„Es ergeben sich Überschneidungen“ heißt es am Anfang der Palette. Und das ist, das klitzekleine Hubert-Fichte-Jahr zum 20. Todestag macht es deutlich, noch sehr untertrieben. Im Zentrum steht natürlich das etwas überraschende Erscheinen des Bandes Die zweite Schuld von Fichte selbst. Fischer, inzwischen Fichtes Hausverlag, hat sich entschlossen, die Geschichte der Empfindlichkeit, dieses vielköpfrige Monster, mit dem Fichte sein schriftstellerisches Werk krönen wollte, damit vorzeitig zum Abschluss zu bringen. Das bringt allerdings wenig Überraschungen, wenig prinzipiell Unerwartetes. Auch die spannende Frage, warum Fichte dieses Buch mit einem Sperrvermerk versehen hatte, hängt plötzlich ganz und gar in der Luft: So spektakulär ist das alles gar nicht. Über den Zeitpunkt der Veröffentlichung kann man übrigens trefflich streiten. Und das ist schon typisch für alles, was mit der Geschichte der Empfindlichkeit zu tun hat: Definitive Klarheiten gibt es hier im Moment fast gar keine, zu oft hat Fichte hier selbst noch geschwankt. Auch seine Angaben zur Dauer der Sperrfrist variieren, man hätte das Buch auch guten Gewissens und mit guten Argumenten erst in 10 Jahren herausbringen können. Davon abgesehen, ist Die zweite Schuld eigentlich ein unmögliches Buch. Und das mehrfach: Es ist einfach nicht fertig – und nirgendswo in der Geschichte der Empfindlichkeit fällt das so sehr auf wie hier -, es ist aber auch eine doppelte Zumutung an den Leser: Von Fichte selbst und seitens der Herausgeber.
Das Thema ist der deutsche Literaturbetrieb – mit einem leicht ethnologisch gefärbten Blick und der ewigen Suche suche nach den wahren Motiven des Handelns entwickelt Fichte die Szenerie des Literarischen Colloqiums in Berlin mit seinen Teilnehmer, den Dozenten und Fichte selbst. Das Buch trägt außerdem den Untertitel „Abbitte an Joachim Neugröschel“. Und damit ist offenbar das stärkste Motiv für diese Arbeit genannt. Denn Fichte geht es gar nicht so sehr um das LCB selbst, sondern viel mehr um die sich dort manifestierenden Machtstrukturen und kreuz und quer verlaufenden Anti- und Sympathien. Erarbeitet und geschrieben ist das ganz offensichtlich aus einem Unbehagen, als Teilnehmer in dieseSituation selbst verwickelt gewesen zu sein, die anlässlich einer Kritik eines Textes von Neugröschel durch Grass, die Fichte bedenkenlos fortsetzte, in einem symbolischen Juden- und/oder Schwulenmord gipfelt. Dafür hat Fichte einige der damaligen Teilnehmer interviewt. Und das sind natürlich wieder typische Fichte-Interviews, mit ihrer besonderen Intensität und dem zwar genau geführten und gesteuert, aber sich stets kolloquial gebenden Dialog-Ablauf. Gesprochen hat er mit Neugröschel selbst, mit Elfriede Gerstel, Hermann Peter Piwitt und Walter Höllerer. Dazu kommen immer wieder kurze Skizzen, kleine Situationsbeschreibungen aus Berlin und der Gruppe 47. Und am Ende noch eine frühe Fichte-Erzählung, „Im Tiefstall“.
Verzweifeln kann man an diesem Buch, d.h. an seiner äußeren Gestalt. Denn so lobenswert es ja von den Leuten bei Fischer ist, das noch zu veröffentlichen – hätte man das nicht gleich richtig machen können? Wie die gesamte Geschichte der Empfindlichkeit ist das auch ein furchtbarer mischmasch und nicht nur völlig inkonsequent, sondern auch unpraktisch und dadurch fast unlesbar. Z.B. das Höllerer-Interview, oder besser gesagt die kärglichen Reste, die Fichte noch selbst transkribiert hatte. Im Manuskript sind die Gesprächsfetzen noch mit den Initialen versehen – weil zwischendurch viele Dialogteile fehlen, ist das ja nicht gerade ganz verkehrt. Jetzt stehen da nur noch Spiegelstriche. Und spätestens nach ein paar seiten muss man raten, wer gerade spricht – sehr mühsam ist so etwas… Denn damit ist der zentrale Teil des geplanten Bandes eigentlich überhaupt nicht lesbar, ganz zu schweigen davon, dass noch zwei wichtige Interviews ganz und gar fehlen, die hat Fichte noch nicht einmal geführt: Mit Oswald Wiener und HC Artmann.
