Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: popliteratur

ein kleiner nachtrag zum hubert-fichte-jubiläum

„Es erge­ben sich Über­schnei­dun­gen“ heißt es am Anfang der Palet­te. Und das ist, das klit­ze­klei­ne Hubert-Fich­te-Jahr zum 20. Todes­tag macht es deut­lich, noch sehr unter­trie­ben. Im Zen­trum steht natür­lich das etwas über­ra­schen­de Erschei­nen des Ban­des Die zwei­te Schuld von Fich­te selbst. Fischer, inzwi­schen Fich­tes Haus­ver­lag, hat sich ent­schlos­sen, die Geschich­te der Emp­find­lich­keit, die­ses viel­köpf­ri­ge Mons­ter, mit dem Fich­te sein schrift­stel­le­ri­sches Werk krö­nen woll­te, damit vor­zei­tig zum Abschluss zu brin­gen. Das bringt aller­dings wenig Über­ra­schun­gen, wenig prin­zi­pi­ell Uner­war­te­tes. Auch die span­nen­de Fra­ge, war­um Fich­te die­ses Buch mit einem Sperr­ver­merk ver­se­hen hat­te, hängt plötz­lich ganz und gar in der Luft: So spek­ta­ku­lär ist das alles gar nicht. Über den Zeit­punkt der Ver­öf­fent­li­chung kann man übri­gens treff­lich strei­ten. Und das ist schon typisch für alles, was mit der Geschich­te der Emp­find­lich­keit zu tun hat: Defi­ni­ti­ve Klar­hei­ten gibt es hier im Moment fast gar kei­ne, zu oft hat Fich­te hier selbst noch geschwankt. Auch sei­ne Anga­ben zur Dau­er der Sperr­frist vari­ie­ren, man hät­te das Buch auch guten Gewis­sens und mit guten Argu­men­ten erst in 10 Jah­ren her­aus­brin­gen kön­nen. Davon abge­se­hen, ist Die zwei­te Schuld eigent­lich ein unmög­li­ches Buch. Und das mehr­fach: Es ist ein­fach nicht fer­tig – und nir­gends­wo in der Geschich­te der Emp­find­lich­keit fällt das so sehr auf wie hier -, es ist aber auch eine dop­pel­te Zumu­tung an den Leser: Von Fich­te selbst und sei­tens der Herausgeber.

Das The­ma ist der deut­sche Lite­ra­tur­be­trieb – mit einem leicht eth­no­lo­gisch gefärb­ten Blick und der ewi­gen Suche suche nach den wah­ren Moti­ven des Han­delns ent­wi­ckelt Fich­te die Sze­ne­rie des Lite­ra­ri­schen Col­lo­qi­ums in Ber­lin mit sei­nen Teil­neh­mer, den Dozen­ten und Fich­te selbst. Das Buch trägt außer­dem den Unter­ti­tel „Abbit­te an Joa­chim Neu­grö­schel“. Und damit ist offen­bar das stärks­te Motiv für die­se Arbeit genannt. Denn Fich­te geht es gar nicht so sehr um das LCB selbst, son­dern viel mehr um die sich dort mani­fes­tie­ren­den Macht­struk­tu­ren und kreuz und quer ver­lau­fen­den Anti- und Sym­pa­thien. Erar­bei­tet und geschrie­ben ist das ganz offen­sicht­lich aus einem Unbe­ha­gen, als Teil­neh­mer in die­seSi­tua­ti­on selbst ver­wi­ckelt gewe­sen zu sein, die anläss­lich einer Kri­tik eines Tex­tes von Neu­grö­schel durch Grass, die Fich­te beden­ken­los fort­setz­te, in einem sym­bo­li­schen Juden- und/​oder Schwu­len­mord gip­felt. Dafür hat Fich­te eini­ge der dama­li­gen Teil­neh­mer inter­viewt. Und das sind natür­lich wie­der typi­sche Fich­te-Inter­views, mit ihrer beson­de­ren Inten­si­tät und dem zwar genau geführ­ten und gesteu­ert, aber sich stets kol­lo­quial geben­den Dia­log-Ablauf. Gespro­chen hat er mit Neu­grö­schel selbst, mit Elfrie­de Gers­tel, Her­mann Peter Piwitt und Wal­ter Höl­le­rer. Dazu kom­men immer wie­der kur­ze Skiz­zen, klei­ne Situa­ti­ons­be­schrei­bun­gen aus Ber­lin und der Grup­pe 47. Und am Ende noch eine frü­he Fich­te-Erzäh­lung, „Im Tiefstall“.

Ver­zwei­feln kann man an die­sem Buch, d.h. an sei­ner äuße­ren Gestalt. Denn so lobens­wert es ja von den Leu­ten bei Fischer ist, das noch zu ver­öf­fent­li­chen – hät­te man das nicht gleich rich­tig machen kön­nen? Wie die gesam­te Geschich­te der Emp­find­lich­keit ist das auch ein furcht­ba­rer misch­masch und nicht nur völ­lig inkon­se­quent, son­dern auch unprak­tisch und dadurch fast unles­bar. Z.B. das Höl­le­rer-Inter­view, oder bes­ser gesagt die kärg­li­chen Res­te, die Fich­te noch selbst tran­skri­biert hat­te. Im Manu­skript sind die Gesprächs­fet­zen noch mit den Initia­len ver­se­hen – weil zwi­schen­durch vie­le Dia­log­tei­le feh­len, ist das ja nicht gera­de ganz ver­kehrt. Jetzt ste­hen da nur noch Spie­gel­stri­che. Und spä­tes­tens nach ein paar sei­ten muss man raten, wer gera­de spricht – sehr müh­sam ist so etwas… Denn damit ist der zen­tra­le Teil des geplan­ten Ban­des eigent­lich über­haupt nicht les­bar, ganz zu schwei­gen davon, dass noch zwei wich­ti­ge Inter­views ganz und gar feh­len, die hat Fich­te noch nicht ein­mal geführt: Mit Oswald Wie­ner und HC Artmann.

