Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: norbert scheuer

Bibliothek (gebogene Reihe)

Aus-Lese #54

Eber­hard Kolb: Otto von Bis­marck. Eine Bio­gra­phie. Mün­chen: Beck 2014. 208 Sei­ten. ISBN 978−3−406−66774−9.

kolb, bismarck (cover)Als Bio­gra­phie ist das für mich kaum satis­fak­ti­ons­fä­hig: Zu blass und ver­schwom­men bleibt das Bild. Der Mensch Bis­marck, die Per­son, tritt nahe­zu gar nicht auf – ab und an gibt es Hin­wei­se auf sei­ne Gesund­heit oder ein paar ganz weni­ge auf Frau und Kin­der. Im Vor­der­grund oder bes­ser allei­ne im Fokus steht sein poli­ti­sches Han­deln. Das beschreibt Kolb mit Zunei­gung, aber durch­aus auch mit Blick für die Ambi­va­len­zen Bis­marcks. Aber auch das Zen­trum, die Poli­tik, bleibt blut- und farb­los. Das liegt vor allem dar­an, dass Kolb oft sehr groß­zü­gig durch die Gescheh­nis­se und Taten durch eilt udn nur die Ergeb­nis­se berich­tet, den Weg aber meist nur sum­ma­risch (und oft genug mit dem Hin­weis: Die Details sind bekannt). Das wie­der­um hängt damit zusam­men, dass er kei­nen rech­ten Zugriff fin­det: Eigent­lich ist das eine preußische/​deutsche Geschich­te am Bei­spiel Bis­marcks. Und bei­des ist in die­sem Umfang natür­lich kaum beson­ders inten­siv oder tief­ge­hend zu leis­ten.

Wu Ming: Mani­tua­na. Ber­lin, Ham­burg: Asso­zia­ti­on A 2018. 509 Sei­ten. ISBN 978−3−86241−465−9.

wu ming, manituana (cover)Mani­tua­na reicht lei­der nicht an die letz­ten Bän­de von Wu Ming her­an. Das kann durch­aus dar­an lie­gen, dass der USA, ihre Unab­hän­gig­keits­krieg und der Kampf mit, um und gegen die „India­ner“ schon an sich nicht so ganz mein Ding sind. Da pas­siert dann zwar wie­der viel, es wird gekämpft, betro­gen, ver­ra­ten und ver­han­delt, eine Dele­ga­ti­on darf auch nach Eng­land rei­sen und sich im Luxus (und den Nie­de­run­gen Lon­dons) des Adels­le­bens gehö­rig fremd füh­len. Ich hat­te beim Lesen aber schon eigent­lich durch­weg den Ein­druck, dass das an Span­nung und vor allem hin­sicht­lich des bild­haf­ten, detail­rei­chen Erzäh­lens ein­fach nicht (mehr) so gut ist. Zu sehr dringt hier immer wie­der die Absicht an die Ober­flä­che und stellt sich vor den Text – und damit funk­tio­niert genau das, was bei ande­ren Tex­ten von Wu Ming die beson­de­re Span­nung und den spe­zi­el­len Reiz aus­macht, hier lei­der nicht.

Jan Peter Bre­mer: Der jun­ge Dok­to­rand. 2. Auf­la­ge. Mün­chen: Ber­lin 2019. 176 Sei­ten. ISBN 978−3−8270−1389−7.

bremer, der junge doktorand (cover)Das ist ein über­ra­schend fei­nes, klei­nes Buch. Jan Peter Bre­mer hat­te ich bis­her ja über­haupt nicht auf dem Schirm. Aber in Der jun­ge Dok­to­rand zeigt er sich durch­aus als gewief­ter Erzäh­ler, der sein Hand­werk ver­steht und vor allem ernst nimmt: Ernst neh­men in dem Sinn, dass er sich bemüht, sau­ber zu arbei­ten, Feh­ler zu ver­mei­den. Das zeigt der Text, der mit Gespür und Form­be­wusst­sein erzählt ist. Das kunst­vol­le Beherr­schen des Erzäh­lens zeigt sich auch in dem Umfang des Buches: Das ist ein klei­ner Roman. Es geht auch gar nicht so sehr um gro­ße, all­um­fas­sen­de Din­ge – die Welt wird hier nicht gera­de erzählt. Aber auch wenn er sich beschei­den gibt: Bre­mer gelingt es doch, auf den weni­gen Sei­ten mit genau­en Sät­zen, tref­fen­den Beschrei­bun­gen und Bewusst­sein für das rich­ti­ge Tem­po gro­ße The­men zu erzäh­len: Es geht um Ehe, um Gesell­schaft und Indi­vi­du­um, und natür­lich, vor allem, um Kunst – und auch ein biss­chen um nicht-nor­mier­te Lebens­läu­fe wie den des jun­gen Dok­to­ran­den, der weder jung noch Dok­to­rand ist. Das klingt in der Zusam­men­fas­sung recht tro­cken und ja, fast banal, ent­fal­tet bei Bre­mer aber eine tref­fen­den und sub­ti­le Komik. Und das macht dann ein­fach Spaß.

