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Schlagwort: jean paul

Leben

Unser größter und läng­ster Irrtum ist, daß wir das Leben, d.h. seinen Genuß, wie die Mate­ri­al­is­ten das Ich, in sein­er Zusam­menset­zung suchen, als kön­nte das Ganze oder das Ver­hält­nis der Bestandteile uns etwas geben, das nicht jed­er einzelne Teil schon hätte. Beste­ht denn der Him­mel unsers Daseins, wie der blaue über uns, aus öder mat­ter Luft, die in der Nähe und im Kleinen nur ein durch­sichtiges Nichts ist und die erst in der Ferne und im Großen blauer Äther wird? Das Jahrhun­dert wirft den Blu­men­samen dein­er Freude nur aus der porösen Säe­mas­chine von Minuten; oder vielmehr an der seli­gen Ewigkeit sel­ber ist keine andere Hand­habe als der Augen­blick. Das Leben beste­ht nicht aus 70 Jahren, son­dern die 70 Jahre beste­hen aus einem fortwe­hen­den Leben, und man hat alle­mal gelebt und genug gelebt, man sterbe, wenn man will. —Jean Paul, Titan, Erster Band, Erste Jobelpe­ri­ode, 2. Zykel

Selige Zeit der ersten Liebe

Selige, selige Zeit! du bist schon lange vor­bei! O die Jahre, worin der Men­sch seine ersten Gedichte und Sys­tem lieset und macht, wo der Geist seine ersten Wel­ten schafft und seg­net, und wo er voll frisch­er Mor­gengedanken die ersten Gestirne der Wahrheit kom­men sieht, tra­gen einen ewigen Glanz und ste­hen ewig vor dem sehnen­den Herzen, das sie genossen hat und dem die Zeit nach­her nur astronomis­che Ephemeri­den und Refrak­tion­sta­bellen über die Mor­genge­stirne reicht, nur ver­al­tete Wahrheit­en und ver­jüngte Lügen! – O damals wurd’ er von der Milch der Wahrheit wie ein frisches durstiges Kind getränkt und großge­zo­gen, später wird er von ihr nur als ein welk­er skep­tis­ch­er Hek­tikus kuri­ert! – Aber du kannst freilich nicht wiederkom­men, her­rliche Zeit der ersten Liebe gegen die Wahrheit, und diese Seufz­er sollen mir eben nur deine Erin­nerung wärmer geben; – und kehrest du wieder, so geschieht es gewiß nicht hier im tiefen niedri­gen Gruben­baue des Lebens, wo unsere Mor­gen­röte in den Gold­flämm­lein auf dem Gold­kiese beste­ht und unsere Sonne im Gruben­licht – nein, son­dern dann kann es geschehen, wenn der Tod uns aufdeckt und den Sargdeck­el des Schacht­es von den tiefen blaßgel­ben Arbeit­ern wegreißet, und wir nun wieder, wie erste Men­schen, in ein­er neuen vollen Erde ste­hen und unter einem frischen uner­meßlichen Him­mel! – Jean Paul, Titan, 25. Zykel

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