Schon des­halb wäre der Unter­ti­tel, den Fich­te notiert hat, eigent­lich gar nicht so schlecht gewe­sen: Frag­men­te. Nun heißt der Band aber „Glos­sen“, eine der frag­wür­di­ge­re­ren Her­aus­ge­ber-Ent­schei­dun­gen. Die zwei­te Schuld ist wahr­schein­lich vor allem der Band der Geschich­te der Emp­find­lich­keit, der die Schwie­rig­kei­ten – und lei­der eben auch die Unzu­läng­lich­kei­ten – die­ser pos­tu­men Edi­ti­on am stärks­ten her­vor­te­ten lässt. Nur als zwei Bei­spie­le noch: Das unfer­ti­ge Höl­le­rer-Inter­view dru­cken die Her­aus­ge­ber mit den Coun­ter­num­mer ab, denn: „Die Lizenz Fich­tes, eine unor­tho­do­xe Gram­ma­tik und Syn­tax unge­fil­tert zu belas­sen und dafür eine ent­spre­chen­de infor­mel­le Inter­punk­ti­on ein­zu­set­zen, machen die­se zum Instru­ment, das prä­zi­se das Aus­ge­sagt über­mit­telt“ – was immer das hei­ßen soll. Oder die abschlie­ßen­de Erzäh­lung „Im Tief­stall“. Die wird gedruckt nach einer Ver­öf­fent­li­chung von 1965, nicht nach der Form, in der sie Hubert Fich­te maschi­nen­ge­schrie­ben in das Manu­skript ein­ge­fügt hat­te – ohne das irgend­wie zu begründen.

Ähn­lich unbe­frie­di­gend sind auch ande­re Novi­tä­ten, z.B. die Edi­ti­on der Hör­wer­ke bei Zwei­tau­send­eins. Immer­hin ist sie jetzt über­haupt mal erschie­nen, nach lan­gen, lan­gen Ver­zö­ge­run­gen. Aber auch hier wie­der ist die Art der Ver­öf­fent­li­chung zumin­dest ernüch­ternd, wenn nicht ver­är­gernd. Davon, dass die Kom­pri­mie­rung auf 2 mp3-CDs weder der klang­qua­li­tät noch dem Hand­ling irgend­wie ent­ge­gen­kommt (so teu­er sind doch CD-Pres­sun­gen gar nicht mehr?), die Aus­wahl bleibt, um es mil­de aus­zu­drü­cken, unbe­frie­di­gend. Fast alles wich­ti­ges fehlt: die vie­len Hör­spie­le – zu nen­nen wäre ja nur Ich wür­de ein oder Lohen­steins Ibra­him Bassa schlum­mern wei­ter­hin in den Rund­funk­ar­chi­ven – mit Aus­nah­me von Gott ist ein Mathe­ma­ti­ker, das ja schon vor eini­ger Zeit bei sup­po­sée wie­der zugäng­lich gemacht wur­de. Dort gibt es ja auch schon die wirk­lich her­aus­ra­gen­de Fich­te-Lesung im Ham­bur­ger Star­club, sei­ne Palais‑d’amour-Interviews und sei­ne Gesprä­che mit Lil Picard. Das alles hat Zwei­tau­send­eins natür­lich nicht. Dafür eine Men­ge Rund­funk­le­sun­gen, deren Aus­sa­ge­kraft sich in sehr engen Gren­zen bewegt. Denn die sind zwar alle­samt nicht schlecht, aber doch auch ziem­lich belang­los. Denn Fich­te liest in der ste­ri­len Atmo­sphä­re des Stu­di­os gewöhn­lich auch ent­spre­chend nüch­tern. Höhe­punk­te sind aber auch zu ver­zeich­nen. Das Fea­ture Djem­ma el Fna, das fast schon ein Hör­spiel ist (und damit ganz typisch für Fich­tes ganz eige­nen umgang mit dem Medi­um Radio). Auch das kur­ze Hör­spiel Romy und Juli­us von 1973, eine rol­len­ver­tau­sche Ver­si­on von Romeo und Julia, gehört ohne Zwei­fel zu den bes­se­ren arbei­ten Fich­tes. Und immer­hin ist auch San Pedro Cla­ver dabei, das Fich­te selbst zu sei­nen zen­tra­len Wer­ken gezählt hat und das sich die letz­ten Lebens­ta­ge des spa­ni­schen Jesui­ten und Mis­sio­nars in einem echt radio­pho­nen, 14stimmigen ima­gi­nä­ren Raum vor­stellt – eine para­do­xe Figur, gefan­gen zwi­schen ihrer Lie­be zu den Skla­ven und der Ange­hö­rig­keit zu einer ver­skla­ven­den Macht, der katho­li­schen Kir­che, vor­ge­stellt in einer Art sze­ni­scher Ritus, den Fich­te fas­zi­nie­rend sicher und wirk­mäch­tig beherrschte.

Es hat sich aber noch mehr getan. Schon im letz­ten jahr, 2005, war in den Ham­bur­ger Deich­tor­hal­len die „Lebens­rei­se“ von Hubert Fich­te und Leo­no­re Mau zu sehen. Das Kata­log­buch dazu schrieb Wil­fried F. Schmoel­ler – als eine Art vor­läu­fi­ge Bio­gra­phie Fich­tes. Er scheut nicht vor sei­nen Urtei­len zurück, weiß auch viel und hat eini­ges Licht in die Rei­sen Fich­tes gebracht. Nur zu Leo­no­re Mau und ihren Foto­gra­phien fällt ihm erstaun­lich wenig ein, näm­lich fast gar nichts. Dafür gibt es – bei einem als Aus­stel­lungs­ka­ta­log kon­zi­pier­ten Buch natür­lich kaum anders zu erwar­ten – eine gro­ße Aus­wahl von ihr und ande­ren Foto­gra­phen (etwa Chris­ti­an von Alvens­le­ben, der Fich­te für sein wun­der­schön kit­schi­ges Port­fo­lio 1960 einen Tag bei der Land­wirt­schafts­ar­beit in der Pro­vence beob­ach­te­te). Das hät­te ein schö­nes und ein gutes Buch wer­den kön­nen, das auch ohne die Aus­stel­lung hilf­reich und wohl­tu­end ist. Denn Schoel­ler schreckt nie vor deut­li­chen Wor­ten und eige­nen Wer­tun­gen zurück. Aber es ist doch nur eine Mogel­pa­ckung, ein Eti­ket­ten­schwin­del: Leo­no­re Mau ist eben wie­der ein­mal nur die foto­gra­fie­ren­de Dich­ter­gat­tin, die zur Illus­tra­ti­on ein paar Bil­der bei­steu­ern darf, sonst aber nach Mög­lich­keit über­haupt nicht vor­kommt. Es bleibt also doch wie­der nur Fich­tes „Lebens­rei­se“, die für Schoel­ler eher ein „Lebens­la­by­rinth“ ist (aber wer kann das nicht von sich behaup­ten?) Sei­nem „Rei­se­fahr­plan“ folgt Schoel­ler, mit aus­wer­tung der ver­streu­ten Daten, auch der Rei­se­päs­se, und stellt pflicht­ge­mäß auch die dabei ent­stan­den Bücher vor, was bei der Geschich­te der Emp­find­lich­keit zu recht kurio­sen Ein­schät­zun­gen und Ver­knap­pun­gen führt. Es hat fast den Anschein, als sei das als Vor­ar­beit, Para­li­po­me­na einer Bio­gra­phie zu ver­ste­hen – die Fra­ge ist dann nur noch, wer wagt sich als ers­tes, sei­ne Arbeit wirk­lich so zu nen­nen. Denn geschrie­ben wird sie, mehr oder weni­ger aus­führ­lich und direkt, von nahe­zu allen, die über Fich­te ver­öf­fent­li­chen. Es wäre wohl auch das nächs­te, das fol­ge­rich­ti­ge Pro­jekt – neben einer „rich­ti­gen“ Werk­aus­ga­be. Aber gera­de die wird wohl, vor allem was die Geschich­te der Emp­find­lich­keit betrifft, noch eine Wei­le Desi­de­rat bleiben.

