Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: peter kurzeck

Ins Netz gegangen (7.12.)

Ins Netz gegan­gen am 7.12.:

  • Mehrsprachigkeit : Ein Kind, drei Sprachen | ZEIT — mar­tin spiewak hat für die “Zeit” aufgeschrieben, wie kinder mit mehrsprachigkeit umge­hen — näm­lich in der regel pos­i­tiv.
  • Dichter und Com­put­er im radikalen Zwiege­spräch | FAZ.net — elke heine­mann geht in der FAZ der frage nach, wie dig­i­tal­isierung (die hier vor allem com­put­er­isierung meint) die lyrik verän­dert bzw. verän­dern kann/könnte/wird …

    Viele Lit­er­atur­gat­tun­gen näh­ern sich vor­sichtig den Maschi­nen an, nur die Lyrik hat Berührungsäng­ste. Wie dig­i­tal kann ein Gedicht sein?

  • Mar­lene Streeruwitz: Die Stunde der Wahrheit des Geldes | derStandard.at — mar­lene streeruwitz über die auflö­sung der demokratis­chen gesellschaft ins lachen, am beispiel der usa & don­ald trump: “Die Entwer­tung demokratis­chen Ver­han­delns in der Gesellschaft erfol­gt über die Entwer­tung von Min­der­heit­en.”

    So wird das Prinzip der Geschwis­ter­lichkeit aus der poli­tis­chen Kul­tur ent­fer­nt. Demokratie war geschwis­ter­lich gedacht. Ver­ant­wor­tung füreinan­der sollte das Prinzip sein. Die Über­nahme von Pflicht­en und die gerechte Verteilung der Rechte waren vorge­se­hen. Das bedeutete je neues Ver­han­deln der Aufteilung der Rechte und der Über­nahme von Pflicht­en. Denn. Die Grun­drechte der Per­son acht­end kann es keine endgültige Regelung dieser Verteilung geben. Es muss stets neu ver­han­delt wer­den. Kein­er und keine soll über den anderen ste­hen. Und. Um das leben zu kön­nen, müssen alle daran Beteiligten sich ihrer Grun­drechte bewusst sein. Alle müssen den Wert der Per­son an den Grun­drecht­en messen und daraus auf ihren eige­nen Wert und den der anderen schließen. Der Wert muss bewusst sein.
    […] Das Grun­drecht der Per­son auf Würde ist im Lachen der anderen aufgelöst.

    Das ist dann ziem­lich unwieder­bringlich. Denn. Es bleibt der Entschei­dung der Lachens­bes­tim­mer über­lassen, wer wie ernst genom­men wird. Die Lachen­den sind nur noch Gefol­gschaft. Im Fall von Don­ald Trump geht es genau darum. Die demokratis­che Ver­hand­lung soll durch Führung erset­zt wer­den. Der Kap­i­tal­ist will aber nicht ins Patri­ar­chat zurück­kehren. Vater zu sein. Das hieße ja auch wieder nur die Über­nahme von Ver­ant­wor­tung. Der Postkap­i­tal­ist Trump will die Welt ja nur für den Geld­fluss in seine Tasche zuricht­en. Denn. In der Logik unser­er ver­wirtschaftlicht­en Welt der frag­men­tierten Dien­stleis­tungswirtschaft gibt es als möglich­es Ziel ein­er Poli­tik ohne­hin nur die Weit­er­fül­lung der Taschen des einen Prozents der Alles­be­sitzen­den. Es ist darin dann wieder logisch, dass ein­er aus diesem Besitz­s­tand her­aus die Rhetorik der Schmähung der Anderen so authen­tisch liefern und sich so in den Besitz des Lachens der Mitschmähen­den set­zen kann.

  • Ver­hü­tung — Antibabyp­ille — hüb­sch riskant | Süddeutsche.de — ein inter­es­san­ter text von wern­er bartens, der aufzeigt, wie man leute dazu bringt, völ­lig gegen jede logik medika­mente zu bevorzu­gen, die unsicher­er sind als andere

    Unter jun­gen Frauen nimmt der Mark­tan­teil der Pillen der 3. und 4. Gen­er­a­tion trotz­dem stetig zu. Das ist einiger­maßen rät­sel­haft, denn die Risikobe­w­er­tung der Europäis­chen Arzneimit­tel­be­hörde hat ein­deutig ergeben, dass die Prä­parate zu einem deut­lich höheren Embolie- und Throm­boserisiko führen. Das Bun­desin­sti­tut für Arzneimit­tel und Medi­z­in­pro­duk­te hat im Früh­jahr 2014 entsch­ieden, dass in immer mehr Beipackzetteln auf die erhöhte Gefahr hingewiesen wer­den muss. Son­stige Kon­se­quen­zen bish­er: keine.

    die ärzte — die das ja ver­schreiben müssen — bekom­men auch ihr fett weg …

  • Leg­endäre Seleuki­den-Fes­tung Acra in Jerusalem ent­deckt -

    Die Wis­senschafter ent­deck­ten kür­zlich bei Aus­grabun­gen unter dem früheren Givati-Park­platz südlich des Tem­pel­berges Über­reste der leg­endären Fes­tung Acra. Die Zitadelle war vor etwa 2.150 Jahren unter dem Seleuki­den-König Anti­ochus IV. Epiphanes gebaut wor­den.

