Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: jubiläum

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Ins Netz gegangen (9.11.)

Ins Netz gegan­gen am 9.11.:

  • Auf den Spuren der Rev­o­lu­tionärIn­nen | Skug → ein schön­er fotoes­say von anton tant­ner.

    Langsam bemächtigt sich hier die Natur der nur sel­ten mit Blu­men geschmück­ten Gräber, die Denkmäler von Rotarmis­ten und Strom­mas­ten rot­ten vor sich hin, an den roten Ster­nen, so sie denn noch vorhan­den sind, blät­tert die Farbe ab. Das Zeug­nis ver­gan­gener Sow­jet­macht liegt bewusst dem Ver­fall preis­gegeben, und doch, all dem Mod­er und Rost zum Trotz: Vere­inzelt bren­nt eine Kerze – als ob sich Karl Liebknechts pathetis­che Ankündi­gung, die Leichen der hinge­morde­ten Kämpfer wür­den wieder aufer­ste­hen, dere­inst erfüllen werde, als ob den Toten bes­timmt sei, in ein­er kom­mu­nis­tis­chen Zukun­ft aufer­weckt zu wer­den.

  • Durch­set­zung von Verkehrsregeln | Zukun­ft Mobil­ität → mar­tin ran­del­hoff begin­nt eine serie über die gestal­tung der mobil­itätswende mit einem plä­doy­er für eine bessere durch­set­zung der verkehrsregeln, vor allem zum schutz schwächer­er verk­er­steil­nehmer wie etwa den fußgängern
  • Die Sache mit dem Leser­schwund | BR → knut cord­sen denkt über den buch­markt und seine verän­derun­gen nach — nicht völ­lig pes­simistisch, aber doch in ziem­lich grauen far­ben — allerd­ings v.a. aus ein­er ökonomis­chen per­spek­tive
  • Das gefährliche Raunen | Zeit → bern­hard pörk­sen mit einem (auch eher pauschalen) text zur gefahr der pauschalen, sich anscheinend ver­bre­i­t­en­den kri­tik an den medi­en (ins­ge­samt):

    Gemein­sam ist ihnen die Annahme, die etablierten Medi­en in Deutsch­land seien ein im Grunde autoritäres Regime, eine Anstalt zur Pro­duk­tion geisti­gen Anpasser­tums. Gemein­sam ist ihnen auch die Behaup­tung, man selb­st gehöre zu ein­er bedro­ht­en Mei­n­ungs­min­der­heit, die im Zweifel ver­fol­gt und bru­tal geächtet werde. […] Die gegen­wär­tig kur­sieren­den The­o­rien der Ent­mündi­gung und der Manip­u­la­tion, Chiffren eines antilib­eralen Denkens und ein­er heim­lichen Sehn­sucht nach der Revolte, helfen nie­mand. Und sie ruinieren das Ver­trauen­skli­ma, das guter Jour­nal­is­mus bräuchte, ger­ade jet­zt und ger­ade heute.

  • Das Muster der Ver­schwörung | FAZ → dur­chaus inter­es­sant, auch wenn ich immer noch etwas fas­sun­g­los bin: eine ehe­ma­lige anhän­gerin chem­trail und anderen ver­schwörungs­the­o­rien erzählt
  • Luther­land ist abge­bran­nt | Mein Jahr mit Luther → achim landwehrs unbe­d­ingt lesenswerte “abrech­nung” mit dem refor­ma­tion­sju­biläum 2017 und über­legun­gen, was daraus für jubiläen udn unsere geschicht­skul­tur über­haupt fol­gt:

    was bleibt da vom Refor­ma­tion­sju­biläum? Es bleibt eine große Leere – eine Leere, die sich aber nicht bre­it­macht, weil das Jubiläum nun zu Ende gegan­gen ist. Diese Leere ist durch das Refor­ma­tion­sju­biläum selb­st pro­duziert wor­den. […] Fast zwangsläu­fig hängt diese inhaltliche Aushöh­lung mit dem Ver­such zur nahezu hem­mungslosen wirtschaftlichen Ver­w­er­tung des Jubiläums zusam­men. Die Feier zu 500 Jahren Ref­or­ma­tion fand sich eingek­lemmt zwis­chen Kirche und Kom­merz, zwis­chen Ökumene und Ökonomie. Nein, falsch. Das Refor­ma­tion­sju­biläum war nicht eingek­lemmt. Es hat ver­sucht, sich dort bequem einzuricht­en. […] Der Leer­lauf des Jubiläums­geschehens ergab sich nicht, weil es ein Zuviel an Ref­or­ma­tion gegeben hätte, son­dern weil zu wenig Ref­or­ma­tion in diesem Jubiläum war. Und der Man­gel an Ref­or­ma­tion kam dadurch zus­tande, dass man das his­torische Ereig­nis mit­samt seinen konkreten Umstän­den nur in recht homöopathis­chen Dosen zum The­ma machte. […] Unter dem Zwang zur Aktu­al­isierung ver­schwand die Indi­vid­u­al­ität und das his­torisch Spez­i­fis­che bis zu Unken­ntlichkeit. […] Wom­it wir es hier zu tun haben, hört auf den Namen ‚flache Geschichte‘: der möglichst geräuscharme, hin­dern­isfreie und vor allem unkom­plizierte Gebrauch (oder eher Miss­brauch) von Ver­gan­genem für gegen­wär­tige Zwecke. Flache Geschichte wird allen­thal­ben ver­wen­det. Es ist das ver­meintlich his­torische Stammtis­char­gu­ment, das zur Erk­lärung heutiger Zustände her­hal­ten muss, es ist die knapp erzählte Vorgeschichte, die Ver­gan­ge­nes genau soweit zurichtet, dass es sich in eine lin­eare Kausal­ität einord­net, und es ist das kurze Auf­blitzen eines Relik­ts aus dem Vorgestern, vielle­icht ein Bild, ein Zitat, ein Fil­mauss­chnitt oder ein bekan­nter Name, mit denen Ver­trautheit hergestellt und die Sicher­heit evoziert wer­den soll, dass es genau­so war. Flache Geschichte zielt drauf ab, sich der Mühen der Kom­plex­ität zu entledi­gen, die Gebirge der Zeit­en in aller Eile abzu­tra­gen, um freie Sicht auf die Ver­gan­gen­heit zu erhal­ten.