Schon deshalb wäre der Untertitel, den Fichte notiert hat, eigentlich gar nicht so schlecht gewesen: Fragmente. Nun heißt der Band aber „Glossen“, eine der fragwürdigereren Herausgeber-Entscheidungen. Die zweite Schuld ist wahrscheinlich vor allem der Band der Geschichte der Empfindlichkeit, der die Schwierigkeiten – und leider eben auch die Unzulänglichkeiten – dieser postumen Edition am stärksten hervorteten lässt. Nur als zwei Beispiele noch: Das unfertige Höllerer-Interview drucken die Herausgeber mit den Counternummer ab, denn: „Die Lizenz Fichtes, eine unorthodoxe Grammatik und Syntax ungefiltert zu belassen und dafür eine entsprechende informelle Interpunktion einzusetzen, machen diese zum Instrument, das präzise das Ausgesagt übermittelt“ – was immer das heißen soll. Oder die abschließende Erzählung „Im Tiefstall“. Die wird gedruckt nach einer Veröffentlichung von 1965, nicht nach der Form, in der sie Hubert Fichte maschinengeschrieben in das Manuskript eingefügt hatte – ohne das irgendwie zu begründen.
Ähnlich unbefriedigend sind auch andere Novitäten, z.B. die Edition der Hörwerke bei Zweitausendeins. Immerhin ist sie jetzt überhaupt mal erschienen, nach langen, langen Verzögerungen. Aber auch hier wieder ist die Art der Veröffentlichung zumindest ernüchternd, wenn nicht verärgernd. Davon, dass die Komprimierung auf 2 mp3-CDs weder der klangqualität noch dem Handling irgendwie entgegenkommt (so teuer sind doch CD-Pressungen gar nicht mehr?), die Auswahl bleibt, um es milde auszudrücken, unbefriedigend. Fast alles wichtiges fehlt: die vielen Hörspiele – zu nennen wäre ja nur Ich würde ein oder Lohensteins Ibrahim Bassa schlummern weiterhin in den Rundfunkarchiven — mit Ausnahme von Gott ist ein Mathematiker, das ja schon vor einiger Zeit bei supposée wieder zugänglich gemacht wurde. Dort gibt es ja auch schon die wirklich herausragende Fichte-Lesung im Hamburger Starclub, seine Palais‑d’amour-Interviews und seine Gespräche mit Lil Picard. Das alles hat Zweitausendeins natürlich nicht. Dafür eine Menge Rundfunklesungen, deren Aussagekraft sich in sehr engen Grenzen bewegt. Denn die sind zwar allesamt nicht schlecht, aber doch auch ziemlich belanglos. Denn Fichte liest in der sterilen Atmosphäre des Studios gewöhnlich auch entsprechend nüchtern. Höhepunkte sind aber auch zu verzeichnen. Das Feature Djemma el Fna, das fast schon ein Hörspiel ist (und damit ganz typisch für Fichtes ganz eigenen umgang mit dem Medium Radio). Auch das kurze Hörspiel Romy und Julius von 1973, eine rollenvertausche Version von Romeo und Julia, gehört ohne Zweifel zu den besseren arbeiten Fichtes. Und immerhin ist auch San Pedro Claver dabei, das Fichte selbst zu seinen zentralen Werken gezählt hat und das sich die letzten Lebenstage des spanischen Jesuiten und Missionars in einem echt radiophonen, 14stimmigen imaginären Raum vorstellt – eine paradoxe Figur, gefangen zwischen ihrer Liebe zu den Sklaven und der Angehörigkeit zu einer versklavenden Macht, der katholischen Kirche, vorgestellt in einer Art szenischer Ritus, den Fichte faszinierend sicher und wirkmächtig beherrschte.