Auch Peter Braun hat sich auf eine Rei­se bege­ben, Eine Rei­se durch das Werk von Hubert Fich­te. Das ist ein Ver­such, eine „spe­zi­fi­sche Poe­tik der Orte“ zu beob­ach­ten oder zu kon­sti­tu­ie­ren. Aber genau in die­sem Punkt bleibt die Arbeit von Braun fra­gil, schwam­mig, und unbe­stimmt: Wor­in sich denn die Orte nun genau unter­schei­den, was das „orts­ge­bun­de­ne Erzäh­len“ (43) denn nun wirk­lich aus­macht – wird kaum deut­lich. Klar, bestimm­te Din­ge passier(t)en nun ein­mal an bestimm­ten Orten. Aber ist Fich­tes Zugriff auf die Djem­ma el Fna wirk­lich kate­go­ri­al anders als der auf, sagen wir, den Gän­se­markt? Oder die Palet­te? Braun geht übri­gens noch ein Schritt­chen wei­ter als Schoel­ler und sieht den gan­zen lite­ra­ri­sche out­put gleich als „Lebens­schrei­bung“ – damit ist er dann end­gül­tig leg­timiert, das Leben und das Werk des Autors belie­big durch­ein­an­der zu wer­fen. Ent­spre­chend umstand­los springt Braun dann auch hin und her. Über­haupt ist er ein ganz gro­ßer Inte­gra­tor. Alles wird zu einem gro­ßen Buch, Leben und Werk, Roman und Inter­view, Hör­spiel und Fea­ture wird zu einem ein­zi­gen, gigan­ti­schen Werk zusam­men­ge­mixt – natür­lich hat er dabei ein klei­nes biss­chen Recht, die inter­tex­tu­el­len Bezü­ge sind ja schon bei der ers­ten Lek­tü­re über­haupt nicht zu über­se­hen. Aber er ver­liert dabei doch lei­der immer wie­der die jeweils eige­nen Qua­li­tä­ten der Tex­te aus den Augen. Zeit­li­che Struk­tu­ren der Erzäh­lun­gen Fich­tes kann Peter Braun etwa nur unzu­rei­chend, nur sehr neben­bei, über­haupt ein­mal wür­di­gen. Wenn man das so hin­ter­ein­an­der weg liest, drängt sich fast ein etwas unlieb­sa­mer Ein­druck auf: Irgend­wie bleibt ein scha­les Gefühl. Denn neu ist das nicht. Das führt bekann­te Moti­ve, Ideen, Ana­ly­sen wei­ter, aber ohne dabei wirk­lich neue Per­spek­ti­ven auf Fich­tes Wer­ke zu eröff­nen: Ein beson­de­rer Erkennt­nis­ge­winn ist hier nicht zu beob­ach­ten. Das trifft im grun­de vor allem Peter Brauns Buch – von einem Aus­stel­lungs­ka­ta­log muss man nicht unbe­dingt eigen­stän­di­ge For­schung erwar­ten. Aber auch Braun hat das bedacht und will die „Rei­se“ als Ein­füh­rung ver­stan­den sehen: „vor­ran­gi­ges Ziel […] ist es, die Schwel­le vor der eige­nen Lek­tü­re zu sen­ken.“ (16) Aber dann stellt sich natür­lich die Fra­ge: für wen bloß? Und es macht dann doch den Ein­druck, als sol­le es den geplag­ten Stu­den­ten von der Last befrei­en, Fich­te über­haupt zu lesen – die exten­si­ve, sei­ten­lan­ge Zitie­re­rei trägt da nicht unwe­sent­lich zu bei.

Wer lesen kann und das womög­lich gar selbst tut, ist dage­gen ein­deu­tig im Vor­teil – das Meis­te von dem, was Braun hier ver­sam­melt, kann, soll und muss man doch recht eigent­lich selbst ent­de­cken – es hat etwas von Vor­ver­dau­ung, wenn er aus­führ­lich und durch­aus in der Sache zutref­fend, aber letzt­lich auch über­flüs­sig für den­ken­de und ver­ste­hen­de Leser, die gan­zen Quer­ver­bin­dun­gen in Fich­tes Pro­sa auf­zu­trö­deln sucht.
Sein Blick­win­kel ist dafür natür­lich sehr stark fokus­siert (um ihn nicht ein­ge­schränkt zu nen­nen) und etwas mono­gam: Er kon­zen­triert sich auf die ein­zel­nen Orte, wo Schoel­ler mehr das Ele­ment der Rei­se, also der Bewe­gung, im Blick­feld hat: die per­ma­nen­te Ver­än­de­rung, Trans­gres­si­on, Trans­for­ma­ti­on, wie auch immer. Und er ent­deckt die­se Pro­zes­se auch in der Pro­sa Fich­tes, v.a. in der eth­no­lo­gi­schen (falls man die mal behelfs­wei­se so benen­nen darf, auch wenn es nicht ganz exakt zutrifft) natür­lich beson­ders deut­lich. Für Schoel­ler zeigt sich Fich­tes Rei­sen dabei letzt­lich nur als (mehr oder min­der) äußer­li­cher Aus­druck einer „Expe­di­ti­on nach Innen“, eines per­ma­nen­ten For­schens in nur schein­bar chao­ti­schen Sprün­gen zwi­schen Ham­burg und Bahia de Sal­va­dor, Schro­ben­hau­sen und São Luíz de Maranhão.