  • Wikipedia baut ab, oder: Was von „open“ übrig bleibt II | alba­tros → jür­gen fenn über die neg­a­tiv­en auswirkun­gen der entwick­lung des webs auf die (offene) organ­i­sa­tion von wis­sen:

    Es bedarf kein­er Erörterung, dass sich dies auch noch weit­er auf die herge­bracht­en Mit­mach­pro­jek­te des Web 2.0 auswirken wird. Wer an diese Tech­nik aus Apps plus Endgeräte gewöh­nt ist und damit aufwächst, wird nie auf die Idee kom­men, an einem Massen­pro­jekt wie Wikipedia teilzunehmen, weil er sich so etwas gar nicht mehr vorstellen kann. Nor­mal ist, dass man auf riesige Datenbestände zugreift, die automa­tisiert erstellt oder jeden­falls automa­tisiert aus­gewählt wor­den sind, aber nicht, dass man sie als Autor eigen­händig mit schreibt, kuratiert, pflegt und kollek­tiv ver­wal­tet. Das liegt alles zen­tral bei der Fir­ma, die es anbi­etet. Top-down, also nicht in den Hän­den ein­er Com­mu­ni­ty, bot­tom-up.

Ins Netz gegangen (13.11.)

Ins Netz gegan­gen am 13.11.:

Büchner 200

Zum 200. Geburt­stag von Georg Büch­n­er geht es rund — nicht nur wegen der neuem Biogra­phie von Her­mann Kurzke (ich habe sie noch nicht gele­sen, ver­mute aber, dass sie auf­grund des Ver­fassers und sein­er stilis­tis­chen Fähigkeit­en wahrschein­lich mehr gele­sen wird als die maßge­bliche von Hauschild (auch wenn ich mit Kurzkes Meth­od­es des fröh­lichen Zirkelschließens zwis­chen Leben und Lit­er­atur und Leben schon bei Thomas Mann so meine Prob­leme hat­te und aus mein­er Tex­tken­nt­nis etwas skep­tisch bin ob der Auf­fas­sung Büch­n­ers als vor allem christlichen Autor …)), außer­dem stürzen sich natür­lich auch die Medi­en auf das Jubiläum. Lustig fand ich wieder die “Zeit”, die ihren nicht schlecht­en, aber auch nicht beson­deren Text von Elis­a­beth von Thad­den schon eine Woche zu früh brachte — obwohl doch der 17. Okto­ber ger­ade ein Don­ner­stag ist. Aber das gehört ja inzwis­chen zur Medi­en­mechanik, alle Jubiläen möglichst früh und damit möglichst vor allen anderen zu feiern (bei Kom­pon­is­ten, die ja immer ein ganzes Jahr — Wag­n­er, Ver­di, … — bekom­men, ist es wesentlich schlim­mer).

Vielleicht Georg Büchner? - Philipp August Joseph Hoffmann (1833) (Quelle: Commons

Vielle­icht Georg Büch­n­er? — Philipp August Joseph Hoff­mann (1833) (Quelle: Com­mons)

Büch­n­er ist ja ein Autor, den man gut feiern kann: Die Texte sind kanon­isiert, es sind nicht so viele und die meis­ten auch gar nicht so lang — da kann jed­er mitre­den ;-). Und sie bieten auch vielfältige Anschlussmöglichkeit­en in alle möglichen Rich­tun­gen — vom poli­tis­chen Agi­ta­tor über den Lust­spielau­tor zum psy­chisch inter­essierten Erzäh­ler und dem medi­zinis­chen Wis­senschaftler ist für jeden Geschmack etwas dabei …

Schön gewor­den finde ich aber auch die zweite Aus­gabe von “Das Buch als Mag­a­zin”, die sich mit dem “Woyzeck” beschäftigt und wieder dem Konzept treu bleibt: Vorne den Orig­inal­text (was hier ja ein biss­chen schwierig ist, weil der Woyzeck nur als Frag­mentsamm­lung über­liefert ist), danach jour­nal­is­tis­che Text zu ver­schiede­nen nah oder fern liegen­den Aspek­ten bringt — und das ganze schick gemacht dazu.

Und wo wir schon beim Woyzeck sind: Arte hat eine Fernse­hver­sion des Woyzeck drehen lassen (in der Mediathek noch ver­füg­bar), für die Nuran David Calis die Hand­lung in den Kiez von Berlin ver­legt. Das ist vielle­icht keine geniale Leis­tung, hat aber sehr schöne Momente. Nicht zulet­zt dank Tom Schilling und Nora von Wald­stät­ten, dank der schö­nen Bilder und vor allem dank der geschick­ten Soundgestal­tung. Gewiss, Über­raschun­gen bietet das keine, ist mir aber als respek­tvolle Aneig­nung eines klas­sis­chen Textes pos­i­tiv aufge­fall­en.