Nor­bert Scheu­er: Win­ter­bie­nen. 5. Auf­la­ge. Mün­chen: Beck 2019. 319 Sei­ten. ISBN 978−3−406−73964−4.

scheuer, winterbienen (cover)Die Win­ter­bie­nen haben mich etwas ent­täuscht und rat­los zurück­ge­las­sen. Ich habe Scheu­er ja durch­aus als erfah­re­nen Erzäh­ler und Autor schät­zen gelernt. Die­ser Roman hat aber mehr Schwä­chen als er mit sei­nen eher mäi­gen Stär­ken aus­glei­chen kann. Da ist zum einen die selt­sa­me Tage­buch-Fik­ti­on. Die passt näm­lich vor­ne und hin­ten nicht: Gut, dass der Tage­buch­text in Fuß­no­ten die latei­ni­schen Zita­te über­setzt, das wird noch von der Her­aus­ge­ber­fik­ti­on gedeckt. Dass (als ein Bei­spiel von vie­len) Egi­di­us Ari­mond (schon der Name macht mich ja bei­na­he wahn­sin­nig) als erfah­re­ner Imker aber nach jahr­zehn­te­lan­ger Tätig­keit sei­nem Tage­buch erklärt, was er war­um bei den Bie­nen, vor allem eben im Win­ter, macht, ist ein­fach hand­werk­li­cher bzw. erzähl­tech­ni­scher Unsinn, der einer Lek­to­rin durch­aus mal hät­te auf­fal­len dür­fen. Der Roman an sich ist für mich etwas zwie­späl­tig: Natür­lich sehr durch­drun­gen von völ­ki­scher Ideo­lo­gie, die eben wie­der durch die Tage­buch-Fik­ti­on legi­ti­miert wird. Dann ist da noch das Lei­den eines Krie­ges, der auf die Aggres­so­ren zurück­ge­fal­len wird, hier aber – in Ari­mond und den rest­li­chen, sche­men­haft auf­tau­chen­den Eifel­be­woh­nern – eher als irgend­wie gege­ben hin­ge­nom­men wird. Angeb­lich ist die erzähl­te Welt geprägt von dem „Wunsch nach einer fried­li­chen Zukunft“ – davon merkt man im Text aber reich­lich wenig. Im gan­zen bleibt mir das etwas frag­wür­dig und vor allem aus­ge­spro­chen unbe­frie­di­gend: War­um erzählt Scheu­er uns das? Und war­um ver­steckt sich der Autor so (bei­na­he) voll­kom­men hin­ter sei­ner Figur – was will mir das eigent­lich sagen?

außer­dem gele­sen:

  • Hei­mi­to von Dode­rer: Unter schwar­zen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. Mün­chen: Deut­scher Taschen­buch Ver­lag 1973. 154 Sei­ten. ISBN 3−7642−0055−3.
  • Glenn Gould: Frei­heit und Musik. Reden und Schrif­ten. 2., durch­ge­se­he­ne und ergänz­te Auf­la­ge. Dit­zin­gen: Reclam 2019 (Was bedeu­tet das alles?). 84 Sei­ten. ISBN 978−3−15−019412−6.
  • Alger­non Black­wood: Eine Kanu­fahrt auf der Donau. /​Die Wei­den. Ulm: danu­be boo­kes 2018. 154 Sei­ten. ISBN 978−3−946046−13−4.
  • Sibyl­le Schwarz: Ist Lie­ben Lust, wer bringt dann das Beschwer?. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. 58 Sei­ten. ISBN 978−3−942901−21−5.