  • Städtebeschimp­fun­gen — auch cool: thomas bern­hards städtebeschimp­fun­gen, auf der karte verord­net und mit zitat­en gar­niert …
  • Jan Böh­mer­mann : Ich hab Kul­turkri­tik | ZEIT ONLINE@davidhug in der Zeit über jan böh­mer­mann, sein “ich hab polizei” und die kri­tik daran …

    Dabei ist Gang­ster­rap inzwis­chen Main­stream, ähn­lich wie Peter Maf­fay oder Xavier Naidoo es schon lange sind. Das tut vielle­icht weh, aber da müssen wir alle eben durch.

  • Überwachung für mehr Sicher­heit? Ein fataler Trend — Lobo-Kolumne — SPIEGEL ONLINE — muss man immer wieder empfehlen: sascha lobos spiegel-kolumne …

    Die Evi­denz ist tot, es lebe das medi­al insze­nierte Gefühl der Evi­denz.

  • Peter Kurzeck — ein Getrieben­er der Sprache | Frank­furter Rund­schau — claus-jür­gen göpfert berichtet in der FR über peter kurzeck, sein schreiben, seinen nach­lass und die arbeit des stroem­feld-ver­lages (und der lek­toren deu­ble & loss), den in eine pub­lika­tions­fähige form zu brin­gen:

    Im Gespräch mit seinem Fre­und Rudi Deu­ble erscheint Kurzeck als ein Getrieben­er. „Zu Ruhe kam der nie!“ Sehr früh sei er stets aufge­s­tanden in sein­er zweit­en Heimat Uzés, habe gear­beit­et bis zum Mit­tag. Dann fol­gte ein aus­gedehn­ter Spazier­gang durch die son­nen­durchglühte Land­schaft, danach ein Mit­tagessen und ein kurz­er Schlaf. Am Nach­mit­tag habe er dann wieder zu schreiben begonnen, bis etwa um 22 Uhr.

    Mit der Schreib­mas­chine: Die Seit­en waren stets nur zu einem Drit­tel bis zu ein­er Hälfte beschrieben, in ganz engem Zeilen­ab­stand, dazwis­chen hat­te der Autor noch hand­schriftliche Kor­rek­turen einge­tra­gen. Die untere Manuskripthälfte war weit­eren Anmerkun­gen gewid­met. Sym­bole wie Dreiecke und Kreuze struk­turi­erten den Text. Die Arbeit der Lek­toren glich der von Archäolo­gen.

  • Frem­den­hass : “Ich halte das für hochge­fährlich” | ZEIT ONLINE — gutes inter­view mit nor­bert frei über die aktuellen gefahren für die deutsche demokratie

    Was wir derzeit erleben, ist etwas anderes, näm­lich eine zunehmende, fun­da­men­tale Ver­ach­tung für die Demokratie, für das “Sys­tem” und die “Sys­tem­parteien”. Ich halte das für hochge­fährlich, ger­ade auch weil sich solche Stim­mungen über die dig­i­tal­en Kom­mu­nika­tion­skanäle so leicht ver­bre­it­en lassen. Dadurch ist eine Par­al­lelöf­fentlichkeit ent­standen, die sich für die “bürg­er­liche Öffentlichkeit” kaum mehr inter­essiert.

  • Jus­tiz : Das soll Recht sein? | ZEIT ONLINE — die Zeit gibt dem strafvertei­di­ger schwenn möglichkeit, auf prob­leme (wie u.a. das fehlende pro­tokoll) der deutschen strafgerichtsver­fahren aufmerk­sam zu machen

    Die größte Gefahr für den Unschuldigen lauert in den Vorentschei­dun­gen. An ihnen sind oft diesel­ben Beruf­s­richter beteiligt, die später an der Hauptver­hand­lung mitwirken und das Urteil fällen. […] Auch ein Haft­be­fehl darf nur erge­hen, wenn der Tatver­dacht drin­gend, die spätere Verurteilung eines Angeklagten also hochwahrschein­lich ist. Und da lauert die zweite Falle. Denn hat der Richter den Haft­be­fehl selb­st erlassen oder aufrechter­hal­ten, so wird es ihm später schw­er­fall­en, von der eige­nen Verurteilung­sprog­nose abzurück­en.

  • Touris­mus : “Der deutsche Urlauber hat ein aus­ge­sproch­enes Struk­turbedürf­nis” | ZEIT ONLINE — die Zeit hat mit drei sehr unter­schiedlichen reise­leit­ern darüber gesprochen, wie sie “die deutschen” im urlaub wahrnehmen und empfind­en. sehr vergnüglich
  • Wir ver­lieren täglich Tausende Daten­punk­te Zeit- und Medi­engeschichte — kon­rad lis­ch­ka weist auf ein echt­es prob­lem hin: die fehlende archivierung von online-medi­en/-nachricht­en

    Zwei Jahrzehnte Online­jour­nal­is­mus sind vor­beige­zo­gen, ohne dass jemand die Daten­ba­sis für die Erforschung dieser Grün­derzeit geschaf­fen hat. All das ist für immer ver­loren, wir haben heute dank Brew­ster Kahle immer­hin Bruch­stücke und Momen­tauf­nah­men. Enorm wichtige Dat­en für die Erforschung von The­menkar­ri­eren und verän­derten Nutzungs­ge­wohn­heit­en in den 20 Jahren Online­jour­nal­is­mus wäre die Abrufzahlen der archivierten Werke. All diese Dat­en lagen ein­mal dig­i­tal in irgendwelchen Daten­banken vor. Vielle­icht sind sie noch irgend­wo da draußen. Aber wenn heute jemand die Onlineberichter­stat­tung über den 11.9.2001 mit der über den 13.11.2015 ver­gle­ichen will, hat er noch viel weniger Mate­r­i­al als ein His­torik­er, der die archivierten Zeitungsaus­gaben aus dem 19. Jahrhun­dert für seinen Bergar­beit­er­streik unter­sucht.