Die Darm­städter Ausstel­lung — “Georg Büch­n­er. Rev­o­lu­tionär mit Fed­er und Skalpell — habe ich noch nicht gese­hen, das kommt aber dem­nächst auch noch — mal sehen, ob ich da noch etwas Neues und/oder Inter­es­santes find­en kann …

Aber am besten feiert man einen Dichter natür­lich durchs Lesen. Am Woch­enende ist wieder der Lenz dran, dann nehme ich mir die wun­der­schöne Edi­tion der Mar­burg­er Aus­gabe noch ein­mal vor.

Ins Netz gegangen (1.6.)

Ins Netz gegan­gen (29.5.–1.6.):

  • Mauert Luther nicht ein! — DIE WELT — Der His­torik Heinz Schilling ist mit den bish­eri­gen Vor­bere­itun­gen des Refor­ma­tions-Jubiläums 2017 nicht so ganz zufrieden …

    Die Kluft zwis­chen gegen­wart­sori­en­tiertem Verkündi­gungs­begehren und Ver­lan­gen nach his­torisch­er wie biografis­ch­er Tiefen­bohrung ist zu über­brück­en, will das Refor­ma­tion­sju­biläum nicht unter das hohe Niveau der auf das 20. Jahrhun­dert bezo­ge­nen Gedenkkul­tur unseres Lan­des zurück­fall­en. Es geht um die eben­so sim­ple wie fol­gen­re­iche Frage, wie viel Wis­senschaft das Refor­ma­tion­sju­biläum braucht und wie viel Wis­senschaft es verträgt. Denn nur auf ein­er soli­den his­torischen Basis ist eine nach­haltige Auseinan­der­set­zung mit dem “protes­tantis­chen Erbe” in der europäis­chen Neuzeit und glob­alen Mod­erne möglich.

  • “Es muss ja nicht alles von mir sein” — DIE WELT — Lit­er­atur — Frank Kas­par besucht Moni­ka Rinck und lässt sich von ihr erk­lären und zeigen, wie man heute Gedichte schreibt, ohne pein­lich und ner­vend zu sein (was ihn anscheinend ziem­lich über­rascht, dass das geht …):

    Wer in Moni­ka Rincks Texte ein­taucht, dem schwirrt bald der Kopf vor lauter Stim­men und Sprachen, die dort frei zusam­men­schießen. Deutsch, Englisch, Franzö­sisch, Ital­ienisch und Pfälzisch, innere tre­f­fen auf äußere Stim­men, rhyth­misch Aus­ge­feiltes auf bewusst geset­zte Brüche, Sprünge, Aus­rufe: Ha! Ach so! Hoho­ho! Die “Gis­cht der wirk­lichen gesproch­enen Sprache”, die Wal­ter Ben­jamin an Alfred Döblins Mon­tage-Roman “Berlin Alexan­der­platz” so begeis­tert hat, gurgelt zwis­chen den Zeilen und macht das Gewebe lebendig und beweglich.

  • Emmerich Joseph von Brei­d­bach zu Bür­resheim: Vorkämpfer der katholis­chen Aufk­lärung — FAZ -

    Emmerich Joseph von Brei­d­bach zu Bür­resheim, auch bekan­nt unter dem Spitz­na­men „Bre­it­fass von Schüttesheim“ — ange­blich trank er zu jed­er Mahlzeit sechs Maß Rhein­wein. Emmerich galt als offen­herzig und volk­snah, obwohl seine Ansicht­en so gar nicht in Ein­klang mit dem wun­der­gläu­bi­gen Barock-Katholizis­mus der kon­ser­v­a­tiv­en Land­bevölkerung standen. Er las Voltaire und Diderot, wurde schließlich zum bedeu­tend­sten Herrsch­er der katholis­chen Aufk­lärung. Beson­ders seine Schul­re­form wirk­te nach­haltig. Let­ztlich schuf die Ratio­nal­isierung des Kur­mainz­er Aus­bil­dungssys­tems die Grund­lage für die Rev­o­lu­tion in der Dom­stadt.

    Dass die Mainz­er den Wein lieben, ist also nichts Neues …

  • Lebens­mit­tel­speku­la­tion in der Frühen Neuzeit – Wie Wet­ter, Grund­herrschaft und Getrei­de­preise zusam­men­hin­gen | Die Welt der Hab­s­burg­er — Nahrungsmit­tel­speku­la­tion ist keine Erfind­ung und auch nicht nur ein Prob­lem des 21. Jahrhun­derts — wer hätte es gedacht .…:

    Die Preis­steigerun­gen waren jedoch nicht nur auf Wet­terkapri­olen zurück­zuführen, auch das Ver­hal­ten der weltlichen und kirch­lichen Grund­her­ren trug maßge­blich zum Anstieg der Getrei­de­preise bei.