Es hat sich aber noch mehr getan. Schon im letzten jahr, 2005, war in den Hamburger Deichtorhallen die „Lebensreise“ von Hubert Fichte und Leonore Mau zu sehen. Das Katalogbuch dazu schrieb Wilfried F. Schmoeller – als eine Art vorläufige Biographie Fichtes. Er scheut nicht vor seinen Urteilen zurück, weiß auch viel und hat einiges Licht in die Reisen Fichtes gebracht. Nur zu Leonore Mau und ihren Fotographien fällt ihm erstaunlich wenig ein, nämlich fast gar nichts. Dafür gibt es – bei einem als Ausstellungskatalog konzipierten Buch natürlich kaum anders zu erwarten – eine große Auswahl von ihr und anderen Fotographen (etwa Christian von Alvensleben, der Fichte für sein wunderschön kitschiges Portfolio 1960 einen Tag bei der Landwirtschaftsarbeit in der Provence beobachtete). Das hätte ein schönes und ein gutes Buch werden können, das auch ohne die Ausstellung hilfreich und wohltuend ist. Denn Schoeller schreckt nie vor deutlichen Worten und eigenen Wertungen zurück. Aber es ist doch nur eine Mogelpackung, ein Etikettenschwindel: Leonore Mau ist eben wieder einmal nur die fotografierende Dichtergattin, die zur Illustration ein paar Bilder beisteuern darf, sonst aber nach Möglichkeit überhaupt nicht vorkommt. Es bleibt also doch wieder nur Fichtes „Lebensreise“, die für Schoeller eher ein „Lebenslabyrinth“ ist (aber wer kann das nicht von sich behaupten?) Seinem „Reisefahrplan“ folgt Schoeller, mit auswertung der verstreuten Daten, auch der Reisepässe, und stellt pflichtgemäß auch die dabei entstanden Bücher vor, was bei der Geschichte der Empfindlichkeit zu recht kuriosen Einschätzungen und Verknappungen führt. Es hat fast den Anschein, als sei das als Vorarbeit, Paralipomena einer Biographie zu verstehen – die Frage ist dann nur noch, wer wagt sich als erstes, seine Arbeit wirklich so zu nennen. Denn geschrieben wird sie, mehr oder weniger ausführlich und direkt, von nahezu allen, die über Fichte veröffentlichen. Es wäre wohl auch das nächste, das folgerichtige Projekt – neben einer „richtigen“ Werkausgabe. Aber gerade die wird wohl, vor allem was die Geschichte der Empfindlichkeit betrifft, noch eine Weile Desiderat bleiben.
Auch Peter Braun hat sich auf eine Reise begeben, Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Das ist ein Versuch, eine „spezifische Poetik der Orte“ zu beobachten oder zu konstituieren. Aber genau in diesem Punkt bleibt die Arbeit von Braun fragil, schwammig, und unbestimmt: Worin sich denn die Orte nun genau unterscheiden, was das „ortsgebundene Erzählen“ (43) denn nun wirklich ausmacht – wird kaum deutlich. Klar, bestimmte Dinge passier(t)en nun einmal an bestimmten Orten. Aber ist Fichtes Zugriff auf die Djemma el Fna wirklich kategorial anders als der auf, sagen wir, den Gänsemarkt? Oder die Palette? Braun geht übrigens noch ein Schrittchen weiter als Schoeller und sieht den ganzen literarische output gleich als „Lebensschreibung“ – damit ist er dann endgültig legtimiert, das Leben und das Werk des Autors beliebig durcheinander zu werfen. Entsprechend umstandlos springt Braun dann auch hin und her. Überhaupt ist er ein ganz großer Integrator. Alles wird zu einem großen Buch, Leben und Werk, Roman und Interview, Hörspiel und Feature wird zu einem einzigen, gigantischen Werk zusammengemixt – natürlich hat er dabei ein kleines bisschen Recht, die intertextuellen Bezüge sind ja schon bei der ersten Lektüre überhaupt nicht zu übersehen. Aber er verliert dabei doch leider immer wieder die jeweils eigenen Qualitäten der Texte aus den Augen. Zeitliche Strukturen der Erzählungen Fichtes kann Peter Braun etwa nur unzureichend, nur sehr nebenbei, überhaupt einmal würdigen. Wenn man das so hintereinander weg liest, drängt sich fast ein etwas unliebsamer Eindruck auf: Irgendwie bleibt ein schales Gefühl. Denn neu ist das nicht. Das führt bekannte Motive, Ideen, Analysen weiter, aber ohne dabei wirklich neue Perspektiven auf Fichtes Werke zu eröffnen: Ein besonderer Erkenntnisgewinn ist hier nicht zu beobachten. Das trifft im grunde vor allem Peter Brauns Buch – von einem Ausstellungskatalog muss man nicht unbedingt eigenständige Forschung erwarten. Aber auch Braun hat das bedacht und will die „Reise“ als Einführung verstanden sehen: „vorrangiges Ziel […] ist es, die Schwelle vor der eigenen Lektüre zu senken.“ (16) Aber dann stellt sich natürlich die Frage: für wen bloß? Und es macht dann doch den Eindruck, als solle es den geplagten Studenten von der Last befreien, Fichte überhaupt zu lesen – die extensive, seitenlange Zitiererei trägt da nicht unwesentlich zu bei.
