Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: jan kuhlbrodt

Aus-Lese #36

Nor­bert Scheuer: Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte. München: Beck 2011. 101 Seit­en

scheuer, bisIm Jahr 2011 Heimatgedichte zu schreiben, ist natür­lich eine Pro­voka­tion — die Gat­tung gilt (genau­so wie “Heimat” über­haupt) als erledigt und über­holt. Aber immer­hin sind es “Neue Heimatgedichte”, die Nor­bert Scheuer hier vorgelegt hat. Und sie sind lange nicht so provozierend, wie man erwarten mag. Was auch damit zusam­men­hän­gen dürfte, dass sie schon als Gedichte — unab­hängig von ihrer The­matik — nich so sehr provozieren kön­nen und wollen. Eine leichte Wehmut lässt sich oft erken­nen, vor allem aber zeich­net die Heimatgedichte Scheuers wohl so etwas wie eine Zufrieden­heit mit der „Heimat“ trotz der vorhandenen/erworbenen Ken­nt­nis des Anderen (als das wären: Welt, Unsterblichkeit der Lit­er­atur und der­gle­ichen mehr) aus. “Heimat” selb­st ist ja eigentlich eine sehr unge­naue Spez­i­fizierung. Hier trifft sie vor allme — und das ist tat­säch­lich in der Lyrik der let­zten Jahre nicht unbe­d­ingt gewöhn­lich — auf das Dorf. Man kann ger­ade die ersten Gedichte des Ban­des auch als eine klitzek­leine Geschichte des Dor­fes im Zeitraf­fer lesen, mit den Men­schen und den Tätigkeit­en und der Umge­bung, die dazu gehört. Wo andere Lyrik­er Szenen der Stadt beschreiben, ste­ht hier eben das dör­fliche oder ländliche Leben und Erleben im Vorder­grund. Das war aber auch schon der Unter­schied — na gut, vielle­icht über­haupt die deut­liche und starke Veror­tung in bes­timmt-unbes­timmten Raum (der „Heimat“, auf dem Lande …). Dieser Ort bleibt aber unge­nan­nt und nicht ganz fass­bar — es ist eine manch­mal ide­ale, manch­mal nicht so ehr ide­ale Kon­struk­tion aus dem Typ­is­chen.
Ein paar sehr feine, klare (sprechende) Gedichte sind dabei, aber auch einiges eher mit­telmäßige und auch banales. For­mal hat sich das lei­der auch eher schnell erschöft, hat man schnell kapiert und ist dann zwar nicht schlechter, aber auch nicht mehr beson­ders span­nend oder anre­gend — etwa das Spiel mti der Ober­flächen­form der Gedichte udn ihrer Sprache. Aber vielle­icht ist das eben ein­fach Lyrik der Nor­mal­ität (des Lebens, eben des Lebens in der Heimat und auf dem Land).

Julien Gracq: Der Ver­such­er. Graz: Droschl 2014. 232 Seit­en.

gracq, versucher„Ein Buch, das voll­ständig aus Obertö­nen beste­ht” schreibt der Über­set­zer Dieter Hornig im Nach­wort zu einem der Vor­bilder für Gracq, Cha­teuabriands Vie de Rancé. Das gilt aber auch für den Ver­such­er: Das ist näm­lich ein Roman, der maßge­blich von sein­er Atmo­sphäre lebt. Es ist faszinierend, wie genau und leicht Gracq die her­auf­beschwören kann: Seine ele­gan­ten Beschrei­bun­gen der Ele­ganz ver­loren­er Zeit(en) und unterge­gang­nen Epochen, wie sie sich im Urlaub­sleben in einem Strand­ho­tel man­i­festieren, lassen eine entspan­nte, offene, zugle­ich erwartende und erwartungsvolle Stim­mung entste­hen, die wun­der­bar zum som­mer­lichen Schweben im Urlaub, dem Entrückt-Sein aus dem All­t­ag, passen. In der Land­schaft der bre­tonis­chen Küste, mit ihrer Melan­cholie und Vergänglichkeit, die Gracq beza­ubernd beschreibt, trifft der Erzäh­ler (und Lit­er­atur­wis­senschaftler) Gérard unter anderem auf Allan, eine selt­sam chang­ierende Fig­ur zwis­chen Hochsta­pler und tragis­chem Schick­sal — und ein wun­der­sames und wun­der­bares Kam­mer­spiel ent­fal­tet sich, das man auch ganz und gar genießen kann, ohne die inter­textuellen Anspielun­gen, die Gracq hier offen­bar (und mehr oder weniger offen­sichtlich) ver­ar­beit­et hat, zu ver­ste­hen.