  • »Wie ein Rausch« | Jüdis­che All­ge­meine — Ein Inter­view mit dem Klavier­duo Tal & Groethuy­sen über Wag­n­er, Alfred Pring­sheim und Israel:

    Darin liegt auch die Leis­tung des Bear­beit­ers. Er ste­ht ja ständig vor großen Fra­gen: Wie teile ich das auf? Wie kann ich möglichst viel vom Orig­i­nal unter­brin­gen, sodass es plas­tisch ist, aber nicht über­laden? Aber auch pianis­tisch real­isier­bar? Und es hat sich her­aus­gestellt, dass Alfred Pring­sheim, der eigentlich Auto­di­dakt war, mit die inter­es­san­testen und auch pianis­tis­chsten Lösun­gen gefun­den hat.

    Schön auch der Schlusssatz: “Und was Wag­n­er ange­ht, sind wir jet­zt wieder für eine Weile bedi­ent.” — ich glaube, das gilt nach diesem Jahr für alle …

  • Adress­comp­toir: Auf der Suche nach Grill­parz­er — Hein­rich Laube irrt durch Wien:

    Grill­parz­er, wo bin ich über­all hingera­then, um Dich zu find­en! — erster Hof, zweite Stiege, drit­ter Stock, vierte Thür! Es wirbeln mir noch die Beschrei­bun­gen im Kopfe. Nach ein­er vor­mit­täglichen Such­jagd stand ich endlich in ein­er schmalen, öden Gasse vor einem großen schweigsamen Hause

    Grill­parz­ers über­raschend beschei­dene Woh­nung kann man übri­gens im städtis­chen Wien-Muse­um besichti­gen.

Netzfunde der letzten Tage (11.4.–13.4.)

Meine Net­z­funde für die Zeit vom 11.4. zum 13.4.:

  • “Negerkönig” oder “Süd­seekönig” — Über Kinder­büch­er und Sprache | Poli­tis­ches Feuil­leton | Deutsch­landra­dio Kul­tur — Der Kinder­lit­er­atur-Spezial­ist Hans-Heino Ewers noch ein­mal zu dem “Prob­lem” “Kinder­büch­er und Sprache”:

    Zur Pflege eines lit­er­arischen Oeu­vres durch Ver­lage gehört es nicht zulet­zt auch, für Leserin­nen und Leser zu sor­gen. Das ist keine leichte Auf­gabe bei einem Lesepub­likum, das his­torische Texte noch nicht als solche, son­dern nur naiv zu rezip­ieren ver­mag. Was geht ver­loren, wenn es nicht mehr “Negerkönig”, son­dern “Süd­seekönig” heißt und man dadurch neue Leser­gen­er­a­tio­nen gewin­nt?

  • Im Enten­te­ich — Der Medi­en­wan­del als interne Rev­o­lu­tion — Thier­ry Chervel nimmt die Kündi­gung der bei­den Spiegel-Chefredak­teure zum Anlass für einige Gedanken über den Charak­ter des momen­ta­nen Medi­en­wan­dels und seine Kon­se­quen­zen für die Medi­en­häuser:

    Eigentlich gibt es nur noch online. Die eigentliche Struk­tur der Öffentlichkeit ist heute das Inter­net. Was nicht im Netz ist, ist nicht öffentlich, kann nicht zirkulieren, nicht auf Face­book disku­tiert wer­den. Print ist eine der abgeleit­eten For­men, in denen Inhalte auf­bere­it­et wer­den kön­nen, TV eine andere. Eine Ein­sicht, die seit über fün­fzehn Jahren im Raum ste­ht, lässt sich nun auch insti­tu­tionell nicht mehr abwehren: Alle Medi­en müssen von der neuen Struk­tur der Öffentlichkeit her gedacht wer­den. Die Angst­tech­nik der Medi­enkonz­erne, die Online an die alten Insti­tute anbaut­en, statt die neuen Leute von vorn­hereien als inte­gralen Bestandteil des Unternehmens zu inte­gri­eren, rächt sich heute. Die Abteilun­gen sind getren­nt – die Medi­en haben aber allen­falls dann eine Über­leben­schance, wenn sie sich als ein Gesamtes denken.

  • Fir­ma Halde­mann: 70 Jahre und kein biss­chen weise: Der kleine Prinz — Chris­t­ian Gottschalk teilt meine Ablehnung/Abneigung gegenüber der Vergöt­terung des ach-so-tollen “Kleinen Prinzen”:

    Anson­sten: Wenn man will, dass Kinder verblö­den und einen schlecht­en Lit­er­aturgeschmack entwick­eln, dann lese man ihnen den kleinen Prinzen vor.

    Auch sehr schön: seine Inhalt­sangabe:

    Der Inhalt: Ein niedlich gemal­ter Junge hält einen in der Wüste abgestürzten Piloten durch die Abson­derung von Poe­sieal­bum­sweisheit­en davon ab sein Flugzeug zu repari­eren.

  • Dekantieren am Abgrund — Digital/Pausen — Hans Ulrich Gum­brecht ist diese Woche in Hochform und ver­di­ent deshalb ein aus­führlich­es Zitat:

    Endlich wird der kost­bare Tropfen (den natür­lich seit den Rhein­wein-seli­gen Zeit­en von Kon­rad Ade­nauer nie­mand mehr so nen­nt) eingeschenkt, “wer mag pro­bieren,” sagt der Som­me­li­er aus­nahm­sweise leut­selig, und zu antworten “die Dame!” gilt weniger als ein Zeichen galanter Per­fek­tion denn als strafwürdi­ges Desin­ter­esse (weil man sich bei jed­er Stufe der Zer­e­monie das Recht ver­di­enen muss, die teure Sorte bestellt zu haben). In den Vere­inigten Staat­en mehr noch als in Europa, ist es wichtig, zunächst mit leichtem Druck auf das untere Ende des Glases den Wein, als sei man ein wenig ungeduldig, in leicht kreisende Bewe­gung zu schwenken. Man fasst die Flüs­sigkeit respek­tvoll-ernst ins Auge, hebt das Glas unter die Nase, riecht, ohne das Riechen in ein Geräusch umschla­gen zu lassen, führt es endlich zum Mund – und nippt. Danach der stille Moment der Reflex­ion, begleit­et von ein­er ver­hal­te­nen Mund­be­we­gung. Schiefge­hen kann nicht mehr viel. Jet­zt allerd­ings zu sagen, dass der Wein “korkt,” entspricht einem willfähri­gen Lösen der Not­bremse im ICE – alle kom­men aus dem Rhyth­mus, sind frus­tri­ert und kön­nen doch erst­mal nichts dage­gen tun. Pein­lich­er sind auch hier Aus­rufe aus dem Reg­is­ter der Ade­nauer-Zeit wie “kost­bares Tröpfchen” oder, protzig statt lauschig: “ganz vorzüglich” und “Don­ner­wet­ter!” Als zuläs­sig gel­ten allein Seman­tiken (dieses Plur­al in ihr Lexikon aufzunehmen, empfehle ich den wahren Weinken­nern) des Sub­li­men – oder beredte Sprachlosigkeit. “Mein Gott,” “nicht zu fassen,” alter­na­tiv ein ein­vernehm­lich­es aber nur leicht­es Nick­en hin zum Som­me­li­er, die beglück­te Sekunde in den Augen der Gat­tin oder ein Aus­druck fas­sungslosen Trans­fig­uri­ert-Seins (das den meis­ten Gästen eher schw­er fällt).

  • Vom Ver­such, Kriege zu quan­tifizieren — Deus ex Machi­na — Vom Ver­such, Kriege zu quan­tifizieren (via Pub­lished arti­cles)

ein kleiner nachtrag zum hubert-fichte-jubiläum

„Es ergeben sich Über­schnei­dun­gen“ heißt es am Anfang der Palette. Und das ist, das klitzek­leine Hubert-Fichte-Jahr zum 20. Todestag macht es deut­lich, noch sehr unter­trieben. Im Zen­trum ste­ht natür­lich das etwas über­raschende Erscheinen des Ban­des Die zweite Schuld von Fichte selb­st. Fis­ch­er, inzwis­chen Ficht­es Hausver­lag, hat sich entschlossen, die Geschichte der Empfind­lichkeit, dieses vielköpfrige Mon­ster, mit dem Fichte sein schrift­stel­lerisches Werk krö­nen wollte, damit vorzeit­ig zum Abschluss zu brin­gen. Das bringt allerd­ings wenig Über­raschun­gen, wenig prinzip­iell Uner­wartetes. Auch die span­nende Frage, warum Fichte dieses Buch mit einem Sper­rver­merk verse­hen hat­te, hängt plöt­zlich ganz und gar in der Luft: So spek­takulär ist das alles gar nicht. Über den Zeit­punkt der Veröf­fentlichung kann man übri­gens tre­f­flich stre­it­en. Und das ist schon typ­isch für alles, was mit der Geschichte der Empfind­lichkeit zu tun hat: Defin­i­tive Klarheit­en gibt es hier im Moment fast gar keine, zu oft hat Fichte hier selb­st noch geschwankt. Auch seine Angaben zur Dauer der Sper­rfrist vari­ieren, man hätte das Buch auch guten Gewis­sens  und mit guten Argu­menten erst in 10 Jahren her­aus­brin­gen kön­nen. Davon abge­se­hen, ist Die zweite Schuld eigentlich ein unmöglich­es Buch. Und das mehrfach: Es ist ein­fach nicht fer­tig – und nir­gendswo in der Geschichte der Empfind­lichkeit fällt das so sehr auf wie hier -, es ist aber auch eine dop­pelte Zumu­tung an den Leser: Von Fichte selb­st und seit­ens der Her­aus­ge­ber.

Das The­ma ist der deutsche Lit­er­aturbe­trieb – mit einem leicht eth­nol­o­gisch gefärbten Blick und der ewigen Suche suche nach den wahren Motiv­en des Han­delns entwick­elt Fichte die Szener­ie des Lit­er­arischen Col­lo­qi­ums in Berlin mit seinen Teil­nehmer, den Dozen­ten und Fichte selb­st. Das Buch trägt außer­dem den Unter­ti­tel „Abbitte an Joachim Neu­gröschel“. Und damit ist offen­bar das stärk­ste Motiv für diese Arbeit genan­nt. Denn Fichte geht es gar nicht so sehr um das LCB selb­st, son­dern viel mehr um die sich dort man­i­festieren­den Macht­struk­turen und kreuz und quer ver­laufend­en Anti- und Sym­pa­thien. Erar­beit­et und geschrieben ist das ganz offen­sichtlich aus einem Unbe­ha­gen, als Teil­nehmer in dieseSi­t­u­a­tion selb­st ver­wick­elt gewe­sen zu sein, die anlässlich ein­er Kri­tik eines Textes von Neu­gröschel durch Grass, die Fichte bedenken­los fort­set­zte, in einem sym­bol­is­chen Juden- und/oder Schwu­len­mord gipfelt. Dafür hat Fichte einige der dama­li­gen Teil­nehmer inter­viewt. Und das sind natür­lich wieder typ­is­che Fichte-Inter­views, mit ihrer beson­deren Inten­sität und dem zwar genau geführten und ges­teuert, aber sich stets kol­lo­qui­al geben­den Dia­log-Ablauf. Gesprochen hat er mit Neu­gröschel selb­st, mit Elfriede Ger­s­tel, Her­mann Peter Piwitt und Wal­ter Höllerer. Dazu kom­men immer wieder kurze Skizzen, kleine Sit­u­a­tions­beschrei­bun­gen aus Berlin und der Gruppe 47. Und am Ende noch eine frühe Fichte-Erzäh­lung, „Im Tief­stall“.