Wer lesen kann und das womöglich gar selbst tut, ist dagegen eindeutig im Vorteil – das Meiste von dem, was Braun hier versammelt, kann, soll und muss man doch recht eigentlich selbst entdecken – es hat etwas von Vorverdauung, wenn er ausführlich und durchaus in der Sache zutreffend, aber letztlich auch überflüssig für denkende und verstehende Leser, die ganzen Querverbindungen in Fichtes Prosa aufzutrödeln sucht.
Sein Blickwinkel ist dafür natürlich sehr stark fokussiert (um ihn nicht eingeschränkt zu nennen) und etwas monogam: Er konzentriert sich auf die einzelnen Orte, wo Schoeller mehr das Element der Reise, also der Bewegung, im Blickfeld hat: die permanente Veränderung, Transgression, Transformation, wie auch immer. Und er entdeckt diese Prozesse auch in der Prosa Fichtes, v.a. in der ethnologischen (falls man die mal behelfsweise so benennen darf, auch wenn es nicht ganz exakt zutrifft) natürlich besonders deutlich. Für Schoeller zeigt sich Fichtes Reisen dabei letztlich nur als (mehr oder minder) äußerlicher Ausdruck einer „Expedition nach Innen“, eines permanenten Forschens in nur scheinbar chaotischen Sprüngen zwischen Hamburg und Bahia de Salvador, Schrobenhausen und São Luíz de Maranhão.
Allen, die das schon selbst gemerkt haben und sich immer noch näher mit Fichte beschäftigen wollen, sei unbedingt empfohlen: Michael Fischs Bibliographie, die auch gerade in einer Neufassung erschienen ist. Selbst so etwas harmloses wie eine Bibliographie, die den passenden Titel Explosion der Forschung führt, geht nicht ohne Trubel vonstatten, wenn es um Hubert Fichte geht. Damals, beim Erscheinen der ersten Fassung 1996, gab es einigen Wirbel mit der Hamburger Hubert-Fichte-Arbeitstelle, die auch Anspruch auf diese Bibliographie erhob. Aber egal wie: Hilfreich ist das schon, auch wenn die Gliederung nicht immer bis ins Letzte überzeugt. Und doch ist sie eben genau in dieser Form (auch) ein klares Zeichen für den momentanen Umgang mit Fichte: Die Erforschung scheint sich in einer Konsolidierungsphase, im Übergang, zu befinden: Der Autor entschwindet langsam aber unaufhaltsam und muss immer wieder neu entdeckt, d.h. verstanden werden. Es könnten sich also noch ein paar mehr Überschneidungen ergeben.
- Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Glossen. (Die Geschichte der Empfindlichkeit). Frankfurt/Main: S. Fischer 2006.
- Hubert Fichte: Hörwerke 1966–86. Hresausgegebn von Robert Galitz, Kurt Kreiler und Martin Weinmann. Frankfurt/Main: Zweitausendeins 2006.
- Wilfried F. Schoeller: Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schriftsteller und die Fotografin. Frankfurt/Main: S. Fischer 2005.
- Peter Braun: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2005.
- Michael Fisch: Hubert Fichte – Explosion der Forschung. Bibliographie zu Leben und Werk von Hubert Fichte. Unter Berücksichtigung des Werkes von Leonore Mau. Bielefeld. Aisthesis 2006.
(steht auch in der testcard no. 16)