“Geschichte” enstammt der neuen Reihe “Edition Poeticon” im Berliner J.-Frank-Verlag mit dem schönen Motto “Poetisiert euch”. Hier erscheinen gerade so etwas wie Poetiken oder poetische Schriften zeitgenössicher Dichter aus dem Umfeld des Frank-Verlages. Bei Jan Kuhlbrodt geht es — der Titel verrät es — um Geschichte, Geschichtsbilder, Zeit und Rolle der Kunst in der Geschichte. Vor allem aber beschäftigt ihn hier die Möglichkeit des Dichters, Geschichte zu begleiten, wahrzunehmen, aufzunehmen in seine Dichtung, sie (als gemachte/erzählte Geschichte) zu formen und vielleicht auch (als geschehene) mitzubestimmen — also die Frage, wie Dichterinnen und ihre Dichtungen sich zur Geschichte verhalten können/müssen/sollen .… Er sucht das in erster Linie an Beispielen aus dem 20. Jahrhundert, vor allem in der russischen Lyrik. Da will er, wenn ich ihn richtig verstehe, die Möglichkeit zeigen, Geschichte in die Dichtung aufzunehmen, also so etwas wie “Geschichts-Lyrik” zu schreiben — und zwar nicht (nur) auf inhaltlicher Ebene, sondern vor allem in formaler Hinsicht.
Mit einigen wenigen Ausnahmen spielt Geschichte in der deutschen Gegenwartslyrik kaum eine Rolle. Es mag daran liegen, dass der Begriff der Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert derart zerfasert und zerfällt, dass ein lyrischer Bezut darauf geradezu unmöglich ist [dann einige Beispiele, wo es doch noch versucht wird — dort] geht es um ein Bewahren individueller Erfahrungen im Kontext wirrer und verwirrender Abläufe (38f.)
Dieser kleine/kurze Roman hat über das schöne Programm von Tubuk-Deluxe seinen Weg zu mir gefunden. Es ist ein rundum schönes Buch, als Buchobjekt schön gemacht, vor allem wieder mit einem schönen Einband. Und es ist auch ein netter Text. Stilistisch finde ich das in der Übersetzung zwar ziemlich blass, aber hinter Kafkas Leoparden verbirgt sich ein interessanter Einfall: Was passiert, wenn man einen Aphorismus Kafkas — nämlich seine “Leoparden im Tempel” — nicht als Literatur, sondern als Gebrauchstext sozusagen liest? Im Roman Scliars passiert das zunächst in der Form, dass der Text als verschlüsselte, revolutionäre Handlungsanweisung im Mitteleuropa 1916 gelesen wird (oder zumindest der Versuch unternommen wird, der ähnlich wie viele germanistische Lektüren der “Leoparden” scheitert. Das ganze wird dann sehr schön und unterhaltsam ausgebreitet und in einer Art Rahmen auch noch gedoppelt, in der das Kafka-Typoskript wieder eine Rolle spielt, diesmals als vermeintlich aufständisch codierte Nachricht im Brasilien der Diktatur. Und am Ende verschwindet der Text als Ding, das Typoskript, im Müll — bleibt aber im Gedächtnis und im Traum vorhanden und wirksam. Kafkas Leoparden ist durchaus unterhalsam und liest sich flott weg .…
Wir dürfen nichts erschaffen, was wir nicht zu beherrschen wisse. Und genau das ist Literatur, eine unkontrollierbare Angelegenheit. Man beginnt zu schreiben, zu erfinden, und wer weiß, wo es hinführt? Und außerdem, wozu noch mehr Bücher? (41)
außerdem gelesen:
- Sprache im technischen Zeitalter #201 (mit anregenden Gedichten von Michael Fiedler)
- und die letzten Hefte der GWU, um damit endlich mal wieder aufzuholen.
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