Allen, die das schon selbst gemerkt haben und sich immer noch näher mit Fich­te beschäf­ti­gen wol­len, sei unbe­dingt emp­foh­len: Micha­el Fischs Biblio­gra­phie, die auch gera­de in einer Neu­fas­sung erschie­nen ist. Selbst so etwas harm­lo­ses wie eine Biblio­gra­phie, die den pas­sen­den Titel Explo­si­on der For­schung führt, geht nicht ohne Tru­bel von­stat­ten, wenn es um Hubert Fich­te geht. Damals, beim Erschei­nen der ers­ten Fas­sung 1996, gab es eini­gen Wir­bel mit der Ham­bur­ger Hubert-Fich­te-Arbeits­tel­le, die auch Anspruch auf die­se Biblio­gra­phie erhob. Aber egal wie: Hilf­reich ist das schon, auch wenn die Glie­de­rung nicht immer bis ins Letz­te über­zeugt. Und doch ist sie eben genau in die­ser Form (auch) ein kla­res Zei­chen für den momen­ta­nen Umgang mit Fich­te: Die Erfor­schung scheint sich in einer Kon­so­li­die­rungs­pha­se, im Über­gang, zu befin­den: Der Autor ent­schwin­det lang­sam aber unauf­halt­sam und muss immer wie­der neu ent­deckt, d.h. ver­stan­den wer­den. Es könn­ten sich also noch ein paar mehr Über­schnei­dun­gen ergeben.

  • Hubert Fich­te: Die zwei­te Schuld. Glos­sen. (Die Geschich­te der Emp­find­lich­keit). Frankfurt/​Main: S. Fischer 2006.
  • Hubert Fich­te: Hör­wer­ke 1966–86. Hres­aus­ge­gebn von Robert Galitz, Kurt Krei­ler und Mar­tin Wein­mann. Frankfurt/​Main: Zwei­tau­send­eins 2006.
  • Wil­fried F. Schoel­ler: Hubert Fich­te und Leo­no­re Mau. Der Schrift­stel­ler und die Foto­gra­fin. Frankfurt/​Main: S. Fischer 2005.
  • Peter Braun: Eine Rei­se durch das Werk von Hubert Fich­te. Frankfurt/​Main: Fischer Taschen­buch 2005.
  • Micha­el Fisch: Hubert Fich­te – Explo­si­on der For­schung. Biblio­gra­phie zu Leben und Werk von Hubert Fich­te. Unter Berück­sich­ti­gung des Wer­kes von Leo­no­re Mau. Bie­le­feld. Ais­the­sis 2006.

(steht auch in der test­card no. 16)

was ist pop?

die ewi­ge fra­ge, wahr­schein­lich eh‘ nicht wirk­lich umfas­send und zufrie­den­stel­lend zu beant­wor­ten… aber stel­len muss man sie halt doch immer wie­der, sonst kommt man ja gar nicht vor­an, beim nach­den­ken über phä­no­me­ne des pop. dass pop mehr ist als chart­hits und main­stream-pop­mu­sik der seich­ten sor­te, inklu­si­ve ihrer kul­tur­in­dus­tri­el­len, markt­ka­pi­ta­lis­ti­schen ver­wer­tungs­or­gi­en und mar­ke­ting­kam­pa­gnen, ist ja inzwi­schen hof­fent­lich den ver­nünf­ti­gen (!) klar. aber was ist pop dann? wal­ter grass­kamp, michae­la krüt­zen und ste­phan schmitt haben beim fischer-taschen­buch-ver­lag einen klei­nen band mit „zehn ver­su­chen“ (so der unter­ti­tel) zur posi­ti­ons­be­stim­mung des pop in den ver­schie­de­nen kul­tu­rel­len fel­dern her­aus­ge­ge­ben. damit ist auch schon deut­lich, was ein gro­ßes man­ko an die­sem büch­lein ist: inhalt und titel pas­sen gar nicht so gut zusam­men. was pop als sol­cher und über­haupt ist, weiß man hin­ten­ach näm­lich immer noch genau­so wenig wie vor beginn der lek­tü­re. das hat wohl auch mit der ent­ste­hung des ban­des zu tun. ent­stan­den ist der näm­lich aus einer gemein­sa­men vor­le­sungs­rei­he der drei münch­ner kunst­hoch­schu­len (aka­de­mie, hoch­schu­le f. film & fern­se­hen, hoch­schu­le für musik & thea­ter), die eini­ge mehr oder weni­ger beru­fe­ne gast­red­ner ver­sam­mel­te, deren tex­te hier vorliegen.

in der ein­lei­tung wen­det sich der her­aus­ge­ber grass­kamp auf für mich reich­lich befremd­li­che wei­se gegen die ver­meint­lich erstar­ken­de, „ein­fluss­rei­che neu­er schu­le“ (11) der „posi­ti­on der theo­rie­feind­lich­keit“. ich weiß nicht, ob ich das ziel rich­tig iden­ti­fi­ziert habe… aber wenn, dann scheint mir grass­kamp hier doch sehr, sehr weit zu sim­pli­fi­zie­ren. und von einem sehr aus­ge­wähl­ten, typisch kunst­ge­schicht­li­chen stand­punkt aus zu urtei­len. denn natür­lich, das wer­den die hier ange­grif­fen in der regel selbst zuge­ben, ist theo­rie­lo­sig­keit ein schwe­res man­ko. aber die fra­ge ist eben, ob sie immer so theo­rie­los sind, wie es – zuge­ge­ben – leicht den anschein hat. womit sie aber unbe­dingt recht haben, ist die tat­sa­che, dass pop sich auch dar­in von „her­kömm­li­chen“, ande­rern kul­tur­ma­ni­fes­ta­tio­nen der­art unter­schei­det, dass die übli­chen, in den kunst‑, lite­ra­tur und kul­tur­wis­sen­schaft ent­wi­ckel­ten instru­men­te der erfor­schung, die her­me­neu­ti­schen ver­fah­rung, das hier prak­ti­zier­te bemü­hen um ver­ständ­nis, nicht aus­rei­chen, den pop in sei­ner spe­zi­fi­schen form zu erfas­sen und zu ver­ste­hen. mög­lich ist, dass sie hilf­reich sein kön­nen, aber mit ihnen allein wird ein wirk­lci­hes ver­ständ­nis der pop­p­hä­no­me­ne kaum gelin­gen. dazu kommt natür­lich auch noch die schlich­te tat­sa­che, dass vie­les, was – nicht nur in mei­nem ver­ständ­nis – auch und noch pop ist, über­haupt nur zu fin­den, wahr­zu­neh­men ist, wenn man mehr oder weni­ger stark im und mit dem pop lebt. wenn das dann alles in die arbeit über den pop ein­fliesst (die selbst evtl. sogar wie­der zum pop wer­den kann…), muss man noch lan­ge nicht „urba­ner bar­bar“ sein, wie gross­kamp unterstellt.