Orte

[Kall] ist ein lite­ra­ri­scher Ort gewor­den. Aber was spielt der rea­le Ort schon für eine Rol­le? Die Men­schen ster­ben, die Häu­ser wer­den abge­ris­sen, die Flüs­se umge­lei­tet, das ein­zi­ge, was bleibt, ist die Geschich­te. Nor­bert Scheu­er

Aus-Lese #36

Nor­bert Scheu­er: Bis ich dies alles lieb­te. Neue Hei­mat­ge­dich­te. Mün­chen: Beck 2011. 101 Sei­ten

scheuer, bisIm Jahr 2011 Hei­mat­ge­dich­te zu schrei­ben, ist natür­lich eine Pro­vo­ka­ti­on – die Gat­tung gilt (genau­so wie „Hei­mat“ über­haupt) als erle­digt und über­holt. Aber immer­hin sind es „Neue Hei­mat­ge­dich­te“, die Nor­bert Scheu­er hier vor­ge­legt hat. Und sie sind lan­ge nicht so pro­vo­zie­rend, wie man erwar­ten mag. Was auch damit zusam­men­hän­gen dürf­te, dass sie schon als Gedich­te – unab­hän­gig von ihrer The­ma­tik – nich so sehr pro­vo­zie­ren kön­nen und wol­len. Eine leich­te Weh­mut lässt sich oft erken­nen, vor allem aber zeich­net die Hei­mat­ge­dich­te Scheu­ers wohl so etwas wie eine Zufrie­den­heit mit der „Hei­mat“ trotz der vorhandenen/​erworbenen Kennt­nis des Ande­ren (als das wären: Welt, Unsterb­lich­keit der Lite­ra­tur und der­glei­chen mehr) aus. „Hei­mat“ selbst ist ja eigent­lich eine sehr unge­naue Spe­zi­fi­zie­rung. Hier trifft sie vor all­me – und das ist tat­säch­lich in der Lyrik der letz­ten Jah­re nicht unbe­dingt gewöhn­lich – auf das Dorf. Man kann gera­de die ers­ten Gedich­te des Ban­des auch als eine klit­ze­klei­ne Geschich­te des Dor­fes im Zeit­raf­fer lesen, mit den Men­schen und den Tätig­kei­ten und der Umge­bung, die dazu gehört. Wo ande­re Lyri­ker Sze­nen der Stadt beschrei­ben, steht hier eben das dörf­li­che oder länd­li­che Leben und Erle­ben im Vor­der­grund. Das war aber auch schon der Unter­schied – na gut, viel­leicht über­haupt die deut­li­che und star­ke Ver­or­tung in bestimmt-unbe­stimm­ten Raum (der „Hei­mat“, auf dem Lan­de …). Die­ser Ort bleibt aber unge­nannt und nicht ganz fass­bar – es ist eine manch­mal idea­le, manch­mal nicht so ehr idea­le Kon­struk­ti­on aus dem Typi­schen.
Ein paar sehr fei­ne, kla­re (spre­chen­de) Gedich­te sind dabei, aber auch eini­ges eher mit­tel­mä­ßi­ge und auch bana­les. For­mal hat sich das lei­der auch eher schnell erschöft, hat man schnell kapiert und ist dann zwar nicht schlech­ter, aber auch nicht mehr beson­ders span­nend oder anre­gend – etwa das Spiel mti der Ober­flä­chen­form der Gedich­te udn ihrer Spra­che. Aber viel­leicht ist das eben ein­fach Lyrik der Nor­ma­li­tät (des Lebens, eben des Lebens in der Hei­mat und auf dem Land).