Ins Netz gegangen (12.10.)

Ins Netz gegan­gen am 12.10.:

  • Lit­er­atur-Nobel­preis: Georg Diez über Patrick Modi­ano und Lutz Seil­er — SPIEGEL ONLINE — georg diez hadert mit dem “ästhetis­chen und strukurellen kon­ser­vatismus der buch­branche”:

    Das ist der Hin­ter­grund, vor dem der ästhetis­che Kon­ser­vatismus eines Romans wie “Kru­so” zele­bri­ert wird und erk­lär­bar wird: der dig­i­tale, wirtschaftliche, möglicher­weise auch poli­tis­che Epochen­bruch. Dieser Roman, der Roman an sich, so wie er ger­ade definiert wird, ist damit vor allem eine Schutzbe­haup­tung der Erin­nerung.

  • Peter Kurzeck: Der Mann, der immer gear­beit­et hat — der stroem­feld-ver­lag wird/will wohl alles, was kurzeck hin­ter­lassen hat, zu geld machen. bei einem autor, der der­maßen fast man­isch kor­rigierte und verbesserte bis zum schluss, halte ich frag­ment-aus­gaben ja nur für mäßig sin­nvoll (und es ist ja nicht so, als gäbe es nicht genug kurzeck zu lesen …). aber trotz­dem freue ich mich und bin ges­pan­nt, was da noch kommt in den näch­sten jahren

    Und dann sind da noch die Notizzettel, die Kurzeck zu Mate­ri­al­samm­lun­gen zusam­mengestellt hat, mit Titeln wie „Staufen­berg II“ und „Staufen­berg III“. Sie dien­ten ihm zur Arbeit an „Kein Früh­ling“ und „Vor­abend“, zeigen aber auch, dass „Ein Som­mer, der bleibt“, das erste der erfol­gre­ichen Erzähl-Hör­büch­er, die Kurzeck seit 2007 ein­sprach, schriftliche Vorstufen gehabt hat. Mit­ten­drin ein Notizzettel, der wie der Anfang von allem anmutet: „Das Dorf ste­ht auf einem Basalt­felsen eh + je. Jet­zt soll es das Dorf wer­den (sein) + liegt unerr­e­ich­bar im Jahr 1947, im Abend.“ Unerr­e­ich­bar. Das Ver­gan­gene wieder erre­ich­bar zu machen, hat Kurzeck bis zulet­zt ver­sucht. Losse erin­nert sich an eine Bemerkung des Autors im Frank­furter Kranken­haus: „Wir hät­ten noch mehr arbeit­en müssen.“ An der Präsen­ta­tion dessen, was fer­tig gewor­den ist, arbeit­et Kurzecks Ver­lag.

  • Schat­ten­bib­lio­theken: Pira­terie oder Notwendigkeit? — sehr span­nend: In gewalti­gen, frei zugänglichen Online-Daten­banken ver­bre­it­en anonyme Betreiber wis­senschaftliche Lit­er­atur, ohne Beach­tung des Urhe­ber­recht­es. Doch die dig­i­tal­en Samm­lun­gen sind nicht nur Pira­terie, sie weisen auch auf große Ver­säum­nisse der Wis­senschaftsver­lage hin – sagt der ungarische Pira­terie-Forsch­er Balázs Bodó. Im Inter­view mit der Jour­nal­istin Miri­am Ruhen­stroth erk­lärt er, wieso die Schat­ten­bib­lio­theken in Ost- und Mit­teluropa so gefragt sind und wie das Prob­lem zu lösen wäre.
  • Mar­i­hua­na: Die selt­same Ver­fol­gung der nüchter­nen Kif­fer | ZEIT ONLINE -

    Wer kifft, gefährdet den Straßen­verkehr. Auch ohne Rausch, jed­erzeit. Das glauben zumin­d­est Behör­den. Sie entziehen selb­st nüchter­nen Taxikun­den den Führerschein. […] Behör­den haben anscheinend Gefall­en daran gefun­den, über den Umweg des Ver­wal­tungsrechts, eigen­mächtig ein biss­chen für Ord­nung unter Cannabis-Kon­sumenten zu sor­gen.

  • xkcd: The Sake of Argu­ment — xkcd über’s Argu­men­tieren: The Sake of Argu­ment
  • Adobe is Spy­ing on Users, Col­lect­ing Data on Their eBook Libraries — The Dig­i­tal Read­er — adobe spi­oniert mit dig­i­tal edi­tions 4 die nutzer aus: im klar­text (!) wer­den nicht nurin de4 geöffnete büch­er mit ihren meta­dat­en und denen der leserin über­tra­gen, son­dern de4 durch­sucht auch ohne sich das genehmi­gen zu lassen den gesamten com­put­er nach irgendwelchen ebooks (auch solchen, die nicht in de4 benutzt wer­den), um deren dat­en eben­falls an adobe zu senden. grausam.
  • Ego­is­tis­che Zweisamkeit: Ersatzre­li­gion Liebe — Men­schen — FAZ — markus gün­ther über die “ersatzre­li­gion liebe”, die sich in let­zter zeit immer mehr aus­bre­it­et (und abso­lut set­zt):