aber wei­ter zum rest: was sehr schnell beim lesen auf­fällt und was mich ziem­lich genervt hat: pop ist hier zunächst mal pop-art. und sonst kaum etwas. selbst die eigent­li­che pop-musik kommt erst spä­ter zu wort. von der pop­li­te­ra­tur (wel­cher auch immer) ganz zu schwei­gen, die fällt mal ein­fach so kom­plett unter den tisch… rudolf zwir­ners auf­satz „pop art in den usa“ ist denn auch ein total­aus­fall, falls man sich davon irgend eine ant­wort auf die fra­ge „was ist pop?“ erhoff­te. hier gibt es nur einen kur­zen, sub­jek­ti­ven abriss der pop-art eines zeit­ge­nos­sen. neben der pop-art noch sehr domi­nant in den meis­ten tex­ten: das krei­sen um die (un-)möglichkeit der unter­schei­dung zwi­schen „hoher“ und „nie­de­rer“ kunst (wobei pop natür­lich, ganz umstands­los und reflek­ti­ons­frei, der letz­te­ren zuge­ord­net wird).

so, wei­ter geht es mit boris groys und dem „pop-geschmack“. den ver­or­tet groys im gespür und inter­es­se für die zahl: dem pop­per gefällt, was vie­len gefällt… ist auf den ers­ten blick viel­leicht ein­leuch­tend, aber dann ins­ge­samt doch irgend­wie blöd und falsch. denn für solch einen pop-geschmack gibt es ja nur noch main­stream. und alles, was nicht main­stream ist, wäre dann kein ech­ter, rich­ti­ger, guter, … pop. nun ja, da bin ich bes­se­res von groys gewohnt. immer­hin gibt es ein paar licht­bli­cke. ein paar rich­ti­ge ein­bli­cke. z.bsp., wenn er beob­ach­tet: „in die­sem sin­ne ist der pop-geschmack eine fort­set­zung, eine fort­schrei­bung des avant­gar­dis­ti­schen geschma­ckes. der pop-geschmack kon­sti­tu­iert sich näm­lich dad­urt, dass er den kom­men­tar, d.h. die wor­te, durch zah­len ersetzt.“ (101) „die pop-sen­si­bi­li­tät ist näm­lich so kon­stru­iert, dass ihr trä­ger im pri­mä­ren akt der wahr­neh­mung eines kunst­werks die zah­len sei­ner ver­brei­tung mit wahr­nimmt, mit­fühlt, mit­denkt.“ (101f.) beim lesen die­ser pas­sa­gen kom­men mir dann doch zwei­fel – mög­li­cher­wei­se hat groys doch so unrecht gar nicht (was aber frag­lich bleibt: sei­ne aus­schließ­li­che fun­die­rung des pop-geschmacks auf den zah­len – da spielt sicher noch mehr mit…). denn kurz dar­auf heißt es sehr rich­tig: „der pop-geschmack ist […] ein reflek­tier­ter geschmack – er nimmt nicht nur das kunst­werk, son­der auch sei­nen kon­text wahr und beur­teilt bei­de gleich­zei­tig.“ (102) – beim abtip­pen fällt mir gera­de doch noch etwas deut­lich posi­ti­ves an die­sem auf­satz und dem gan­zen band auf: pop wird ohne zwei­fel als kunst (an)erkannt. selbst das ist ja heu­te nicht selbst­ver­ständ­lich… aber wei­ter zu groys: die ver­bin­dungs­li­ni­en, die er zwi­schen avant­gar­de und pop zieht, geben zu den­ken. denn die kom­men­ta­ti­ve rezep­ti­on ist nur ein teil. bei­de ver­bin­det außer­dem der ver­lust der geschich­te und der mas­sen, sowie ein signi­fi­kan­ter orts­wech­sel: „als ort der pro­fes­sio­nel­len kunst fun­giert heu­te also nicht mehr das muse­um, son­dern die sta­tis­tik.“ (105) das pro­blem frei­lich bleibt: so wahr das an sich ist, groys über­treibt in der ver­ab­so­lu­tie­rung die­ses fak­tums. des­halb mischen sich auch immer wie­der selt­sa­me und fal­sche state­ments unter den text – ein bei­spiel: „der pop-kon­for­mis­mus ist dage­gen ein glo­bal­kon­for­mis­mus – er ori­en­tiert sich an glo­ba­len infor­ma­ti­ons­flüs­sen, die ihm die infor­ma­tio­nen dar­über ver­mit­teln, was für die gro­ßen mehr­hei­ten in der gro­ßen außen­welt als ange­sagt gilt.“ (108) so weit mal dazu, das kom­men­tie­re ich jetzt mal nicht weiter…

auf groys folgt ein kennt­nis­rei­cher auf­satz des musik­wis­sen­schaft­lers (vom ber­li­ner insti­tut für popu­lä­re musik) peter wicke: sound­tracks. pop­mu­sik und pop-dis­kurs. immer­hin einer, der gemerkt hat, dass der begriff „pop“ nicht von der pop-art erfun­den wur­de. enjott schnei­der erzählt dage­gen in mei­nen augen viel blöd­sinn, was die rol­le und den cha­rak­ter des films angeht – aber da ken­ne ich mich kaum noch aus … lorenz engell lie­fert dage­gen eine schlüs­si­gen, inter­es­san­ten bei­trag zum tv-pop, in dem er drei prin­zi­pi­en des fern­se­hens und des­sen ent­wick­lungs­über­gän­ge mit den phä­no­men des pop kurz­schließt und zu erklä­ren ver­sucht – ein ansatz, der durch­aus charme hat. michae­le krüt­zen führt das dann in einer detail­stu­die zu mtv und deren video-music-award, das tref­fen von madon­na, spears und agui­lera im zei­chen des pop und des events, des tv und sei­nen pseu­do-events sowie den pseu­do-events zwei­ter ord­nung fort. den abschluss schließ­lich macht ulf pos­ch­ardt, hier noch kein fdp-anhän­ger, der erstaun­lich tref­fend pop als „öffent­li­ches gesicht“ zu beob­ach­ten ver­sucht, als (mög­lich­keit der) iden­ti­täts­kon­sti­tu­ti­on, wie er sie in ers­ter linie anhand von pop-vide­os nach­weist. das gan­ze unter­nimmt er v.a. vor dem hin­ter­grund der vir­tu­el­len rea­li­tät der maschi­nen, des com­pu­ters, die zur visu­el­len fäl­schung des gesichts als zei­chen der iden­ti­tät führt. damit ist natür­lich ein pro­blem offen­sicht­lich: das ver­schwin­den der iden­ti­tät, das pop revi­die­ren soll­te, ist zugleich auch ein teil des pop – als reak­ti­on auf die­ses pro­blem. „iden­ti­tät bleibt so dog­ma­tisch, als sowie­so kon­stru­iert, in der mög­lich­keits­form haf­tend.“ (254). das ist zwar ein­leuch­tend und wahr­schein­lich auch rich­tig und wahr, erklärt aber immer noch nicht: „was ist pop?“ das fra­ge­zei­chen bleibt munter ….

