Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: hubert fichte

Aus-Lese #48

Thomas Brus­sig: Wasser­far­ben. Berlin: Auf­bau Dig­i­tal 2016. 183 Seit­en. ISBN 978–3‑8412–1084‑5.

brussig, wasserfarben (cover)Wasser­far­ben ist der erste Roman von Brus­sig, 1991 unter einem Pseu­do­nym erschienen und jet­zt als E‑Book veröf­fentlicht, deshalb ist er sozusagen bei mir gelandet. Es wird erzählt von einem Abi­turi­ent in Ost-Berlin am Über­gangspunkt zwis­chen noch Schule und bald Leben. Es soll also ganz offen­sichtlich ein com­ing-of-age-Roman sein. Das ist es aber nicht so recht — weil der “Held” sich wenig bis gar nicht entwick­elt und erst am Ende von seinem älteren Brud­er erk­lärt bekommt, wie man erwach­sen wird … Der Text ist vielle­icht typ­isch Brus­sig: gewollt rotzig und trotzig. Und dieses bemühte Wollen merkt man dem Text lei­der immer wieder an — nicht an allen Stellen, aber doch häu­fig. Genau wie er bemüht “frech” sein will ist er auch etwas bemüht witzig. Vor allem aber fehlt mir die eigentliche Moti­va­tion des Erzäh­lers, warum er so ist, wie er ist. Das wird ein­fach nicht klar.

Wasser­far­ben ist dabei sowieso von einem eher lah­men Witz und hink­en­dem Esprit gekennze­ich­net. Das passt insofern, als auch die beschriebene DDR-Jugend in den 80ern so halb auf­säs­sig ist: nicht ganz angepasst, aber auch kein Hang zur Totalver­weigerung oder wenig­stens “ordentlich­er” Oppo­si­tion. Das, der Held und seine Fre­unde und Bekan­nte, denen er im Lauf der Erzäh­lung begeg­net, zeigen dafür sehr schön den Druck, den das Sys­tem auf­bauen und ausüben kon­nte, vor allem in der Schule, aber auch im Pri­vatleben, wo Arnold, der Pro­tag­o­nist und Erzäh­ler (der den Leser schön brav siezt und auch son­st so seine extrem angepassten Momente hat), dur­chaus aneckt — vor allem wohl aus einem unspez­i­fis­chen Frei­heits­drang, weniger aus grund­sät­zlich­er Oppo­si­tion. Das Buch hat dur­chaus einige nette Momente, die auch mal zum Schmun­zeln anre­gen kön­nen, erschien mir auf die Dauer aber etwas fad — so wie die Jugend und die DDR selb­st vielle­icht. Nicht umson­st beschreiben die sich als “wasser­far­ben” im Sinne von: diese Jugend hat die Farbe von Wass­er, ist also ziem­lich blass, durch­scheinend, aber auch vielfältig.

Alke Stach­ler: Dün­ner Ort. Mit fotografis­chen Illus­tra­tio­nen von Sarah Oswald. Salzburg: edi­tion mosaik 2016 (edi­tion mosaik 1.2). 64 Seit­en. ISBN 9783200044548.

Meinen Ein­druck dieses feinen Büch­leins, dass es mir nach anfänglich­er Dis­tanz doch ziem­lich ange­tan hat, habe ich an einem anderen Ort aufgeschrieben: klick.

John Corbett/span>: A Listener’s Guide to Free Impro­vi­sa­tion. Chica­go, Lon­don: The Uni­ver­si­ty of Chica­go Press 2016. 172 Seit­en. ISBN 978–0‑226–35380‑7.

Diese gelun­gene Ein­führung in die frei impro­visierte Musik für inter­essierte Hör­er und Hörerin­nen habe ich auch schon in einem Extra-Beitrag gelobt: klick.

Nora Gom­ringer: ach du je. Luzern: Der gesunde Men­schen­ver­sand 2015 (edi­tion spo­ken script/Sprechtexte 16).153 Seit­en. ISBN 9783038530138.