    Zu den Kol­lat­er­alschä­den der Ersatzre­li­gion Liebe gehören aber auch die vie­len Men­schen, die allein sind. Ihr Leben wird als defiz­itär wahrgenom­men. Man ver­mutet, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Dass jemand frei­willig einen anderen als den Weg in die Part­ner­schaft geht, ist schlech­ter­d­ings unver­ständlich. Dass jemand einen geeigneten Part­ner nicht gefun­den hat, gilt als sein ganz per­sön­lich­es Ver­sagen. So oder so, er hat von sein­er Umwelt besten­falls Mitleid zu erwarten.
    […] Ist der Mythos Liebe nicht wenig­stens dafür gut, den Men­schen aus seinem Ego­is­mus her­auszuführen? Ist die Sehn­sucht nach Part­ner­schaft nicht immer noch bess­er als die Selb­st­sucht? Die Antwort lautet: Diese Art der Liebe ist nur schein­bar eine Über­win­dung der eige­nen Gren­zen. In Wahrheit han­delt es sich um eine Fort­set­zung der Ich-Bezo­gen­heit mit anderen Mit­teln, denn die Triebkraft, die wirkt, ist ja, wenn man ehrlich ist, gar nicht der Wun­sch zu lieben, son­dern der, geliebt zu wer­den.

  • Deutsch­er His­torik­ertag: Die These vom Son­der­weg war ja selb­st ein­er — jür­gen kaube berichtet sehr lau­nig, pointiert (und mit gemeinen, natür­lich abso­lut fehlgeleit­eten seit­en­hieben gegen die ger­man­is­tik …) vom göt­tinger his­torik­ertag:

    Man kann ver­mut­lich lange warten, bis zum ersten Mal ein Banki­er, eine Schrift­stel­lerin oder ein Aus­län­der den His­torik­ertag eröffnet.

    Wäre es nicht an der Zeit, ein­mal zum The­ma „Ver­gan­gen­heit“ zu tagen?

    Eine sin­nvolle Ein­heit dessen, was die His­torik­er tun, die sich durch alle ihre Forschun­gen zöge, gibt es nicht. Und wenn die Göt­tinger Stich­probe nicht täuschte, dann gibt es nicht ein­mal Hauptlin­ien oder Trends.

  • Wilder Kaiser extreme on Vimeo — wohl das ver­rück­teste video, das ich in let­zter zeit sah (fahrrad­fahren kann man diesen stunt allerd­ings kaum noch nen­nen. und vernün­ftig ist natür­lich auch etwas ganz anderes …)
  • Auswüchse des Regi­ethe­aters: Oper der Beliebigkeit­en — Bühne Nachricht­en — NZZ.ch — der musik­wis­senschaftler lau­renz lüt­teken rech­net mit dem regi­ethe­ater aktueller prä­gung auf der opern­bühne ab:

    Denn die landläu­fige Behaup­tung, dass man etwas heute «so» nicht mehr machen könne, ist nicht nur tele­ol­o­gis­ch­er Unfug, sie ist überdies unlauter. In den Opern­häusern regiert näm­lich ein unange­focht­en­er Kanon, der weitaus fes­ter zemen­tiert ist als noch vor fün­fzig Jahren. So spricht gewiss nichts dage­gen, den Anteil neuer Werke zu erhöhen, aber es ist mehr als frag­würdig, die alten Werke mit immer neuen Bildern ver­meintlich «mod­ern» zu machen und sich damit behaglich im Kanon einzuricht­en. Zudem hat der Mod­erne-Begriff, der hier bedi­ent wird – das «Ver­störende», «Provozierende», «Bestürzende» –, inzwis­chen selb­st so viel Pati­na ange­set­zt, dass man ihn get­rost in die Geschichte ent­lassen sollte.

    ich bin dur­chaus geneigt, ihm da zumin­d­est in teilen zuzus­tim­men: die regie hat sich oft genug verselb­ständigt (auch wenn ich eine tota­l­ablehnung, die ich bei ihm zwis­chen den zeilen lese, nicht befür­worte). dage­gen führt er an:

    Die his­torische Ver­ant­wor­tung im Umgang mit Tex­ten der Ver­gan­gen­heit ist nichts Ent­behrlich­es, sie ist auch nicht, wie so oft behauptet, ein Relikt alt­modis­chen Philolo­gen­tums, zumal das Argu­ment für die Musik nicht gel­tend gemacht wird. Was aber nützt eine kri­tis­che Aus­gabe des «Don Gio­van­ni», wenn die Szener­ie kurz­er­hand (wie in Linz) von Sex and Crime der Pop-Stars erzählt? Texte, Par­ti­turen der Ver­gan­gen­heit bedür­fen vielmehr ein­er beson­deren Sen­si­bil­ität, denn erst, wenn es gelingt, im Ver­gan­genen das Gegen­wär­tige aufzus­püren (statt die Gegen­wart dem His­torischen ein­fach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunst­werks, auch eines musikalis­chen Büh­nenkunst­werks, bewähren.

    sein argu­ment übri­gens, statt immer wieder das selbe neu aufzufrischen öfters mal neues zu spie­len, würde ich unbe­d­ingt gerne ver­wirk­licht sehen — ich ver­ste­he die reper­toire-fix­ierung der oper eh’ nicht so ganz (die ja auch gewis­ser­maßen unhis­torisch ist — “die ent­führung aus dem serail” beispiel­sweise war kaum dazu gedacht, heute noch aufge­führt zu wer­den …)

Ins Netz gegangen (5.12.)