Verzweifeln kann man an diesem Buch, d.h. an sein­er äußeren Gestalt. Denn so lobenswert es ja von den Leuten bei Fis­ch­er ist, das noch zu veröf­fentlichen – hätte man das nicht gle­ich richtig machen kön­nen? Wie die gesamte Geschichte der Empfind­lichkeit ist das auch ein furcht­bar­er mis­chmasch und nicht nur völ­lig inkon­se­quent, son­dern auch unprak­tisch und dadurch fast unles­bar. Z.B. das Höllerer-Inter­view, oder bess­er gesagt die kär­glichen Reste, die Fichte noch selb­st tran­skri­biert hat­te. Im Manuskript sind die Gesprächs­fet­zen noch mit den Ini­tialen verse­hen – weil zwis­chen­durch viele Dialogteile fehlen, ist das ja nicht ger­ade ganz verkehrt. Jet­zt ste­hen da nur noch Spiegel­striche. Und spätestens nach ein paar seit­en muss man rat­en, wer ger­ade spricht – sehr müh­sam ist so etwas… Denn damit ist der zen­trale Teil des geplanten Ban­des eigentlich über­haupt nicht les­bar, ganz zu schweigen davon, dass noch zwei wichtige Inter­views ganz und gar fehlen, die hat Fichte noch nicht ein­mal geführt: Mit Oswald Wiener und HC Art­mann.

Schon deshalb wäre der Unter­ti­tel, den Fichte notiert hat, eigentlich gar nicht so schlecht gewe­sen: Frag­mente. Nun heißt der Band aber „Glossen“, eine der frag­würdi­ger­eren Her­aus­ge­ber-Entschei­dun­gen. Die zweite Schuld ist wahrschein­lich vor allem der Band der Geschichte der Empfind­lichkeit, der die Schwierigkeit­en – und lei­der eben auch die Unzulänglichkeit­en – dieser pos­tu­men Edi­tion am stärk­sten her­vorteten lässt. Nur als zwei Beispiele noch: Das unfer­tige Höllerer-Inter­view druck­en die Her­aus­ge­ber mit den Coun­ter­num­mer ab, denn: „Die Lizenz Ficht­es, eine unortho­doxe Gram­matik und Syn­tax unge­filtert zu belassen und dafür eine entsprechende informelle Inter­punk­tion einzuset­zen, machen diese zum Instru­ment, das präzise das Aus­ge­sagt über­mit­telt“ – was immer das heißen soll. Oder die abschließende Erzäh­lung „Im Tief­stall“. Die wird gedruckt nach ein­er Veröf­fentlichung von 1965, nicht nach der Form, in der sie Hubert Fichte maschi­nengeschrieben in das Manuskript einge­fügt hat­te – ohne das irgend­wie zu begrün­den.

Ähn­lich unbe­friedi­gend sind auch andere Novitäten,  z.B. die Edi­tion der Hör­w­erke bei Zweitausendeins. Immer­hin ist sie jet­zt über­haupt mal erschienen, nach lan­gen, lan­gen Verzögerun­gen. Aber auch hier wieder ist die Art der Veröf­fentlichung zumin­d­est ernüchternd, wenn nicht verärg­ernd. Davon, dass die Kom­prim­ierung auf 2 mp3-CDs wed­er der klangqual­ität noch dem Han­dling irgend­wie ent­ge­genkommt (so teuer sind doch CD-Pres­sun­gen gar nicht mehr?), die Auswahl bleibt, um es milde auszu­drück­en, unbe­friedi­gend. Fast alles wichtiges fehlt: die vie­len Hör­spiele – zu nen­nen wäre ja nur Ich würde ein oder Lohen­steins Ibrahim Bas­sa schlum­mern weit­er­hin in den Rund­funkarchiv­en — mit Aus­nahme von Gott ist ein Math­e­matik­er, das ja schon vor einiger Zeit bei sup­posée wieder zugänglich gemacht wurde. Dort gibt es ja auch schon die wirk­lich her­aus­ra­gende Fichte-Lesung im Ham­burg­er Star­club, seine Palais‑d’amour-Interviews und seine Gespräche mit Lil Picard. Das alles hat Zweitausendeins natür­lich nicht. Dafür eine Menge Rund­fun­kle­sun­gen, deren Aus­sagekraft sich in sehr engen Gren­zen bewegt. Denn die sind zwar alle­samt nicht schlecht, aber doch auch ziem­lich belan­g­los. Denn Fichte liest in der ster­ilen Atmo­sphäre des Stu­dios gewöhn­lich auch entsprechend nüchtern. Höhep­unk­te sind aber auch zu verze­ich­nen. Das Fea­ture Djem­ma el Fna, das fast schon ein Hör­spiel ist (und damit ganz typ­isch für Ficht­es ganz eige­nen umgang mit dem Medi­um Radio). Auch das kurze Hör­spiel Romy und Julius von 1973, eine rol­len­ver­tausche Ver­sion von Romeo und Julia, gehört ohne Zweifel zu den besseren arbeit­en Ficht­es. Und immer­hin ist auch San Pedro Claver dabei, das Fichte selb­st zu seinen zen­tralen Werken gezählt hat und das sich die let­zten Leben­stage des spanis­chen Jesuit­en und Mis­sion­ars in einem echt radio­pho­nen, 14stimmigen imag­inären Raum vorstellt – eine para­doxe Fig­ur, gefan­gen zwis­chen ihrer Liebe zu den Sklaven und der Ange­hörigkeit zu ein­er ver­sklaven­den Macht, der katholis­chen Kirche,  vorgestellt in ein­er Art szenis­ch­er Rit­us, den Fichte faszinierend sich­er und wirk­mächtig beherrschte.