gomringer, ach du je (cover)Dieser Band ver­sam­melt Sprech­texte Gom­ringers. Die zie­len auf die Stimme und ihre kör­per­liche Mate­ri­al­ität, sie set­zen sie voraus, sie machen sie zu einem Teil des Textes selb­st — oder, wie es im Nach­wort heißt: “Die Nieder­schrift ist für sie ein Behelf, um das lyrische schlechthin zur Erfül­lung zu brin­gen.” (144). Das ist gewis­ser­maßen Vorteil und Prob­lem zugle­ich. Dass man den Tex­ten ihre Stimme sozusagen immer anmerkt, ist kon­se­quent. Und sie passen damit natür­lich sehr gut in die “edi­tion spo­ken script”. Ich — und das ist eben eine rein sub­jek­tive Posi­tion — mag das allerd­ings oft nicht so gerne, zu sprechende/gesprochene Texte lesen — da fehlt ein­fach wesentliche Dimen­sion beim “bloßen” Lesen. Und was übrig bleibt, funk­tion­iert nicht immer, nicht unbe­d­ingt so richtig gut. Das soll aber auch gar keine Rüge sein und keinen Man­gel anzeigen: Sprech­texte, die als solche konzip­iert und geschrieben wur­den, sind eben mit bzw. in der Stimme gedacht. Ist ja logisch. Wenn die nun im gedruck­ten Text wegfällt, fehlt eine Dimen­sion des Textes, die sich imag­i­na­tiv für mich nicht immer rei­bungs-/naht­los erset­zen lässt. Ich denke dur­chaus, dass min­deste ein Teil der Texte gut sind. Gefall­en hat mir zum Beispiel das wieder­holte Aus­pro­bieren und Bedenken, was Sprache ver­mag und in welch­er Form: was sich also (wie) sagen lässt. Anderes dage­gen schien mir doch recht banal. Und manch­mal auch etwas laut und etwas „in your face“, eine Spur zu auf­dringlich und über-direkt. Ins­ge­samt hin­ter­lässt der Band damit bei mir einen sehr diver­gen­ten, unein­heitlichen Ein­druck.

Mod­ern

Einen Baum pflanzen
Auf ihm ein Haus bauen
Da rein ein Kind set­zen
Das Kind zweis­prachig
Anschreien (116)

Urs Leimgruber/Jacques Demierre/Barre Phillips: Lis­ten­ing. Car­net de Route — LDP 2015. Nantes: Lenka Lente 2016. 269 Seit­en. ISBN 9791094601051.

Lis­ten­ing ist das Tourtage­buch des Impro­vi­sa­tion­strios LDP, also des Sax­o­phon­is­ten Urs Leim­gru­ber, des Pianis­ten Jacques Demierre und des Bassis­ten Barre Phillips. Ursprünglich haben die drei das als Blog geschrieben und auch veröf­fentlicht. Drei Musik­er also, die in drei Sprachen schreiben — was dazu führt, dass ich es nicht ganz gele­sen habe, mein Franzö­sisch ist doch etwas arg eingerostet. Das geht mal ein paar Sätze, so manch­es habe ich dann aber doch über­sprun­gen. Und die ganz unter­schiedliche Sichtweisen und Stile beim Erzählen des Tourens haben. Da geht es natür­lich auch um den Tourall­t­ag, das Reisen spielt eine große Rolle. Wichtiger aber noch sind die Ver­anstal­ter, die Organ­i­sa­tion und vor allem die Orte und Räume, in den sich die Musik des Trios entwick­eln kann. Und immer wieder wird die Mühe des Ganzen deut­lich: Stun­den- bis tage­lang fahren, unter­wegs sein für ein bis zwei Stun­den Musik. Und doch ist es das wert, sowohl den Pro­duzen­ten als auch den Rezip­i­en­ten der freien Musik.

The per­form­ing musician’s hand­i­cap is that each con­cert is the last one ever. It’s nev­er going to get any bet­ter than it is today. The con­cert is ‚do or die‘ time. This moment is your truth and the groups truth. (65)

Die Räume, Pub­li­ka und auch die bespiel­ten Instru­mente wer­den immer wieder beschrieben und bew­erten. Demierre führt zum Beispiel genau Buch, welche Klaviere und Flügel er bespielt, bis hin zur Seri­en­num­mer der Instru­mente. Und da ist vom Stein­way-Konz­ert­flügel der D‑Reihe bis zum abgewrack­ten “upright” alles dabei … Leim­gru­ber inter­essiert sich mehr für die Städte und Organ­i­sa­tion­szusam­men­hänge, in denen die Konz­erte stat­tfind­en. Und natür­lich immer wieder die Musik: Wie sie entste­ht und was dabei her­auskommt, wenn man in ver­trauter Beset­zung Tag für Tag woan­ders neu und immer wieder frei impro­visiert. Und wie die Reak­tio­nen sind. Da find­en sich, im Text des Tourtage­buch verteilt, immer wieder inter­es­sante Reflex­io­nen des Impro­visierens und Selb­st­po­si­tion­ierun­gen, die ja bei solch­er, in gewiss­er Weise mar­ginaler, Musik immer auch Selb­stvergewis­serun­gen sind. Nur geübt wird eigentlich über­haupt nicht (außer Barre Phillips, der sich nach monate­langer Absti­nenz aus Krankheits­grün­den wieder neu mit seinem Bass ver­traut machen muss). Und im Trio gibt’s immer­hin kurze Sound­checks, die aber wohl vor allem der Erprobung und Anpas­sung an die jew­eilige Rau­makustik dienen. Und nicht zulet­zt bietet der Band noch viele schöne Fotos von Jacques Demierre.