Juli­en Gracq: Der Ver­su­cher. Graz: Dro­schl 2014. 232 Sei­ten.

gracq, versucher„Ein Buch, das voll­stän­dig aus Ober­tö­nen besteht“ schreibt der Über­set­zer Die­ter Hor­nig im Nach­wort zu einem der Vor­bil­der für Gracq, Cha­teu­ab­ri­ands Vie de Ran­cé. Das gilt aber auch für den Ver­su­cher: Das ist näm­lich ein Roman, der maß­geb­lich von sei­ner Atmo­sphä­re lebt. Es ist fas­zi­nie­rend, wie genau und leicht Gracq die her­auf­be­schwö­ren kann: Sei­ne ele­gan­ten Beschrei­bun­gen der Ele­ganz ver­lo­re­ner Zeit(en) und unter­ge­gang­nen Epo­chen, wie sie sich im Urlaubs­le­ben in einem Strand­ho­tel mani­fes­tie­ren, las­sen eine ent­spann­te, offe­ne, zugleich erwar­ten­de und erwar­tungs­vol­le Stim­mung ent­ste­hen, die wun­der­bar zum som­mer­li­chen Schwe­ben im Urlaub, dem Ent­rückt-Sein aus dem All­tag, pas­sen. In der Land­schaft der bre­to­ni­schen Küs­te, mit ihrer Melan­cho­lie und Ver­gäng­lich­keit, die Gracq bezau­bernd beschreibt, trifft der Erzäh­ler (und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler) Gérard unter ande­rem auf Allan, eine selt­sam chan­gie­ren­de Figur zwi­schen Hoch­stap­ler und tra­gi­schem Schick­sal – und ein wun­der­sa­mes und wun­der­ba­res Kam­mer­spiel ent­fal­tet sich, das man auch ganz und gar genie­ßen kann, ohne die inter­tex­tu­el­len Anspie­lun­gen, die Gracq hier offen­bar (und mehr oder weni­ger offen­sicht­lich) ver­ar­bei­tet hat, zu ver­ste­hen.

Jan Kuhl­brodt: Stöt­zers Lied. Gesang vom Leben danach. Ber­lin: J. Frank 2013 (Quart­heft 40). 180 Sei­ten.

kuhlbrodt, stötzers liedEin selt­sa­mes Buch, das mir eher fremd geblie­ben ist. Der „Gesang“, unter­teilt in diver­se durch „Embo­lien“ getrenn­te Abschnit­te (dar­un­ter „Stöt­zers Gedich­te“, „Para­li­po­me­na zu Stöt­zer“ oder „Deut­scher Platz“) ist eine Art Pro­sa­ge­dicht. For­mal gibt sich das als Lyrik, mit Ver­sen und Stro­phen etc. Sprach­lich bleibt es aber im Gro­ßen und Gan­zen Pro­sa. Und so wie es bei­de Gat­tun­gen glei­cher­ma­ßen bedient, so bedient es sich auch bei den gro­ßen The­ma. Irgend­wie geht es immer um Geschich­te und den Umgang mit ihr, beson­ders im (post)sozialistischen Leip­zig, von Völ­ker­schlacht­denk­mal über Lenin bis zur Ästhe­tik der Plat­ten­bau­ten wird so ziem­lich alles mög­li­che ange­ris­sen und auf­ge­ru­fen. Der Klap­pen­text schreibt da ganz tref­fend:

Stöt­zer [die von Kuhl­brodt ein­ge­setz­te Spre­cher-/Re­flek­tor­fi­gur] ist ein Wahr­neh­mungs­spei­cher, ein Seis­mo­graph. […] Er nimmt das auf, was ihn über­rollt: Poli­tik, Öko­no­mie, Kunst, Geschich­te. Stöt­zer kom­men­tiert aus der Sta­tik her­aus die Bewe­gun­gen, das Aus­klin­gen des Ver­gan­ge­nen und das Her­ein­bre­chen des neu­en Jahr­tau­sends.

Das ist eine Mischung aus Bana­li­tä­ten der Ober­flä­che und tie­fer boh­ren­den Refle­xio­nen gewor­den, die unver­mit­telt neben ein­an­der auf­tau­chen und da auch ste­hen blei­ben, sich dadurch aber recht erfolg­reich gegen­sei­tig befruch­ten und ergän­zen. Dar­über hin­aus ist das aber auch ein sehr schö­nes, gut gemach­tes Buch gewor­den, das mit ver­schie­de­nen Gestal­tungs­ele­men­ten der Typo­gra­phie und der Illus­tra­tio­nen die ver­schie­de­nen Tei­le oder Ebe­nen des Tex­te gut illus­trie­rend ergänzt und ver­deut­licht.