Es hat sich aber noch mehr getan. Schon im let­zten jahr, 2005, war in den Ham­burg­er Deich­torhallen die „Leben­sreise“ von Hubert Fichte und Leonore Mau zu sehen. Das Kat­a­log­buch dazu schrieb Wil­fried F. Schmoeller – als eine Art vor­läu­fige Biogra­phie Ficht­es.  Er scheut nicht vor seinen Urteilen zurück, weiß auch viel und hat einiges Licht in die Reisen Ficht­es gebracht. Nur zu Leonore Mau und ihren Fotogra­phien fällt ihm erstaunlich wenig ein, näm­lich fast gar nichts. Dafür gibt es – bei einem als Ausstel­lungskat­a­log konzip­ierten Buch natür­lich kaum anders zu erwarten – eine große Auswahl von ihr und anderen Fotographen (etwa Chris­t­ian von Alvensleben, der Fichte für sein wun­der­schön kitschiges Port­fo­lio 1960 einen Tag bei der Land­wirtschaft­sar­beit  in der Provence beobachtete). Das hätte ein schönes und ein gutes Buch wer­den kön­nen, das auch ohne die Ausstel­lung hil­fre­ich und wohltuend ist. Denn Schoeller schreckt nie vor deut­lichen Worten und eige­nen Wer­tun­gen zurück. Aber es ist doch nur eine Mogel­pack­ung, ein Etiket­ten­schwindel: Leonore Mau ist eben wieder ein­mal nur die fotografierende Dichter­gat­tin, die zur Illus­tra­tion ein paar Bilder beis­teuern darf, son­st aber nach Möglichkeit über­haupt nicht vorkommt. Es bleibt also doch wieder nur Ficht­es „Leben­sreise“, die für Schoeller eher ein „Lebenslabyrinth“ ist (aber wer kann das nicht von sich behaupten?) Seinem „Reise­fahrplan“ fol­gt Schoeller, mit auswer­tung der ver­streuten Dat­en, auch der Reisepässe, und stellt pflicht­gemäß auch die dabei ent­standen Büch­er vor, was bei der Geschichte der Empfind­lichkeit zu recht kuriosen Ein­schätzun­gen und Verk­nap­pun­gen führt. Es hat fast den Anschein, als sei das als Vorar­beit, Par­alipom­e­na ein­er Biogra­phie zu ver­ste­hen – die Frage ist dann nur noch, wer wagt sich als erstes, seine Arbeit wirk­lich so zu nen­nen. Denn geschrieben wird sie, mehr oder weniger aus­führlich und direkt, von nahezu allen, die über Fichte veröf­fentlichen. Es wäre wohl auch das näch­ste, das fol­gerichtige Pro­jekt – neben ein­er „richti­gen“ Werkaus­gabe. Aber ger­ade die wird wohl, vor allem was die Geschichte der Empfind­lichkeit bet­rifft, noch eine Weile Desider­at bleiben.

Auch Peter Braun hat sich auf eine Reise begeben, Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Das ist ein Ver­such, eine „spez­i­fis­che Poet­ik der Orte“ zu beobacht­en oder zu kon­sti­tu­ieren. Aber genau in diesem Punkt bleibt die Arbeit von Braun frag­il, schwammig, und unbes­timmt: Worin sich denn die Orte nun genau unter­schei­den, was das „orts­ge­bun­dene Erzählen“ (43) denn nun wirk­lich aus­macht – wird kaum deut­lich. Klar, bes­timmte Dinge passier(t)en nun ein­mal an bes­timmten Orten. Aber ist Ficht­es Zugriff auf die Djem­ma el Fna wirk­lich kat­e­go­r­i­al anders als der auf, sagen wir, den Gänse­markt? Oder die Palette? Braun geht übri­gens noch ein Schrittchen weit­er als Schoeller und sieht den ganzen lit­er­arische out­put gle­ich als „Lebenss­chrei­bung“ – damit ist er dann endgültig leg­timiert, das Leben und das Werk des Autors beliebig durcheinan­der zu wer­fen. Entsprechend umstand­los springt Braun dann auch hin und her. Über­haupt ist er ein ganz großer Inte­gra­tor. Alles wird zu einem großen Buch, Leben und Werk, Roman und Inter­view, Hör­spiel und Fea­ture wird zu einem einzi­gen, gigan­tis­chen Werk zusam­mengemixt – natür­lich hat er dabei ein kleines biss­chen Recht, die inter­textuellen Bezüge sind ja schon bei der ersten Lek­türe über­haupt nicht zu überse­hen. Aber er ver­liert dabei doch lei­der immer wieder die jew­eils eige­nen Qual­itäten der Texte aus den Augen. Zeitliche Struk­turen der Erzäh­lun­gen Ficht­es kann Peter Braun etwa nur unzure­ichend, nur sehr neben­bei, über­haupt ein­mal würdi­gen. Wenn man das so hin­tere­inan­der weg liest, drängt sich fast ein etwas unlieb­samer Ein­druck auf: Irgend­wie bleibt ein schales Gefühl. Denn neu ist das nicht. Das führt bekan­nte Motive, Ideen, Analy­sen weit­er, aber ohne dabei wirk­lich neue Per­spek­tiv­en auf Ficht­es Werke zu eröff­nen: Ein beson­der­er Erken­nt­nis­gewinn ist hier nicht zu beobacht­en. Das trifft im grunde vor allem Peter Brauns Buch – von einem Ausstel­lungskat­a­log muss man nicht unbe­d­ingt eigen­ständi­ge Forschung erwarten. Aber auch Braun hat das bedacht und will die „Reise“ als Ein­führung ver­standen sehen: „vor­rangiges Ziel […] ist es, die Schwelle vor der eige­nen Lek­türe zu senken.“ (16)  Aber dann stellt sich natür­lich die Frage: für wen bloß? Und es macht dann doch den Ein­druck, als solle es den geplagten Stu­den­ten von der Last befreien, Fichte über­haupt zu lesen – die exten­sive, seit­en­lange Zitier­erei trägt da nicht unwesentlich zu bei.