Jan Kuhlbrodt: Stötzers Lied. Gesang vom Leben danach. Berlin: J. Frank 2013 (Quar­theft 40). 180 Seit­en.

kuhlbrodt, stötzers liedEin selt­sames Buch, das mir eher fremd geblieben ist. Der “Gesang”, unterteilt in diverse durch “Embolien” getren­nte Abschnitte (darunter “Stötzers Gedichte”, “Par­alipom­e­na zu Stötzer” oder “Deutsch­er Platz”) ist eine Art Prosagedicht. For­mal gibt sich das als Lyrik, mit Versen und Stro­phen etc. Sprach­lich bleibt es aber im Großen und Ganzen Prosa. Und so wie es bei­de Gat­tun­gen gle­icher­maßen bedi­ent, so bedi­ent es sich auch bei den großen The­ma. Irgend­wie geht es immer um Geschichte und den Umgang mit ihr, beson­ders im (post)sozialistischen Leipzig, von Völk­er­schlacht­denkmal über Lenin bis zur Ästhetik der Plat­ten­baut­en wird so ziem­lich alles mögliche angeris­sen und aufgerufen. Der Klap­pen­text schreibt da ganz tre­f­fend:

Stötzer [die von Kuhlbrodt einge­set­zte Sprech­er-/Re­flek­tor­fig­ur] ist ein Wahrnehmungsspe­ich­er, ein Seis­mo­graph. […] Er nimmt das auf, was ihn über­rollt: Poli­tik, Ökonomie, Kun­st, Geschichte. Stötzer kom­men­tiert aus der Sta­tik her­aus die Bewe­gun­gen, das Ausklin­gen des Ver­gan­genen und das Here­in­brechen des neuen Jahrtausends.

Das ist eine Mis­chung aus Banal­itäten der Ober­fläche und tiefer bohren­den Reflex­io­nen gewor­den, die unver­mit­telt neben einan­der auf­tauchen und da auch ste­hen bleiben, sich dadurch aber recht erfol­gre­ich gegen­seit­ig befrucht­en und ergänzen. Darüber hin­aus ist das aber auch ein sehr schönes, gut gemacht­es Buch gewor­den, das mit ver­schiede­nen Gestal­tungse­le­menten der Typogra­phie und der Illus­tra­tio­nen die ver­schiede­nen Teile oder Ebe­nen des Texte gut illus­tri­erend ergänzt und verdeut­licht.

Christa Reinig: Feuerge­fährlich. Neue und aus­gewählte Gedichte. Aus­gewählt und mit einem Nach­wort von Klaus Wagen­bach. Berlin: Wagen­bach 2010 (Klaus Wagen­bachs Oktavhefte). 79 Seit­en.

reinig, feuergefaerhlichWirk­lich näher gebracht hat mir diese Auswahl Klaus Wagen­bachs die Lyrik von Christa Reinig nicht. Der Anfang ist schreck­lich banal, schon die Form — bravste Paar- und Kreuzreime in regelmäßiger Metrik und Zwölfzeil­ern — ver­hin­dert fast das inter­essierte Lesen. Zum Glück wan­delt sich das mit dem Fortschre­it­en der Seit­en, eine zunehmende Konzen­tra­tion und Verdich­tung. Das macht die nun auch mal lakonisch wirk­enden Gedichte bess­er. Allein schon deshalb, weil sie nicht mehr so geschwätzig sind. Allerd­ings bleibt der Ein­druck, dass hier eine Autorin schreibt, die irgend­wie ständig belei­digt von der Welt und ihrer Schlechtigkeit wirkt. Weil das oft den Beik­lang per­sön­lichen Belei­digt­seins hat (z.B. bei “Der Andere”!), hat mich das etwas gen­ervt. Die Gegenüber­stel­lung der Macht­losigkeit­en, der Ohn­macht, der richti­gen Sprache und den offiziellen Verlautbarungen/Wörtern, den Herrschen­den, den Mächti­gen durchzieht fast alle Texte mehr oder weniger. Das ist ja eigentlich eine sym­pa­this­che Sache, weil aber vieles mir eigentlich zu offen­sichtlich, zu deut­lich und ein­deutig gesagt ist, ver­liert das etwas von sein­er Wirkung.

In die Gewehre ren­nen

mein tief­stes herz heißt tod
wenn das die mörder wüssten
wären sie es müde (34)

außer­dem noch:

  • Arno Schmidt, »Na, Sie hät­ten mal in Weimar leben sollen!« Über Wieland — Herder — Goethe. Mit einem Essay von Jan Philipp Reemts­ma, hrsg. von Jan Philipp Reemts­ma. Stuttgart: Reclam 2013. 234 Seit­en. (mit dem wun­der­baren Essay “Goethe und ein­er sein­er Bewun­der­er”)
  • Ein­hard, Vita Karoli Mag­ni (zur Vor­bere­itung auf den Ausstel­lungs­be­such in Aachen)
  • Stramm, August, Gedichte Dra­men Prosa Briefe. Her­aus­gegeben von Jörg Drews. Stuttgart: Reclam 1997. 242 Seit­en.