ja ja, diese jugend …

was machen wir bloß mit der …, wohin soll die ewig par­ty und das stän­di­ge abhän­gen nur füh­ren? das muss doch end­lich – und zwar ganz gewal­tig bald – im tota­len absturz, im end­gül­ti­gen nie­der­gang und cha­os deutsch­lands enden. joa­chim lott­mann schlägt sich damit ja immer wie­der ger­ne rum: die jugend von heu­te. ihr zustand, ihre plä­ne, ihr beneh­men, ihre orte, ihre musik, ihre was-auch-immer… las­sen ihn auch im mitt­ler­wei­le recht fort­ge­schrit­te­nen alter nicht los. das ist immer etwas erklä­rungs­be­dürf­tig, und das weiß lott­mann auch sehr genau. nur kann oder will er es nicht recht klar machen, war­um sein erzäh­ler immer noch den jun­gen leu­ten hin­ter­her­he­chelt, in ihnen immer noch die erlö­ser vom all­tag sucht.das gilt natür­lich für kein text weni­ger als für „die jugend von heute“mischung aus rai­nald goetz auf der einen und ben­ja­min lebert sowie stuck­rad-bar­re auf der ande­ren sei­te. nur eben bei wei­tem nicht so kon­se­quent wie goetz (auch lan­ge nicht so fähig zur ana­ly­se), aber lei­der auch nicht so leicht und harm­los wie die ande­ren pseu­do-pop­per. des­halb bleibt das weit­ge­hend indif­fe­rent und nichts­sa­gend – egal, von wel­chem blick­win­kel aus man das büch­lein betrachtet.

vor allem aber ist es eine fund­gru­be für lust­bar­kei­ten und schö­ne aus­sprü­che, die ich zwar gera­de abge­tippt hat­te, die mir word­press aber jetzt geklaut hat und die des­halb hier nicht mehr ste­hen. über­ig geblie­ben ist nur:

  • „unser kul­tur, also die jugend­kul­tur, war erkennt­nis­im­mun.“ (81)
  • „die­se gan­ze musik­in­dus­trie war für kin­der gemacht, für men­schen zumin­dest, die noch nie­mals vom baum der erkennt­nis genascht hat­ten und es auch nie tun würden.“

jolo (wie der autor sei­nen stell­ver­tre­ter, die erzäh­ler­fi­gur im buch nennt) wür­de sich wahr­schein­lich krumm und sche­ckig lachen über all die, die die­sen text auf irgend eine art und wei­se ernst neh­men… – vor sati­re- und iro­nie­merk­ma­len wim­melt es ja nur so im text…

man könn­te ihn natür­lich einen bor­der­line-jour­na­lis­ten nen­nen, aber das wäre blöd­sinn. denn damit wür­de man lott­mann natür­lich voll­kom­men miss­ver­ste­hen – was lott­mann wie­der­um freu­en wür­de, denn genau dar­auf spe­ku­liert er ja, dar­auf legt er es an. es geht natür­lich um etwas ande­res: wahr­heit – was ist das? eine über­flüs­si­ge, ana­chro­nis­ti­sche, in die irre füh­ren­de idee, deren haupt­man­gel es natur­ge­mäß ist, dass sie mit der wirk­lich­keit nicht zuran­de kommt, nichts mit dem erle­ben des lebens, dem „wah­ren“ leben also (ha, was für ein witz…) ein­fach kei­ne ver­bin­dung mehr ein­ge­hen kann. bzw. mög­li­cher­wei­se eh‘ nie konn­te… er selbst for­mu­liert das dann so: „Die Jugend von heu­te hat einen erwei­ter­ten Wirk­lich­keits­be­griff. […] Mei­nen. Sie glau­ben an nichts mehr, also an alles. Sie unter­schei­den nicht zwi­schen wahr und unwahr oder gut und böse. Sie däm­mern einem offe­nen Zukunfts­feld ent­ge­gen. Wo ande­re noch eine Schä­del­de­cke haben, hat die Jugend von heu­te eine weit offe­ne Tür. So ein cra­zy Lott­mann-Text kommt da gera­de recht.“
(aus der taz, wo holm frie­be, der als chef­den­ker der zen­tra­len intel­li­genz-agen­tur auch mehr­fach im text auf­taucht, dann dazu meint: „Alles Teil der Lottmann’schen Verschleierungstaktik.“)

das pro­blem mit lott­mann ist halt nur, dass er damit über­haupt nicht weit kommt. ihm fehlt ein­fach nicht nur die ana­ly­ti­sche schär­fe, son­dern auch die gestal­te­ri­sche kraft, die fähig­keit des for­mes unter ästhe­ti­schen gesichts­punk­ten – da hat ihm halt ein autor wie rai­nald goetz (übri­gens in bei­den kate­go­rien) eini­ges vor­aus … er selbst sieht das (vgl. taz-bericht) nicht als nach­teil: als „eth­no­lo­ge“ schrei­be er eben nur auf, ohne wer­tung. das ist frei­lich schon wie­der blöd­sinn, denn etwas auf­schrei­ben ohne wer­tung – wie soll das denn gehen? er hät­te halt bes­ser mal bei hubert fich­te nach­le­sen sol­len, wie so etwas aus­se­hen und (sogar unter ver­schie­de­nen gesichts­punk­ten) funk­tio­nie­ren kann. olaf kar­nik bewun­dert das dann: „sein umher­schwei­fen­des Schrei­ben, sei­ne unver­fro­re­ne Auf­zeich­nung bana­ler All­tags­be­ob­ach­tun­gen, moti­viert von kecker Selbst­er­mäch­ti­gung.“ aber das sind auch wie­der nur lee­re hül­sen: was ist an der auf­zeich­nung, die natür­lich über­haupt kei­ne rei­ne auf­zeich­nung ist, so unver­fro­ren? und was ist an der selbst­er­mäch­ti­gung (mal abge­se­hen davon, dass die wohl jeder autor auf­zu­wei­sen hat…) so keck? immer­hin ist das noch tref­fen­der als die behaup­tun­gen auf sin​gle​-gene​ra​ti​on​.de. „Mit sei­nem neu­en Buch wird er zum Avant­gar­dis­ten des Anti-Pop.“ steht da – aber stimmt das? nein, denn er bleibt natür­lich pop. nur ist der pop halt nicht mehr der der 80er – das kann man bedau­ern oder fei­ern, aber es ist halt ein­fach so…

joa­chim lott­mann: die jugend von heu­te. köln: kie­pen­heur & witsch 2004.
eine web­sei­te zum buch gibt es auch, frei­lich fast ohne inhalt, dafür mit film­chen: www​.young​-kraut​.de

ist peter licht eine trübe tasse?