Chris­ta Rei­nig: Feu­er­ge­fähr­lich. Neue und aus­ge­wähl­te Gedich­te. Aus­ge­wählt und mit einem Nach­wort von Klaus Wagen­bach. Ber­lin: Wagen­bach 2010 (Klaus Wagen­bachs Oktav­hef­te). 79 Sei­ten.

reinig, feuergefaerhlichWirk­lich näher gebracht hat mir die­se Aus­wahl Klaus Wagen­bachs die Lyrik von Chris­ta Rei­nig nicht. Der Anfang ist schreck­lich banal, schon die Form – bravs­te Paar- und Kreuz­rei­me in regel­mä­ßi­ger Metrik und Zwölf­zei­lern – ver­hin­dert fast das inter­es­sier­te Lesen. Zum Glück wan­delt sich das mit dem Fort­schrei­ten der Sei­ten, eine zuneh­men­de Kon­zen­tra­ti­on und Ver­dich­tung. Das macht die nun auch mal lako­nisch wir­ken­den Gedich­te bes­ser. Allein schon des­halb, weil sie nicht mehr so geschwät­zig sind. Aller­dings bleibt der Ein­druck, dass hier eine Autorin schreibt, die irgend­wie stän­dig belei­digt von der Welt und ihrer Schlech­tig­keit wirkt. Weil das oft den Bei­klang per­sön­li­chen Belei­digt­seins hat (z.B. bei „Der Ande­re“!), hat mich das etwas genervt. Die Gegen­über­stel­lung der Macht­lo­sig­kei­ten, der Ohn­macht, der rich­ti­gen Spra­che und den offi­zi­el­len Verlautbarungen/​Wörtern, den Herr­schen­den, den Mäch­ti­gen durch­zieht fast alle Tex­te mehr oder weni­ger. Das ist ja eigent­lich eine sym­pa­thi­sche Sache, weil aber vie­les mir eigent­lich zu offen­sicht­lich, zu deut­lich und ein­deu­tig gesagt ist, ver­liert das etwas von sei­ner Wir­kung.

In die Geweh­re ren­nen

mein tiefs­tes herz heißt tod
wenn das die mör­der wüss­ten
wären sie es müde (34)

außer­dem noch:

  • Arno Schmidt, »Na, Sie hät­ten mal in Wei­mar leben sol­len!« Über Wie­land – Her­der – Goe­the. Mit einem Essay von Jan Phil­ipp Reemts­ma, hrsg. von Jan Phil­ipp Reemts­ma. Stutt­gart: Reclam 2013. 234 Sei­ten. (mit dem wun­der­ba­ren Essay „Goe­the und einer sei­ner Bewun­de­rer“)
  • Ein­hard, Vita Karo­li Magni (zur Vor­be­rei­tung auf den Aus­stel­lungs­be­such in Aachen)
  • Stramm, August, Gedich­te Dra­men Pro­sa Brie­fe. Her­aus­ge­ge­ben von Jörg Drews. Stutt­gart: Reclam 1997. 242 Sei­ten.

Aus-Lese #35

Wolf­ram Mal­te Fues: InZwi­schen. Mit Zeich­nun­gen von Thitz. Mün­chen: Alli­te­ra Ver­lag 2014 (Lyrik­edi­ti­on 2000). 127 Sei­ten.

fues, inzwischenEin durch­aus fei­ner Lyrik­band, der mir mit sei­nen oft sehr lako­ni­schen, auf bru­ta­le Kür­ze zusam­men­ge­dampf­ten Gedich­ten eini­ge Lese­freu­de berei­te­te. Fues beschreibt vor allem die Ding­haf­tig­keit der Welt und ihre Erschei­nun­gen, der Gegen­stän­de und Zustän­de, Din­ge und Gesche­hen. Sein bevor­zug­tes Mit­tel ist es, Beob­ach­tun­gen oder Tat­sa­chen ein­fach unver­mit­telt auf­ein­an­der­pral­len zu las­sen. Das wird auch sprach­lich immer wie­der deut­lich: Fues bevor­zugt Kon­tras­te, das schwarz-weiß, den Vor­der- und Hin­ter­grund, jetzt und frü­her, unten oder oben und so wei­te. Die wer­den oft direkt gegen­über­ge­stellt, ohne Ver­mitt­lung, ohne ein Zwi­schen. Denn genau um die­ses „Zwi­schen“ geht es, um den Raum, der von den Begrif­fen so eröff­net wird. Dazu pas­sen auch die Ver­tau­schun­gen, gera­de der Kon­trast­paa­re:

Ein Baum wie
eine Anten­ne.
Eine Anten­ne
wie ein Baum.
Dem­nächst
bot­schaf­ten Bäu­me
blü­hen Anten­nen. (44)

Manch­mal sind Sinn und Spra­che der kur­zen Gedich­te der­ma­ßen ver­knappt und redu­ziert, dass nur noch Rät­sel blei­ben – Rät­sel, die ein lee­res Gerüst der Spra­che zei­gen, aus dem der Sinn aus­ge­trie­ben wur­de ((z.b. 32). Dabei treibt ihn neben die­ser Arbeit an der Spra­che, die zwar redu­ziert, aber auch sehr kon­zen­triert wird, gera­de die Fra­ge der Kau­sa­li­tät oder nur der Kor­re­spon­denz, der zeitlichen/​räumlichen (sprach­li­chen) Fol­ge beson­ders um. Der Titel, das „Zwi­schen“, das ist auch in sei­ner Spra­che das Span­nen­de: Das da-/in-/-/zwi­schen in der Abfol­ge, der Kau­sa­li­tät, der Ent­wick­lung, der Kor­re­la­ti­on (oder auch nicht, der nur so schei­nen­den …). Auf die Strich­zeich­nun­gen von Thitz hät­te ich gut ver­zich­ten kön­nen – für mich sind das blo­ße – oft genug schlech­te, weil bana­le – Illus­tra­tio­nen des im Gedicht vor­kom­men­den, dabei aller­dings sehr ober­fläch­lich.

Robert See­tha­ler: Ein gan­zes Leben. Ber­lin: Han­ser Ber­lin 2014. 77 Sei­ten (ebook)

seethaler, ganzes lebenDen Tra­fi­kant habe ich ja mit gro­ßem Ver­gnü­gen und Gewinn gele­sen. Des­we­gen hat mich Ein gan­zes Leben ziem­lich ent­täuscht. Mei­ne Lek­tü­re­no­ti­zen sind spar­sam: reich­lich lahm fand ich das wäh­rend des Lesen, auch erzäh­le­risch ein­fach lang­wei­lig und cha­rak­ter­los. Der Text beginnt etwas wie Stif­ter (auch sachen wie der am Beginn und Ende auf­tau­chen­de Hör­ner­han­nes und die sagen­haf­te „Kal­te Frau“ wei­sen auf die Ver­wand­schaft hin), dann kommt noch ein biss­chen Wim­schei­der und eine gehö­ri­ge Por­ti­on Franz Inner­ho­fer dazu. See­tha­ler erzählt ein Leben (aber ist das in irgend einer Hin­sicht ein gan­zes? Da sind vie­le Lücken …) eines Man­nes, der als Wai­se in ein öster­rei­chi­sches Gebirgs­tal kommt und dort – mit Aus­nah­me des Zwei­ten Welt­krie­ges – und einem spä­ten, ver­si­ckern­den Aus­bruchs­ver­such nicht her­aus­kommt. Dafür arbei­tet er nach sei­nem Beginn als land­wirt­schaft­li­cher Tage­löh­ner am Ein­zug des Fort­schritts in das Tal in Form von Seil­bah­nen mit – eines Fort­schrit­tes, der aber min­des­tens so unmensch­lich ist wie das har­te Leben zuvor. Das ist tat­säch­lich so kli­schee­haft und ein­falls­los, wie das hier klingt … Ich ver­ste­he ehr­lich gesagt die Begeis­te­rung der Rezen­sen­ten nicht so ganz – das ist mir alles zu banal und zu behä­big erzählt.

