenkliches interview mit jörg sundermeier vom famosen verbrecher-verlag zur lage des buchmarktes und der literatur im ganz allgemeinen
Ich glaube, momentan ist eher das Problem nicht so sehr, dass die Leute nicht lesen wollen oder nicht lesen können, sondern dass es ein bisschen demi mode ist, und ich habe aber den Eindruck, dass es sich ändert und dass das Lesen wieder zurückkommt,
- “Gewonnen hat die deutsche Nation” | Zeit → noch ein älteres interview, das schon lange in meiner leseliste schlummert: georg schmidt spricht über den dreißigjährigen krieg (die leserkommentare ignoriert man aber besser …)
- The Ultimate Productivity Blog → großartig, sehr treffend auf den punkt gebracht
- Abwesenheit als Krise | Sozialtheoristen → spannende überlegungen von stefan kühl zum problem der anwesenheitskontrollen an universitäten
Selbst in Überwachungspraktiken begabte Lehrende werden feststellen, dass sie trotz einzelner Siege über besonders auffällige Drückeberger am Ende diese Kontrollkämpfe verlieren werden. Die Kreativität von Studierenden beim Erfinden von Wegen, diese Kontrollen zu unterlaufen, wird immer größer sein als die Kreativität von Lehrenden im Erfinden neuer Wege der Kontrolle. Anwesenheitslisten sind deswegen ein stumpfes Schwert, um das Leistungsniveau von Studierenden anzuheben. […] Das Problem der Abwesenheit von Studierenden ist also nicht vorrangig ein Problem der Qualität der Lehrenden, sondern liegt vielmehr in der Gestaltung der Studiengänge selbst […] Statt auf das Problem der Abwesenheit mit dem eher brachialen Mittel der Anwesenheitsliste zu reagieren, gäbe es eine Alternative. Man könnte chronische Abwesenheiten – oder Anwesenheiten, die nur über Anwesenheitslisten durchgesetzt werden können – als ein Zeichen dafür sehen, dass irgendetwas in dem Studiengang nicht stimmt.
- Trump ist der Geburtshelfer von “Me Too” | SZ → eine gute — und wie mir scheint, sehr treffende — einordnung von hedwig richter der #MeToo-bewegung in den wandel von männer-/männlichkeitsbildern und die geschichte der gleichberechtigung
Die Empörung über die Gewaltigen, die sich der Leiber der anderen bedienen, ist mehr als ein Hashtag und etwas anderes als eine Hetzjagd. Sie ist das Ende der letzten Selbstverständlichkeit: Das Zweifel- und Bedenkenlose einer männlichen Herrschaft, das in die Körper eingeschrieben war, scheint endgültig außer Kraft gesetzt zu sein.
- The Horizon of Desire | Longreads → ein hervorragender essay von laurie penny über konsens, rape culture, männlich- und weiblichkeit und die damit einhergehenden (stereotypen) erwartungen an das verhalten beim sex
Rape culture is not about demonizing men. It is about controlling female sexuality. It is anti-sex and anti-pleasure. It teaches us to deny our own desire as an adaptive strategy for surviving a sexist world. […] But unless we talk about desire, about agency, about consent, then we’ll only ever be fighting this culture war in retreat. It’s a real war, one that impacts our bodily autonomy and our economic and political power. The battle for female desire and agency goes way beyond the bedroom, and it’s a battle that right now everyone is losing.

Ins Netz gegangen am 22.9.:
- Wahlwerbung über access.log | heise → kreative, aber nicht sonderlich effektive idee für die wahlwerbung: access.logs zu nutzen …
- Fragment einer Bibel von Gutenberg gefunden | VÖB-Blog → der augsburger bibliothekar fand in seiner bibliothek ein fragment einer gutenberg-bibel — eine seite, die als einband fü rein anderes buch genutzt wurde
- The power of the comma| The Economist → über das komma und seine optionale notwendigkeit, am beispiel des englischen und amerikanischen gebrauchs
As much as people want the rules for commas to be ironclad, no mechanistic rules can substitute for slow proofreading and redrafting, or even better, a good editor. And having some flexibility in punctuation is one of the things that gives an author a style.