ich blei­be jetzt ein­fach mal bei der frü­he­ren schreib­wei­se als nor­ma­ler name. obwohl die neue kon­tra­hier­te form den kunst­cha­rak­ter die­ser bezeich­nung ja schon deut­li­cher macht. ande­rer­seits war es ja gera­de der witz, das man (zunächst) nicht wuss­te, wo der künst­ler auf­hört und der mensch anfängt, der den frü­he­ren peter licht inter­es­san­ter gemacht hat. auch die musik sei­ner ers­ten bei­den alben, stra­to­sphä­ren­lie­der und 14 lie­der, hat mir bes­ser gefal­len als sein aktu­ells­tes, die lie­der vom ende des kapi­ta­lis­mus. und zwar nicht nur (aber auch ein wenig) text­lich (frü­her: mehr witz, mehr sku­r­il­li­tä­ten, absur­di­tä­ten der gegen­wär­tig­keit), son­dern vor allem musi­ka­lisch – wenn peter licht so stink­nor­ma­len gitar­ren­pop macht, wird das gan­ze pro­jekt irgend­wie doch eben auch ganz nor­mal und nichts beson­de­res mehr. frü­her war zwar nicht alles bes­ser, aber sei­ne musik hat­te den ent­schei­den­den kick über­dreht­heit mehr, der sie inter­es­sant wir­ken ließ.

aber hier soll es ja eigent­lich um sein buch gehen: peter­licht: wir wer­den sie­gen! buch vom ende des kapi­ta­lis­mus. mün­chen: blu­men­bar 2006. und das lässt zunächst ein­mal die übli­chen befürch­tun­gen wahr wer­den: geschrie­ben, sozu­sa­gen schwarz auf weiß, wirkt das alles nur noch halb so gut – plötz­lich merkt man eben, wie bil­lig und abge­nutzt die wort­wit­ze­lei­en in wirk­lich­keit schon sind. schwarz auf weiß ist übri­gens falsch, das buch ist in (hell-)blau (mit ein wenig blass­rot) gedruckt. und in einer ziem­lich kata­stro­pha­len schrift gesetzt, mit abso­lut unmög­li­chen i‑ligaturen – sogar rück­wärts bei der ver­bin­dung gi, die einem das lesen schon fast wie­der ver­lei­den. aber immer­hin kann man ja noch peter lichts kugel­schrei­ber-gekrit­zel bestau­nen. aber auch das gab es schon mal, in der per­fek­ten form etwa bei die­ter roths tele­fon­zeich­nun­gen – wenn man sich das vor augen hält, wirkt peter licht auf ein­mal wie­der wie ein ganz klei­nes licht (‚tschul­di­gung, der witz muss­te jetzt mal sein).

die abso­lu­te und ganz typi­sche all-round-ver­mark­tung hat inzwi­schen von peter licht besitz ergrif­fen: musik, thea­ter, buch, dem­nächst kommt bestimmt noch ein kino­film… auch sei­ne masche mit der anony­mi­tät ist natür­lich eben nur eine masche, die bei der öko­no­mi­schen ver­wer­tung hilft: peter­licht ist die mar­ke, die muss erkenn­bar sein und sich vom rest abhe­ben. immer­hin behaup­tet peter licht m.w. nicht, dass es anders sei…

was ist das also für ein buch: das ist ein net­tes und hüb­sches sam­mel­su­ri­um: klei­ne erzäh­lun­gen, nota­te, gedan­ken-fund­stel­len, sinn­sprü­che und natür­lich lied­tex­te (kom­plett erwar­tungs­ge­mäß die „lie­der vom ende des kapi­ta­lis­mus“, aber auch ande­re, älte­re – inklu­si­ve dem fast unver­meid­li­chem „son­nen­deck“, das über­ra­schen­der­wei­se zu den gelun­gens­ten sei­ten die­ses buches gehört:

„wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm sonnendeck
bin ich bin ich bin ich bin ich
und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm sonnendeck
oder im aquarium
bin ich bin ich
und alles was ist
dau­ert drei sekunden:
eine sekun­de für vor­her eine für nachher
und eine für mittendrin
für da wo der glet­scher kalbt
wo die sekunden
ins blaue meer fliegen

und wenn ich nicht hier bin
bin ich aufm sonnendeck
bin ich bin ich bin ich bin ich“

[mit den drei sekun­den hat er sogar mal wirk­lich recht, das haben die psy­cho­lo­gen ja als die unge­fäh­re zeit­span­ne der „gegen­wart“ bestim­men kön­nen.]

dane­ben steht aber auch etli­ches an lei­der ziem­lich ein­fäl­tig-pri­mi­ti­ven lyrik – zusam­men gemischt zu einer in jedem zei­chen, in jedem bana­len gekrit­zel bedeu­tung sug­ge­rie­ren­den mix­tur, die aber auch wie­der nur lee­res geblub­ber ist. das gan­ze dreht sich ger­ne immer wie­der um licht & damit ver­bun­de­ne meta­phern. aber die zweit- oder dritt­ver­wer­tung sei­ner ideen & gedan­ken, die in ihren ursprüng­li­chen for­men – meist eben dem lied – wesent­lich fri­scher & inter­es­san­ter wir­ken & auch sind, wie das die „trans­syl­va­ni­sche ver­wand­te“ sehr deut­lich macht, lässt sich am bes­ten wie­der mit peter licht selbst cha­rak­te­ri­sie­ren: „das hier macht lala­la und ver­sen­det sich“ punkt.