Elfrie­de Jeli­nek: Rein Gold. Ein Büh­nen­es­say. Rowohl 2013. 223 Sei­ten.

jelinek, rein goldEine Art Streit­ge­spräch zwi­schen Wotan und Brün­hil­de am Schluss des „Ring des Nibe­lun­gen“. Aber Gespräch ist fast schon zu viel gesagt: Die bei­den Stim­men mono­lo­gi­sie­rend mehr ankla­gend abwech­selnd auf ein­an­der zu oder gegen ein­an­der. Es geht um alles, näm­lich die gesam­te Welt und ihre Geschich­te. Dabei kom­men bei­de immer­zu von einem zum ande­ren, vom Hölz­chen aufs Stöck­chen – manch­mal ist es der Klang bestimm­ter Wör­ter, der den Anschluss sichert, manch­mal ein the­ma­ti­scher Zusam­men­hang, manch­mal ein sys­te­ma­ti­scher oder ein per­so­na­ler. Das macht das Lesen so anstren­gend und schwie­rig: Wie eigent­lich immer bei Jeli­nek ist auch Rein Gold total über­frach­tet. Man muss sich selbst eine Schnei­se durch die­se Text­land­schaft schla­gen, sei­nen Weg suchen und dabei so man­chen Irr­gang nicht in Kauf neh­men. Dafür bekommt man eine Ankla­ge der Macht, des auf (unbe­dien­ten) Schul­den beru­hen­den Kapi­ta­lis­mus, der Aus­beu­tung über­haupt, dem Ver­hält­nist von Män­nern und Frau­en und dem von Töch­tern und Väter im beson­de­ren. Das ist oft wit­zig, tref­fend und genau, manch­mal aber auch absurd und manisch, wie hier alles – also wirk­lich Gott und die Welt, schließ­lich ist Wotan ja nicht irgend­wer, wie er ger­ne betont, und Brün­hil­de natür­lich auch nicht – durch den Text­wolf gedreht wird.

Ich ver­ste­he noch immer nicht, was ich sage, muß es aber sagen. (210)

Die­ses ewi­ge Tex­band hat mir den Zugang hier vor allem auf den ers­ten paar Dut­zend Sei­ten ziem­lich erschwert: Wenn man nicht rein­kommt in den Rhyth­mus der Gedan­ken und Wor­te, dann bleibt man aber auch wirk­lich drau­ßen. Die schlech­te Typo­gra­phie macht das Lesen des unbän­di­gen Tex­tes aller­dings auch nicht leich­ter und ver­sagt damit total – die unpas­sen­de Type ohne Liga­tu­ren ist der Anfang, dann ist der Satz­zei­chen-Clash „!,“, der oft vor­kommt, erstaun­lich häss­lich und vor den Aus­ru­fe- und Fra­ge­zei­chen so viel Luft, dass man manch­mal kaum weiß, wo die hin­ge­hö­ren.

Es gibt nichts vom Geld Ver­schie­de­nes, denn es gibt nur Geld, es gibt Ver­schie­de­ne, aber auch von ihnen kommt nur Geld, falls sie es schon vor­her hat­ten, sonst sind sie gar nicht so ver­schie­den. Sonst sind sie die glei­chen wie wir. (89f.)

Alles Geld ist nichts ohne Ware, und die Ware ist nichts als ein beschnit­te­ner Jude, unvoll­stän­dig, aber unbe­streit­bar tüch­tig, immer tüch­tig, das sehe ich vor­aus, bis auch er endet, ach, ich weiß nicht, das sage ich, ein Gott, und die Ware ist das Wun­der­ba­re, die Ware ist das Wun­der, die wun­der­ba­re Ver­meh­rung von allem, nicht nur Brot und Fischen, Jesus auch ein Pfos­ten, klar, ver­schenkt wird nichts, der hat das gemacht, aber er war ein Dil­lo, daß er geglaubt hat, das bringt ihm was, das bringt ihm Anhän­ger oder wie oder was, ich seh sie nicht, ich sehe sie noch nicht, was woll­te ich sagen: Also die Ware ist das wun­der­tä­ti­ge Mit­tel, um aus Geld, das wan­dern muß, das zu einem bestimm­ten Zweck, näm­lich die­sem, wan­dern muß, sonst kann man sich dafür nichts kau­fen, weil dann ja oft die Waren ganz woan­ders sind als das Geld, das eben wan­dern muß, um aus Geld mehr Geld zu machen, um mehr aus sich zu machen. Um aus Geld mehr Geld zu machen. Mehr Geld zu machen und aus. (125f.)