Wer lesen kann und das wom­öglich gar selb­st tut, ist dage­gen ein­deutig im Vorteil – das Meiste von dem, was Braun hier ver­sam­melt, kann, soll und muss man doch recht eigentlich selb­st ent­deck­en – es hat etwas von Vorver­dau­ung, wenn er aus­führlich und dur­chaus in der Sache zutr­e­f­fend, aber let­ztlich auch über­flüs­sig für denk­ende und ver­ste­hende Leser, die ganzen Querverbindun­gen in Ficht­es Prosa aufzutrödeln sucht.
Sein Blick­winkel ist dafür natür­lich sehr stark fokussiert (um ihn nicht eingeschränkt zu nen­nen) und etwas monogam: Er konzen­tri­ert sich auf die einzel­nen Orte, wo Schoeller mehr das Ele­ment der Reise, also der Bewe­gung, im Blick­feld hat: die per­ma­nente Verän­derung, Trans­gres­sion, Trans­for­ma­tion, wie auch immer. Und er ent­deckt diese Prozesse auch in der Prosa Ficht­es, v.a. in der eth­nol­o­gis­chen (falls man die mal behelf­sweise so benen­nen darf, auch wenn es nicht ganz exakt zutrifft) natür­lich beson­ders deut­lich. Für Schoeller zeigt sich Ficht­es Reisen dabei let­ztlich nur als (mehr oder min­der) äußer­lich­er Aus­druck ein­er „Expe­di­tion nach Innen“, eines per­ma­nen­ten Forschens in nur schein­bar chao­tis­chen Sprün­gen zwis­chen Ham­burg und Bahia de Sal­vador, Schroben­hausen und São Luíz de Maran­hão.

Allen, die das schon selb­st gemerkt haben und sich immer noch näher mit Fichte beschäfti­gen wollen, sei unbe­d­ingt emp­fohlen: Michael Fischs Bib­li­ogra­phie, die auch ger­ade in ein­er Neu­fas­sung erschienen ist. Selb­st so etwas harm­los­es wie eine Bib­li­ogra­phie, die den passenden Titel Explo­sion der Forschung führt, geht nicht ohne Trubel von­stat­ten, wenn es um Hubert Fichte geht. Damals, beim Erscheinen der ersten Fas­sung 1996, gab es eini­gen Wirbel mit der Ham­burg­er Hubert-Fichte-Arbeit­stelle, die auch Anspruch auf diese Bib­li­ogra­phie erhob. Aber egal wie: Hil­fre­ich ist das schon, auch wenn die Gliederung nicht immer bis ins Let­zte überzeugt. Und doch ist sie eben genau in dieser Form (auch) ein klares Zeichen für den momen­ta­nen Umgang mit Fichte: Die Erforschung scheint sich in ein­er Kon­so­li­dierungsphase, im Über­gang,  zu befind­en: Der Autor entschwindet langsam aber unaufhalt­sam und muss immer wieder neu ent­deckt, d.h. ver­standen wer­den. Es kön­nten sich also noch ein paar mehr Über­schnei­dun­gen ergeben.

  • Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Glossen. (Die Geschichte der Empfind­lichkeit). Frankfurt/Main: S. Fis­ch­er 2006.
  • Hubert Fichte: Hör­w­erke 1966–86. Hre­saus­gegebn von Robert Galitz, Kurt Kreil­er und Mar­tin Wein­mann. Frankfurt/Main: Zweitausendeins 2006.
  • Wil­fried F. Schoeller: Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schrift­steller und die Fotografin. Frankfurt/Main: S. Fis­ch­er 2005.
  • Peter Braun: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/Main: Fis­ch­er Taschen­buch 2005.
  • Michael Fisch: Hubert Fichte – Explo­sion der Forschung. Bib­li­ogra­phie zu Leben und Werk von Hubert Fichte. Unter Berück­sich­ti­gung des Werkes von Leonore Mau. Biele­feld. Ais­the­sis 2006.

(ste­ht auch in der test­card no. 16)

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