Ins Netz gegan­gen am 4.12.:

  • Mord: Der Para­graf | ZEIT ONLINE — Niedrige Beweg­gründe soll­ten kein Maßstab mehr sein
    Der Mord-Para­graf des Strafge­set­zbuch­es muss drin­gend über­ar­beit­et wer­den. Beileibe nicht nur, weil er von Nazi-Juris­ten for­muliert wurde.
  • Geliefert | zynæs­the­sie — wun­der­bare Liefer­ung. RT @zynaesthesie: Geliefert
  • Archae­ol­o­gy in Greece Online — An indis­pen­si­ble tool for researchers in all dis­ci­plines who wish to learn about the lat­est archae­o­log­i­cal dis­cov­er­ies in Greece and Cyprus, Archae­ol­o­gy in Greece Online/Chronique des fouilles en ligne is a rich­ly illus­trat­ed topo­graph­i­cal data­base with a map­ping fea­ture to locate field projects with­in sites and regions.
  • Lyrik­erin Elke Erb : “Es ist Leben, konkret, nicht Spiel­erei” — DIE WELT — Elke Erb spricht über das Schreiben und Leben:

    Es ist eine aktive Welt und es kommt darauf an, wie man spricht. Es ist doch ganz egal, wovon man spricht, Haupt­sache, es wird anständig erzählt.

    Die Sprache ist ein lebendi­ges Ding und nicht etwas, was schon fest­gelegt ist. Was man übri­gens auch sehen kann, wenn die Klein­lebendi­gen kom­men, die kleinen Kinder, wenn sie die Sprache nach­bilden wollen und Vor- und Nach­sil­ben aus­pro­bieren.

    Und natür­lich, ganz zen­tral:

    Die Sprache lebt, wie gesagt. Es ist Leben, konkret, nicht Spiel­erei.

    (Die Fra­gen von Dorothea von Törne kom­men mir allerd­ings dur­chaus selt­sam vor, wie hingeschmis­sene Brock­en, die warten, ob Erb irgend­wie darauf reagieren mag …

  • Ein let­ztes Gespräch mit Peter Kurzeck: „Wie sollst du dir jet­zt den erset­zen?“ — Feuil­leton — FAZ — Ein Gespräch mit Peter Kurzeck im Sep­tem­ber 2013 über Wal­ter Kem­pows­ki, Chro­nis­ten und Schrift­steller und das Tage­buch­schreiben, das noch ein­mal Kurzecks Posi­tion (zum Schreiben und zur Welt) sehr schön zusam­men­fasst:

    Ja, man denkt, man sei für die Bewahrung der Welt zuständig.

    Schön auch diese beiläu­fige Bemerkung:

    Man muss schon auf­passen, was man liest.

Ins Netz gegangen (27.11.)

Ins Netz gegan­gen am 27.11.:

  • Chro­nist seines Lebens und sein­er Epoche: Zum Tod von Peter Kurzeck — Lit­er­atur Nachricht­en — NZZ.ch — Roman Buche­li weist in seinem Peter-Kurzeck-Nachruf in der NZZ sehr richtig darauf hin, dass die Lebenserin­nerungs­beschrei­bung alleine nicht das Entschei­dende für die Größe des Kurzeckschen Werks ist:

    Nicht Prousts gepflegte «mémoire involon­taire» hat ihn umgetrieben, son­dern die panis­che Angst, das Ver­lorene und Ver­gan­gene im Vergessen noch ein­mal preis­geben zu müssen. Er über­liess sich nicht dem Strom der Erin­nerung, son­dern brachte sie, mit Nabokov, noch ein­mal und – so die uner­füll­bare Hoff­nung – lück­en­los zum Sprechen.
    […] Kurzeck hegte noch ein­mal, als hätte es die Bruch­stellen der Mod­erne und die neuen For­men des Erzäh­lens nie gegeben, den Traum von einem Ganzen, das sich im lit­er­arischen Kunst­werk nach­bilden lässt. Er mochte dabei auch nicht etwa auf das rhetorische Mit­tel ver­trauen, dass im Teil das Ganze enthal­ten sein könne, son­dern nahm sein Ver­fahren auf eine ger­adezu brachiale Weise wörtlich: Die Zeit sollte im erzählten Werk gle­ich­sam massstabgerecht noch ein­mal erste­hen. Er stand darum Balzac näher als Proust, und die deutschen Erzäh­ler des 19. Jahrhun­derts waren ihm min­destens eben­so ver­traut wie seine an raf­finierten Erzähltech­niken geschul­ten Zeitgenossen.

  • Tod im Neben­satz — taz.de — Jan Süsel­becks kluger Nachruf auf Peter Kurzeck in der taz:

    In der Melan­cholie dieser Proust’schen Dauer­med­i­ta­tion, die zu sein­er Marke wurde und ihm einen Platz in der Lit­er­aturgeschichte sicherte, ging es Kurzeck aber gar nicht um konkrete Orte. Er war kein Region­al- oder gar Heimatschrift­steller. Kurzeck träumte sich in einen ganz eige­nen Sound des Denkens und Schreibens hinein, in eine detail­vers­essene, musikalisch vor sich hin kon­tra­punk­tierende Ästhetik der Prov­inz, die tat­säch­lich alles andere als prov­inziell war. Kurzeck war auf der Suche nach utopis­chen Orten, die hät­ten existieren kön­nen

  • Die Wahrheit über die Wahrheit: Architek­turgeschichte (ganz) kurz gefasst — für so etwas muss man das Inter­net doch lieben: Architek­turgeschichte (ganz) kurz gefasst (wirk­lich ganz kurz …)
  • Nachruf Peter Kurzeck: Die ganze Zeit erzählen, immer | ZEIT ONLINE — Ein sehr anrühren­der, inten­siv­er und liebevoller Nachruf von Christoph Schröder:

    Der Tod von Peter Kurzeck ist das Schlimm­ste, was der deutschsprachi­gen Lit­er­atur seit vie­len Jahren passiert ist./

  • Koali­tionsver­trag: Der Kern des Net­zes — Tech­nik & Motor — FAZ — Da hat Michael Spehr wohl recht:

    Net­zneu­tral­ität eignet sich also bestens als Lack­mustest für Netzkompetenz./

    Und lei­der gibt es kaum Poli­tik­er (und Man­ag­er) in entsprechen­den Posi­tio­nen, die den Test beste­hen …

immer wieder oktober: peter kurzeck liest in mainz

Da sitzt er also, ver­schwindet fast hin­ter seinem Buch mit dem auf­fäl­li­gen orange­far­be­nen Umschlag, wirkt noch klein­er und zer­brech­lich­er als son­st. Aber seine Stimme, die dringt müh­e­los über das Pub­likum hin­weg bis in die let­zte Rei­he und füllt das Anti­quar­i­at am Ballplatz ganz und gar aus. Peter Kurzeck, der aus Böh­men stam­mende, bei Gießen aufgewach­sene, lange in Frank­furt lebende und nun in Süd­frankre­ich schreibende Meis­ter der Erin­nerung und der Verge­gen­wär­ti­gung liest aus seinem let­zten Buch, „Okto­ber und wer wir selb­st sind“. Die Lesun­gen Kurzecks sind immer ein Fest für seine Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwis­chen eine ganze Menge gibt – die Stüh­le im Anti­quar­i­at reicht­en gar nicht für alle, eine schön­er Erfolg für den Ver­anstal­ter, das Lit­er­atur­büro Mainz. Denn Peter Kurzeck liest nicht nur ein­fachr, was er mal, vor eini­gen Jahren, irgend­wann aufgeschrieben hat. Nein, er trägt es wirk­lich vor. Mit schweben­den Beto­nun­gen, manch­mal fast sin­gend. Und immer mit großem, beina­he kindlichem Erstaunen über diesen Text, den er da vor sich liegen hat. Dieses Erstaunen, das ist eine echte Kurzecksche Qual­ität. Es find­et sich näm­lich schon im Buch selb­st: Als Staunen über die Welt, die den Erzäh­ler umgibt. In „Okto­ber und wer wir selb­st sind“ ist es das Frank­furt im Herb­st 1983, die Woh­nung in Bock­en­heim, die Wege in der Stadt und an ihren Rän­dern, mit Frau und Kind, zum Einkaufen und zum Kinder­laden, im ver­gan­genen Som­mer und begin­nen­den Herb­st. Und natür­lich das Schreiben selb­st – der Erzäh­ler hat ger­ade sein drittes Buch begonnen. Kurzeck liest in Mainz aus den bei­den ersten Kapiteln von „Okto­ber“, die genau den Moment beschreiben, in dem der Som­mer endgülig vorüber ist. Aber in dem zugle­ich auch der Herb­st schon da ist, schon etwas Neues begonnen hat. Das klingt alles furcht­bar banal. Und ist es eigentlich auch. Nicht aber für Peter Kurzeck. Er verza­ubert das näm­lich: Durch die Erin­nerung an den All­t­ag, das übliche und das ungewöhn­liche, das banale und außeror­dentliche Geschehen wird das alles schon wieder ganz anders und beson­ders. Und durch seinen feinen, präzisen, verk­nappten und doch beredten Stil, der ihn schon so lange zu ein­er ganz außergewöhn­lichen Erschei­n­ung der deutschen Gegen­wart­slit­er­atur macht, wird es ger­adezu über­höht. Das Ergeb­nis, sein Buch und seine Lesung, ist berührend. Und mächtiger, auch dauer­hafter als der kleine, unschein­bare Mann, der sie geschaf­fen hat.

(geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung)

peter kurzeck bekommt noch einen preis

ger­ade gese­hen: peter kurzeck erhält den preis „hör­buch des jahres 2008“ — natür­lich für „ein som­mer der bleibt“. mit 15.000 euro auch ganz ansehn­lich dotiert. her­zlichen glück­wun­sch.

wenn man nicht lesen kann …

… dann sollte man eigentlich nicht ger­ade als lit­er­aturkri­tik­erin arbeit­en. warum ich diese bin­sen­weisheit hier nieder­schreibe? weil ver­e­na auf­fer­mann heute ihre kri­tik von peter kurzecks „okto­ber und wer wir selb­st sind”, über das ich hier im blog ja auch schon etwas hin­ter­lassen habe, in der süd­deutschen zeitung (lei­der online nicht zu find­en) veröf­fentlicht. und da sind so einige fehllek­türen gesam­melt. zum beispiel wird Peter Kurzeck zum „Fall des absoluten Präsens.” das klingt zwar schlüs­sig, stimmt aber über­haupt nicht. denn das span­nende und faszinierende an kurzecks schreiben ist ja ger­ade, dass er sich nicht (mehr) im präsens aufhält, dass er wie kaum ein ander­er schrift­steller das verge­hen und die vergänglichkeit der zeit, des lebens und jed­er erin­nerung auf­schreibt, zu bewälti­gen ver­sucht, in sprach­liche for­men fasst. und wie man dann auf die idee kommt, kurzeck (oder seinen erzäh­ler, aber diese unter­schei­dung inter­essiert auf­fer­mann offen­bar — wie die meis­ten lit­er­aturkri­tik­er — über­haupt nicht, sie unter­stellt ganz unbe­d­ingt einen „radikalen BIographish­mus”) als „ideale[n] Igno­rant der Außen­welt” zu charak­ter­isieren, erschließt sich mir auch nicht so ganz.