- Nur Gutes aus der Region? Die Krux mit den Lebensmitteln von nebenan | Geschichte der Gegenwart → nils wyssmann über den trend zu regionalen lebensmitteln — und seine ausgeblendeten schattenseiten
Doch diese Sehnsuchtsbewirtschaftung im Dienste des Regionalen funktioniert nur, weil sie die globale Dimension der beworbenen Produkte aktiv ausblendet. […] Als Realfiktion geistert die Regionalitäts-Illusion durch die Produktionsstätten und Verkaufsläden der Grossverteiler und ist dort zu einem verkaufsträchtigen Teil unseres Konsumalltags geworden.
- Alle sind betroffen | Zeit → ein gar nicht schlechter text zum “problem” der “identitäts”-politik (ich mag den begriff nicht besonders, weil er meines erachtens die gesellschaftliche dimension von ungleichheiten zu sehr vernachlässigt bzw. als individuelles problem (noch dazu als nachrangiges) impliziert … trotzdem: catherine newark schafft es, auswüchse abwägend als solche darzustellen, ohne — wie so oft — das kind mit dem bade auszuschütten

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- Geschichte linker Medien im Überblick: Eine ganz andere Sicht | taz → ein netter, kurzer abriss und überblick über linke medien in deutschland und nebenand
- Welcher Islam? Zum Islam in Feuilleton und Forschung | Geschichte der Gegenwart → almut höfert plädiert für mehr genauigkeit mit “dem islam”
Wir können weder auf den Islam- noch den Europabegriff verzichten, aber die Verwendung beider Begriffe ist sehr viel komplizierter als gemeinhin angenommen wird. Wir tun gut daran, die Grenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“ fließend zu halten und die Grundlage einer geeinten Menschheit höher zu setzen. Es wäre schon viel geholfen, zwischen spätantikem, mittelalterlichem und modernem Islam und Europa zu differenzieren: Denn der „Islam“ ist kein außerhistorisches Phänomen.
- Effizienzgewinne und Rebound-Effekte: Umweltwirkungen des Dieselantriebs im Vergleich | Zukunft Mobilität → martin randelhoff rechnet mal durch (und vor), ob der dieselantrieb wirklich so “umweltfreundlich” ist und seine steuerliche bevorzugung zu recht genießt
Insbesondere vor dem Hintergrund des erhöhten Ausstoß von gesundheitsgefährenden Luftschadstoffen stellt sich daher die Frage, ob der Dieselantrieb seine Stellung in Deutschland behalten sollte. Diese ist auch vor dem Hintergrund zu beantworten, dass der Ottomotor im Vergleich zum Dieselmotor umfangreiche CO2-Reduktionspotenziale besitzt und Alternativen zu konventionellen Antrieben konkurrenzfähig werden.
Die steuerliche Bevorzugung von Diesel-Pkw wie auch Dieselkraftstoff setzt Fehlanreize und erzeugt Rebound-Effekte, welche eine negative Klimaschutzwirkung zur Folge haben. Die Diskussion, ob der Diesel diese Begünstigung weiterhin genießen soll und – vor dem Hintergrund der hohen Folgekosten aufgrund von Gesundheitsschäden – weiterhin genießen darf, ist daher überfällig.
- Postmoderne als Pappkamerad | Geschichte der Gegenwart → noch mal “geschichte der gegenwart”, dieses mal über die misrepräsentation derpostmoderne in (vielen) aktuellen diskussionen
Wer solche Thesen aufstellt, wird selbst zum Konstrukteur, zum Konstrukteur einer Postmoderne, die mit der ‚Realität‘ der Postmoderne nichts zu tun hat. Und er wird zum Konstrukteur eines Realismus, der blind ist für die durch Konstruktionen hergestellte Realität. … Wer etwas als konstruiert voraussetzt, sagt damit nicht, dass das Konstruierte nicht real sei. … Wenn man nun aber die konservative, rechtspopulistische Mimikry von postmodernen Begriffen als ‚Postmoderne‘ liest, dann ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Dagegen hilft nur das Studium der postmodernen Theorien selbst. Denn diese eignen sich noch immer besonders gut dazu, diejenigen Konstruktionen, die ihren Konstruktionscharakter leugnen, aber auch diejenigen, die im Gewand der Subversion auftreten, zu analysieren.