Mat­thi­as Nawrat: Unter­neh­mer. Rein­bek: Rowohlt 2014. 137 Sei­ten.

nawrat, unternehmerDer Schwarz­wald in nicht all­zu fer­ner Zukunft: deindus­tria­li­siert, auf­ge­ge­ben, ver­las­sen, nur noch eine Rest­be­völ­ke­rung schaut zu, wie die rie­si­gen Trans­por­ter auf der Auto­bahn vor­bei nach Nor­den don­nern, in die Städ­te. Da lebt auch die klas­si­sche Fami­lie – Vater, Mut­ter, Toch­ter, Sohn – von Liba, der 13jährigen Erzäh­le­rin in Nawrats klei­nem, aber durch­aus fei­nen Roman Unter­neh­mer. Die Fami­lie, das ist der Witz, hat die Logik des Kapi­ta­lis­mus auf­ge­so­gen und über­nom­men, bis ins Letz­te des Fami­li­en­le­bens hin­ein. Die Kin­der sind damit Teil des Unter­neh­mens – eines ziem­lich dürf­ti­gen Res­te­ver­wer­ters, der in ver­las­se­nen Fabri­ken und Kraft­wer­ken nach Wert­stof­fen sucht. Das ist eine nicht ganz unge­fähr­li­che Auf­ga­be, der Sohn hat schon einen Arm ver­lo­ren und wird wäh­rend des Romans auch noch sei­ner Bei­ne beraubt. Nawrat führt hier also gewis­ser­ma­ßen die neo­li­be­ra­lis­ti­sche Spiel­art des Kapi­ta­lis­mus nach dem Ende der Pro­duk­ti­on vor. Und er zeigt wun­der­bar, wie hohl die Phra­sen der Ideo­lo­gie (gewor­den) sind. Dazu dient ihm eine fas­zi­nie­ren­de Spra­che, die – wie die Moti­ve der Erzäh­lung – zwi­schen Nai­vi­tät und Raf­fi­niert­heit, zwi­schen Spiel und töd­li­chem Ernst, zwi­schen Locker­heit und Stren­ge (in Ton und Satz­bau glei­cher­ma­ßen) pen­delt. Gera­de dadurch, dass nicht alles expli­ziert wird, sich der Leser eini­ges die­ser selt­sa­men Welt und Gesell­schaft und Fami­lie zusam­men­rei­men muss und auch oft genug auf Lücken stößt, bleibt Unter­neh­mer inter­es­sant. Schön auch, dass Nawrat sei­ne Idee dann auch nicht über­mä­ßig aus­walzt und sich mit 137 Sei­ten beschei­det – mehr ist auch über­haupt nicht nötig, der Punkt ist dann schon längst klar: „Unter­neh­mer­tum“ ist eine lee­re Wort­hül­le, die man noch als Spiel betrei­ben kann, die aber, wenn sie zur allei­ni­gen Ideo­lo­gie gewor­den ist, die Lee­re ihrer selbst vor­führt – und das Feh­len der „wah­ren“ Wer­te wie Emo­tio­nen und Gefüh­le nur noch deut­li­cher wer­den lässt.

Die Garan­tie hier­für ist der Erfolg unse­rer täg­li­chen Arbeit. Also hängt alles vom Erfolg unse­rer täg­li­chen Arbeit ab, sag­te Ber­ti. Und die­sen wie­der­um haben wir selbst in der Hand, sag­te ich. Es han­delt sich um einen Erfolgs­kreis­lauf, den wir mit unse­rer Arbeit in Bewe­gung hal­ten.

Kili­an Jor­net: Lauf oder stirb. Das Leben eines bed­i­n­ungslosen Läu­fers. Mün­chen: Malik 2013. 222 Sei­ten.

jornet, lauf oder stirbZu die­sem schö­nen und tol­len Lauf­buch oder bes­ser: Läu­fer­buch eines außer­or­dent­li­chen Läu­fers habe ich drü­ben im Lauf­blog schon alles not­wen­di­ge gesagt: Viel Licht, ein biss­chen Schat­ten: Lese­emp­feh­lung für alle Ultra-Trail-Lauf-Inter­es­sier­ten.

außer­dem noch:

  • Fried­rich Höl­der­lin, Hype­ri­on oder der Ere­mit in Grie­chen­land (Re-Lek­tü­re, weil August ist)

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