noch ein beispiel gefäl­lig? aber gerne doch: auf­fer­mann schreibt über „Okto­ber und wer wir selb­st sind”: „Noch bei keinem Buch, behauptet er, habe die Sprache ihn so sehr gepackt.” aber das ist blödsin­nig. sie macht hier gle­ich zwei fehler: zum einen ist das nicht peter kurzeck, der diese behaup­tung äußert, son­dern der erzäh­ler peta. vor allem aber geht es über­haupt nicht das aktuelle Buch von Kurzeck, son­dern um das let­zte Buch des Erzäh­lers! und einige absätze später wird diese fehllek­türe noch poten­ziert. jet­zt wird eine äußerung des erzäh­lers zu seinem let­zten buch („Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das kein­er.” — übri­gens auch noch falsch zitiert)) umstand­s­los peter kurzeck in den mund gelegt und auch noch nach 1983 datiert

was mich son­st noch so nervt an auf­fer­manns aus­las­sun­gen: sätze wie dieser hier: „Eine Sprache, die den Satz alter Ord­nung ver­mei­det.” — das ste­ht hier ein­fach mal so herum. aber was heißt dass denn? ist es über­haupt wahr? und ihre kri­tik ist voll von solchen din­gen — son­st aber bietet sie wenig, viel zu wenig. natür­lich wer­den die ver­gle­iche zu Robert Walser und Mar­cel Proust wieder aufgerufen (wie es sich in let­zter zeit einge­bürg­ert hat, natür­lich nur ex neg­a­ti­vo: „Auf die hap­pi­gen und immer wieder zu lesenden Ver­gle­iche von Proust bis Robert  Walser verzicht­en wir.” (übri­gens auch mal so ganz neben­bei ein reich­lich unglück­lich­er satz …)). natür­lich wird wieder fest­gestellt, dass man kurzeck liebt oder eben nicht (ob das so wahr ist, daran zwei­fle ich dur­chaus noch): „Entwed­er hält man das aus und ver­fällt der Sprach­melodie […] oder nicht. Es gibt keine Vier­tel- oder Hal­bliebe, nur ganz oder gar nicht.” und natür­lich wird auch wieder das topos der anspruchsvollen lit­er­atur, die zu wenige leser find­et und hat, bemüht: „Bes­timmt zu wenige, bes­timmt schreibt dieser eigen­willige Frank­furter Kyniker das Gegen­teil von Massen­ware.” (auch das ver­steckt sich wieder so eine behaup­tung: kurzeck sei ein Kyniker. so wie ich peter kurzeck, ihn selb­st und seine büch­er, kenne und ander­er­seits den Kynis­mus als bewusst entsch­iedene Entsa­gung materieller Güter und damit der gewoll­ten Rück­kehr zu der Ein­fach­heit des Naturzu­s­tandes ver­ste­he, komme ich da nicht zu ein­er übere­in­stim­mung. aber lei­der führt auf­fer­mann ja nicht weit­er aus, inwiefern kurzeck kynisch sei.

peter kurzeck: oktober und wer wir selbst sind

schon der titel ist ja ein meis­ter­w­erk — ein anspruch, den der roman auch einö?sen kann: „Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das kein­er.” (154 — das schreibt der erzäh­ler über sein zweites buch. die par­al­le­len zu peter kurzeck und dessen „das schwarze buch” von 1982 sind natür­lich alles andere als zufäl­lig. immer­hin merken die qual­ität inzwis­chen ein paar mehr. aber das sind immer noch nur die kri­tik­er — leser gibt es immer noch zu wenige. dabei hätte die lek­türe von kurzecks büch­ern für die meis­ten einen gewalti­gen gewinn und erken­nt­niszuwachs zu bieten — erhe­blich mehr als die büch­er, die sich so auf den best­sellerlis­ten tum­meln.) und auch son­st ist es wieder ein echter kurzeck — unbe­d­ingt, etwas mono­man­isch, aber faszinierend und fes­sel­nd. nicht nur wegen der stilis­tis­chen vir­tu­osität — kaum ein ander­er gegen­wär­tiger autor hat so einen unverkennbar eige­nen stil oder bess­er gesagt ton­fall: denn es klingt immer, das von kurzeck geschriebene, es schwebt qua­si schw­ere­los wie zarte kam­mer­musik — son­dern auch sein­er the­men und motive wegen. das buch ist wieder über­voll von schö­nen stellen, schö­nen for­mulierun­gen — einige ste­hen ja auch hier…

der beginn ist schon ein ende und ver­lust — oder umgekehrt: das ende ist der beginn — der anfang des erzäh­lens: –> von dort startet das schreiben, das des erzäh­lers und das des autors. aus angst, das geschehene, d.h. ver­gan­gene, zu ver­lieren — und aus dieser furcht begin­nt sofort die suche nach der vergewis­serung: „[…] wisst ihr den Som­mer noch?” (7)

und noch etwas zeigt sich schon auf den ersten seit­en: die gewis­sheit, die ver­gan­gen­heit ver­loren zu haben, ist noch stärk­er als son­st (wenn ich die let­zten büch­er recht erin­nere, die lek­türe ist jet­zt schon eine weile her): „unauffind­bar. […] für immer in einem kerk­er.” (10) da hil­ft dann nur noch das erzählen: erzählen, um die wirk­lichkeit (der ver­gan­gen­heit) aufzubauen, „in Gang” zu hal­ten.