Aus-Lese #19

Jan Kuhlbrodt: Geschichte. Kein Weg, nur Gehen. Berlin: J. Frank 2013. Edi­tion Poet­i­con #01. 47 Seit­en.

“Geschichte” enstammt der neuen Rei­he “Edi­tion Poet­i­con” im Berlin­er J.-Frank-Verlag mit dem schö­nen Mot­to “Poet­isiert euch”. Hier erscheinen ger­ade so etwas wie Poet­iken oder poet­is­che Schriften zeit­genös­sich­er Dichter aus dem Umfeld des Frank-Ver­lages. Bei Jan Kuhlbrodt geht es — der Titel ver­rät es — um Geschichte, Geschichts­bilder, Zeit und Rolle der Kun­st in der Geschichte. Vor allem aber beschäftigt ihn hier die Möglichkeit des Dichters, Geschichte zu begleit­en, wahrzunehmen, aufzunehmen in seine Dich­tung, sie (als gemachte/erzählte Geschichte) zu for­men und vielle­icht auch (als geschehene) mitzubes­tim­men — also die Frage, wie Dich­terin­nen und ihre Dich­tun­gen sich zur Geschichte ver­hal­ten können/müssen/sollen .… Er sucht das in erster Lin­ie an Beispie­len aus dem 20. Jahrhun­dert, vor allem in der rus­sis­chen Lyrik. Da will er, wenn ich ihn richtig ver­ste­he, die Möglichkeit zeigen, Geschichte in die Dich­tung aufzunehmen, also so etwas wie “Geschichts-Lyrik” zu schreiben — und zwar nicht (nur) auf inhaltlich­er Ebene, son­dern vor allem in for­maler Hin­sicht.

Mit eini­gen weni­gen Aus­nah­men spielt Geschichte in der deutschen Gegen­wart­slyrik kaum eine Rolle. Es mag daran liegen, dass der Begriff der Geschichte im zwanzig­sten Jahrhun­dert der­art zer­fasert und zer­fällt, dass ein lyrisch­er Bezut darauf ger­adezu unmöglich ist [dann einige Beispiele, wo es doch noch ver­sucht wird — dort] geht es um ein Bewahren indi­vidu­eller Erfahrun­gen im Kon­text wirrer und ver­wirren­der Abläufe (38f.)

Moa­cyr Sliar: Kafkas Leop­ar­den. Düs­sel­dorf: Lilien­feld 2013 (Lilien­fel­diana 18). 135 Seit­en.

Dieser kleine/kurze Roman hat über das schöne Pro­gramm von Tubuk-Deluxe seinen Weg zu mir gefun­den. Es ist ein run­dum schönes Buch, als Buchob­jekt schön gemacht, vor allem wieder mit einem schö­nen Ein­band. Und es ist auch ein net­ter Text. Stilis­tisch finde ich das in der Über­set­zung zwar ziem­lich blass, aber hin­ter Kafkas Leop­ar­den ver­birgt sich ein inter­es­san­ter Ein­fall: Was passiert, wenn man einen Apho­ris­mus Kafkas — näm­lich seine “Leop­ar­den im Tem­pel” — nicht als Lit­er­atur, son­dern als Gebrauch­s­text sozusagen liest? Im Roman Scliars passiert das zunächst in der Form, dass der Text als ver­schlüs­selte, rev­o­lu­tionäre Hand­lungsan­weisung im Mit­teleu­ropa 1916 gele­sen wird (oder zumin­d­est der Ver­such unter­nom­men wird, der ähn­lich wie viele ger­man­is­tis­che Lek­türen der “Leop­ar­den” scheit­ert. Das ganze wird dann sehr schön und unter­halt­sam aus­ge­bre­it­et und in ein­er Art Rah­men auch noch gedop­pelt, in der das Kaf­ka-Typoskript wieder eine Rolle spielt, dies­mals als ver­meintlich auf­ständisch codierte Nachricht im Brasilien der Dik­tatur. Und am Ende ver­schwindet der Text als Ding, das Typoskript, im Müll — bleibt aber im Gedächt­nis und im Traum vorhan­den und wirk­sam. Kafkas Leop­ar­den ist dur­chaus unter­hal­sam und liest sich flott weg .…

Wir dür­fen nichts erschaf­fen, was wir nicht zu beherrschen wisse. Und genau das ist Lit­er­atur, eine unkon­trol­lier­bare Angele­gen­heit. Man begin­nt zu schreiben, zu erfind­en, und wer weiß, wo es hin­führt? Und außer­dem, wozu noch mehr Büch­er? (41)

außer­dem gele­sen:

  • Sprache im tech­nis­chen Zeital­ter #201 (mit anre­gen­den Gedicht­en von Michael Fiedler)
  • und die let­zten Hefte der GWU, um damit endlich mal wieder aufzu­holen.

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