- Das Deppenleerzeichen gibt es nicht: Eine Art Replik | Sprachlog → kristin kopf über das “deppenleerzeichen” und allgemein die n+n‑komposita im deutschen in all ihren formen

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- Im Gespräch: Timo Brandt redet mit Bertram Reinecke | Fixpoetry → bertram reinecke gibt timo brandt lange antworten übers verlegen, experimentelle literatur und seine eigene lyrik
Nein, ich wollte immer bloß interessante Literatur verlegen, solche, die irgendwas bietet, was man anderswo nicht geboten bekommt. Ich muss nicht jedes Jahr ein Programm füllen und kann warten, was mich trifft. Darüber hinaus verlege ich lieber Autoren, deren Besonderheit ich auch greifbar schildern kann.
[…] Insgesamt ist der Verdacht, dass bestimmte alte Formen bestimmte alte Inhalte nahelegen, zwar nie unbegründet, aber das Problem erweist sich als eines, mit dem man sehr gut umgehen kann. - Zum Geschäft der Literaturkritik heute | Volltext → daniela strigl beantwortet den “volltext”-fragebogen:
Für mich persönlich: die Simulation einer gesellschaftlichen Relevanz, die sie schon seit Längerem nicht mehr hat. Ich muss zumindest so tun, als wäre die Kritik noch wichtig, damit ich jenes Maß an Hingabe und Ernst aufbringe, das jeder literarische Text grundsätzlich verdient. Mitten in dieser mir selbst vorgespielten Wichtigkeit dämmert mir freilich die Irrelevanz meines Tuns, die wiederum eine schöne Freiheit eröffnet. Allgemein betrachtet ist die Kritik in ihrer Marginalisierung natürlich als siamesischer Zwilling an die Literatur gebunden. Der Zeitgeist hält nicht viel von Literatur und von literarischer Bildung beziehungsweise er hält sie für Luxus, ergo entbehrlich. Das wird sich einmal auch wieder ändern, bis dahin lese und schreibe ich unverdrossen weiter.
- Smarte Mobilität | taz → Martin Held, Manfred Kriener und Jörg Schindler schlagen vor, vorhandene, funktionierende Assistenzsystem bei Pkw und Lkw viel stärker einzubinden, um Unfälle zu vermeiden
Wir haben Visionen vom komplett autonomen Auto, das angeblich alles besser macht. Wir trauen uns aber nicht, nützliche Assistenzsysteme auch nur in Ansätzen vorzuschreiben?
Der oben beschriebene Einsatz der Technik wäre sofort machbar und würde eine heilsame Wirkung entfalten. Ebenso wäre in der Übergangszeit ein „Mischbetrieb“ von Fahrzeugen mit und ohne Assistenzsysteme problemlos möglich. Und noch einmal: In allen Fällen blieben die Freiheitsgrade beim Fahren so lange vollständig erhalten, wie die Rechtsvorschriften eingehalten und keine gefährlichen Fahrmanöver gestartet werden.
- Gestern böse, heute normal | Zeit → Harald Welzer über “shifting baselines” (oder, um es anders zu sagen: verändernde diskurse)
Shifting baselines sind gerade in Zeiten großer politischer Dynamik ein Problem, weil die Nachrichten, Begriffe, Konzepte und Provokationen so beschleunigt und vielfältig einander abwechseln, dass man kaum bemerkt, wie das, was gestern noch als unsagbar galt, heute schon Bestandteil eines scheinbar normalen politischen Diskurses ist. […] Wie bemerkt man solche Verschiebungen, und wie stemmt man sich dagegen? Dafür gibt es kein Patentrezept, schließlich ist man als Mitglied einer Gesellschaft stets Teil einer sich verändernden sozialen Gemeinschaft. Aber vielleicht kann man sich darin üben, gelegentlich “Augenblick mal!” zu sagen, wenn einem etwas so vorkommt, als habe man es kurz zuvor nicht mal denken, geschweige denn sagen wollen. … Einfach mal den Rede- und Denkfluss unterbrechen, die baseline am Verschieben hindern. Den eigenen moralischen Kompass eichen.
- Gedichte für alle! | NZZ Felix Philipp Ingold recht klug über die Vorteile von Lyrik, ihre Rezeption und Kritik momentan →
Im Unterschied zum Informationsgehalt des Gedichts steht seine Sprachgestalt ein für alle Mal fest, sie ist am und im Gedicht sinnlich fassbar, ist Gegenstand seiner ästhetischen Erkenntnis, dies in Ergänzung oder auch in Kompensation zu dem von ihm Gemeinten. Nicht seiner Bedeutung nach, aber als Lautgebilde hat das Wort in jedem Fall seine eigene Wahrheit – nicht zu widerlegen, nicht zu verfälschen, niemals adäquat zu übersetzen.