sei­nem spiel­trieb hat er dabei rei­lich frei­en lauf gelas­sen – oft wünscht man sich nichts sehn­li­cher, als den gebrauch der ver­nunft und des ver­stan­des durch den autor. ich muss dann aller­dings auch zuge­ben, dass es nicht ganz so schlimm ist, wie sich das hier jetzt lesen mag. und dass trotz allem geme­cker auch ein paar net­tig­kei­ten dabei sind. und zwar vor allem da, wo die poe­ti­sche beschrei­bun­gen ein gleich­ge­wicht mit den bana­li­tä­ten des all­tags, denen sich peter licht so ger­ne wid­met, auch sprach­lich ein­ge­hen. und außer­dem lässt sich gene­rell beob­ach­ten: eine gewis­se leich­tig­keit, ein schwe­ben, – fast wie in der schwe­re­lo­sig­keit – die schwer­kraft ist ja, dar­auf hat peter licht bereits frü­her hin­ge­wie­sen – über­flüs­sig – im welt­raum geht’s ja auch ohne sie…

aber trotz­dem: im gesam­ten scheint mir das doch eben genau die art von bedeu­tungs­schwan­ge­rem gerau­ne und pseu­do­in­tel­lek­tu­el­ler pseu­do­kunst zu sein, die mir den pop in sei­ner ein­fa­chen form der gegen­wart so oft so sehr ver­lei­det. ist das jetzt womög­lich ein deut­sches phänomen?

noch einmal bier-prosa. diesmal von franz dobler

nach „blut & bier“, den ja wirk­lich sehr unge­wa­sche­nen sto­ries von franz xaver kroetz, kommt gleich die nächs­te alko­hol-lek­tü­re: bier­herz. flüs­si­ge pro­sa von franz dobler (ham­burg: nau­ti­lus 1994). so rich­tig sau­ber ist das hier natür­lich auch nicht, das wäre von franz dobler auch wohl zu viel ver­langt. den anfang macht die wie­der­ver­wer­tung des vor­wor­tes zu einem thea­ter­stück mit dem über­ra­schen­den namen „bier­herz“, in dem dobler v.a. erklärt, dass man mit sei­nem stück so ziem­lich alles machen kann, so lan­ge nur der text von irgend jemand gespro­chen wird. das gan­ze fix ver­quirlt mit ein paar tief­schür­fen­den und jeder men­ge flach­schür­fen­den gedan­ken und ideen zum bier und sei­nem kon­sum und fer­tig sind die ers­ten drei­ßig sei­ten des neu­en büch­leins.… danach kommt lei­der nicht mehr viel: eine klei­nes „rei­se­ta­ge­buch“ durch loui­sia­na und texas mit ein paar lau­ni­gen beschrei­bun­gen der musik‑, tanz‑, bar- und bier­ver­hält­nis­se dor­ten ist da noch der höhe­punkt. der rest total ver­nach­läs­sig­bar: anek­do­ten, lau­nig erzählt, abso­lut unschein­bar und ohne beson­de­re stil­merk­ma­le, ästhe­ti­sche eigen­hei­ten oder sons­ti­ge her­aus­ra­gen­de eigen­schaf­ten: flüs­sig eben, und schnell verronnen.…

joachim lottmann beobachtet zombies in freier wildbahn

der neu­es­te anschlag lott­manns auf guten geschmack und über­kom­me­ne wer­te: joa­chim lott­mann: zom­bie nati­on. köln: kie­pen­heu­er & witsch 2006.

der erzäh­ler – ein autor-klon mit dem namen johan­nes­loh­mer, „erfin­der“ des pop-romans – beob­ach­tet sich beim recher­chie­ren /​schrei­ben eines fami­li­en­ro­mans, der sei­nem jugend­ro­man fol­gen soll: „der ers­te fami­li­en­ro­man der pop­li­te­ra­tur“ behaup­tet der klap­pen­text (was natür­lich blöd­sinn ist, allein fich­te hat da ja schon eini­ges dazu geschrie­ben). und natür­lich ist „zom­bie nati­on“ auch gar kei­ner. höchs­tens als per­si­fla­ge auf die aktu­el­le schwem­me auf dem bücher­markt. dazu ist lott­mann ja immer wie­der gut: als seis­mo­graph. und als schlag­wort-lie­fe­rant – ein bei­spiel? aber klar doch, gleich auf dem umschlag: „was frau­en den män­nern antun, ist der eigent­li­che irak-krieg unse­rer epo­che.“ das steht da ein­fach mal so und war­tet, dass jemand drauf anspringt. was ja hier­mit offi­zi­ell erle­digt wäre …

„die letz­ten tage der ber­li­ner repu­blik“ sind das zen­trum des romans – die ansprü­che sind gesun­ken, die mensch­heit war ein­mal, heu­te geht es nur noch um uns: die mit­drei­ßi­ger oder vier­zi­ger kul­tur­schaf­fen­den… typisch für lott­mann ist natür­lich wie­der der iro­nie-over­kill, sein schein-rea­lis­mus, inklu­si­ve voll­zi­tat eini­ger jour­na­lis­ti­schen arbei­ten lottmanns
(aus der sz und der taz), ver­quickt noch dazu mit eini­gen pri­va­ten abson­der­lich­kei­ten – und schon ist das neue buch fer­tig. schnell geschrie­ben, schnell gele­sen und wahr­schein­lich auch schnell wie­der vergessen.

das fabu­lie­ren hat lott­mann aber ganz gut draf: die hyper­tro­phe meta­phern­schlacht im geis­te einer simu­lier­ten erzäh­le­ri­schen unschuld, die natür­lich stän­dig geschickt umspielt wird – genau wie das ima­gi­nier­te zwie­ge­spräch zwi­schen erzäh­ler und ima­gi­nä­rem leser ger­ne mal reflek­tiert, umge­dreht wird, um dann doch kei­ne rück­sicht zu neh­men oder gera­de erst recht, je nach momen­ta­ner stim­mung: „es fällt mir schwer, den leser mit einer wie­der­ga­be eines frem­den lebens zu behel­li­gen, anstatt über das eige­ne leben zu berich­ten.“ – „der lite­ra­tur­be­trieb ver­zei­he mir, aber ich konn­te nicht anders, als wie­der mit ihr zu schlafen.“

das gesamt­pa­ket wird dann mit dem herr­li­chen rosa des umschlags abge­run­det: die züch­ti­ge unschuld – aber dann natür­lich die streich­zei­chung der bar­bu­si­gen jung­frau mit gül­de­nem haar –, die beob­ach­tung der schreck­lich ange­pass­ten jugend des jah­res 2005 und ver­zweif­lung über ihre sinn­lo­sig­keit beschäf­ti­gen lott­mann: wer schon in sei­ner jugend das leben sei­ner eltern führt – was soll aus dem noch wer­den? und wenn das ein gan­zes volk so macht? dann amü­siert man sich mit sei­ner heim­li­chen lie­be, der bild-zei­tung: „ein schö­ner beginn, eine tol­le geschich­te, mit einem nach­teil: sie stand in der bild­zei­tung und war somit erfunden.“

und wer sind nun eigent­lich die zom­bies? und die zom­bie nati­on? kei­ne ahnung. aber sie haben die gro­ße koali­ti­on ver­schul­det und verantwortet.

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