die erin­nerung wird allerd­ings immer unsicher­er, immer ungerichteter und frag­iler: „Nachträglich kommt dir vor, du hättest ihn an ein­und­dem­sel­ben Tag wenig­stens zwei- oder dreimal gehört.” (50) aber alles ist ver­loren, die erin­nerung, das gedächt­nis, die orte, die ganze ver­gan­gene real­ität — und die gegen­wart als zuk?nftige ver­gan­gen­heit auch schon: „Wo ist der Tag hin?” (50) und diese ahnung der wieder­hol­ung der real­ität greift inzwis­chen selb­st auf die träume aus:  “[…] oder den gle­ichen Traum immer wieder?” (75) aber noch ist hoff­nung (freilich ist die auch schon zwiespältig und gebrochen): „Und dann bleibt dir für immer das Bild.” — man muss es nur richtig und immer wieder erzählen. die frage ist dann nur: „wohin jet­zt mit dieser geschichte?” (71). für diese art zu erzählen, zu schreiben gibt es allerd­ings keine direk­ten wege — und genau das macht eine wesentliche fasz­i­na­tion der lek­türe aus: „beim erzählen immer noch einen umweg.” (29). schlie?lich ist das ganze buch ein einziger umweg — eigentlich sollte es nur ein einziges kapi­tel der vorgeschichte sein, kein eigen­er roman.

auch das schreiben an sich spielt natür­lich (wieder) eine große rolle — von anfang an. und wieder ist der erzäh­ler seinem text ziem­lich gnaden­los aus­geliefert: „Noch bei keinem Buch hat die Sprache mich so sehr gepackt, wie bei diesem — oder denkst du das jedes­mal wieder?” (19) ins­beson­dere die enden der kapi­tel führen immer wieder zum prozess des schreibens hin, zum erzählen an sich, zu den pro­jek­ten des erzäh­lers. und die sind schon lange mehr oder weniger zwang­haft gewor­den: „Aus­nahm­sweise vielle­icht heut nicht mehr? Aus­ruhen? Eine Pause? Aber das fehlt mir dann mor­gen früh und was fehlt, fehlt für immer.” (111) sp?ter hei?t es dann noch ein­mal: „Doch inzwis­chen will die Zeit, die kein Einsse­hen hat, mir keine Ruhe mehr lassen.” (162)

und natür­lich auch die zeit an sich wieder the­ma — das the­mas über­haupt, das kurzeck in seinen büch­ern umtreibt (vor allem natür­lich in der chronik der frank­furter achtziger): hier ist sie aber noch offen­er the­ma­tisiert als in den let­zten werken: „Die Zeit. Als ob man sich selb­st sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die Zeit mit uns hin?” (23) oder später: „Daß die Zeit auch so schnell verge­ht! Man weiß es und kann es doch nicht begreifen” (101)
die prob­leme der zeit: ein­er­seits fliegt sie, rast davon — ander­er­seits ver­langsamt sie bis zum still­stand: „Ist für uns die Zeit ste­henge­blieben? Ist es jeden Herb­st wieder der gle­iche Tag?” (45) und dann taucht aber auch noch immer wieder die frage auf: „Wie soll man die Zeit erzählen?” (77) die kern­frage, die kurzeck (und seinen erzäh­ler) schon länger beschäftigt und begleit­et, wird nun immer expliziter gestellt: „[…] und in Ruhe die Zeit, immer weit­er die Zeit auf­schreiben. Den Fluß und die Zeit und das ganze Land.” (121)

viel stärk­er spie­len daneben allerd­ings auch die fra­gen der real­ität eine rolle: gibt es zeit über­haupt? gibt es die dinge, vor allem aber gibt es orte? — oder ist alles nur aus­gedacht, imag­iniert? die zeit wird dabei auch noch stärk­er verd­inglicht, zum objekt gemacht: „Wie die zeit selb­st. als ob es die zeit ist, die immer­fort über sie hin­stre­icht, unabläs­sig, die heilige zeit.” (94) mehr noch als früher tritt dem leser peter kurzeck hier nicht nur als phänom­e­nologe, son­dern auch als erken­nt­niskri­tik­er gegenüber. genau deshalb beherrscht ihn auch der zwang zur wieder­hol­ung (und zur wieder­hol­ung gehürt auch das erzählen als wieder­holen — auf ander­er stufe — der erlebten wirk­lichkeit): „Man muß sie glauben, weil man sie sieht, aber kann sie sich nicht erk­lären.” (47) — und dann sind ja da noch „über­all Zeichen. […] Aber wie soll man die Zeichen deuten?” (49) — Zeichen haben sich ubiq­ui­tär aus­ge­bre­it­et, alles wird zum Zeichen, der Erzäh­ler weiß nicht mehr, was jet­zt Zeichen ist und was nicht — von der Frage ihrer Bedeu­tung natür­lich ein­mal ganz abge­se­hen.

ein anderes motiv, dass neu ist, durchzieht den text auch noch: der vater des erzäh­lers taucht immer mehr und deut­lich­er auf — bish­er war es vor allem die mut­ter der erzäh­lers „peter”, die in den tex­ten vorkam — hier wird immer wieder auch auf den vater bezug genom­men.

und das alles gibt wieder so einen her­rlichen text, das man nur ins schwär­men kom­men kann. wie anders kann man auch auf solche zeilen reagieren: „Man kommt an und Ort und Zeit warten schon” (173)?

peter kurzeck: okto­ber und wer wir selb­st sind. frank­furt am main: strome­feld 2007.

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