Konzen­tri­ertes Hören, Ver­ant­wor­tung, materielle Voraus­set­zun­gen und spon­tane Eingaben bilden die Basis der Musik. Wir agieren, inten­sivieren, dekon­stru­ieren, eli­m­inieren, addieren und mul­ti­plizieren… Wir prak­tizieren Musik in Echtzeit, sie entste­ht, indem sie entste­ht. Gesten und Spiel­weisen ver­mis­chen sich und lösen sich ab. Wir hal­ten nichts fest. Das Aus­ge­lassene zählt genau­so wie das Einge­fügte. Jedes Konz­ert ist auf seine Art ein Orig­i­nal. Jede Sit­u­a­tion ist anders. Der akustis­che Raum, das Pub­likum, die gesamte Stim­mung im Hier und Jet­zt. (134f.)

Hubert Fichte: Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart. Briefe an Leonore Mau. Hrsg. von Peter Braun. Frank­furt am Main: S. Fis­ch­er 2016. 256 Seit­en. ISBN 978–3‑10–002515‑9.

fichte, briefe (umschlag)Zusam­men­gerech­net sind es knapp 60 Seit­en Briefe, für die man 26 Euro bezahlt. Und viele der Briefe Hubert Ficht­es an seine Lebens­ge­fährtin Leonore Mau sind (sehr) knappe, kurze Mit­teilun­gen, die oft in erster Lin­ie die Banal­itäten des (Zusammen-)Lebens zum Inhalt haben.

Ich will: kein­er­lei famil­iäre Bindun­gen. Ich will frei leben — als Sohn Pans — wenn Du willst und ich will schreiben. (28)

Die Briefe zeich­nen nicht unbe­d­ingt ein neues Fichte-Bild — aber als Fan muss man das natür­lich lesen. Auch wenn ich mit schlechtem Gewis­sen lese, weil es dem Autor­willen aus­drück­lich wider­spricht, denn der wollte diese Doku­mente ver­nichtet haben (was Leonore Mau in Bezug auf seinen son­sti­gen schriftlichen Nach­lass auch weit­ge­hend befol­gte, bei den Briefen (zumin­d­est diesen) aber unter­ließ, so dass sie nach ihrem Tod jet­zt sozusagen gegen bei­der willen doch öffentlich wer­den kön­nen und das Pri­vate der bei­den Kün­stler­per­so­n­en also der Öffentlichkeit ein­ver­leibt wer­den kann …) Vor allem bin ich mir nicht sich­er, ob sich — wie Her­aus­ge­ber Peter Braun im Nach­wort bre­it aus­führt — daraus wirk­lich ein “Relief” im Zusam­men­spiel mit den Werken bildet. Und wie immer bin ich mir ziem­lich unsich­er, ob das den Werken (es geht ja vor allem um die unfer­tige “Geschichte der Empfind­lichkeit”) wirk­lich gut tut (bzw. der Lek­türe), wenn man sie mit den Briefen — und damit mit ihrem Autor — so eng ver­schränkt. Und ob es in irgend ein­er Weise notwendig ist, scheint mir auch zweifel­haft. Ja, man erken­nt die auto­bi­ographis­che Grundierung manch­er Jäc­ki-Züge und auch der Irma-Fig­ur nach der Lek­türe der Briefe noch ein­mal. Aber ver­leit­et das Briefe-Lesen dann nicht doch dazu, aus Jäc­ki Hubert und aus Irm Leonore zu machen und damit wieder am Text der Werke vor­bei zu lesen? Ander­er­seits: ein wirk­lich neues Bild, eine unent­deck­te Lesart der Glossen oder der Alten Welt scheint sich dann selb­st für Braun doch nicht zu ergeben.

Ich will Frei­heit, Frei­heit — und dazu bedarfs Witzes und Lachens. (42)

Selb­st Willi Win­kler, dur­chaus enthu­si­astis­ch­er Fichtean­er, befind­et in der Süd­deutschen Zeitung: “Diese Briefe, ein­mal muss es doch her­aus, sind näm­lich von sen­sa­tioneller Belan­glosigkeit” und schießt dann noch recht böse gegen die tat­säch­lich manch­mal auf­fal­l­en­den Banal­itäten des Kom­men­tars (mein Lieblingskom­men­tar: „Dar­mgeräusche: Dar­mgeräusche sind ein Aus­druck der Peri­staltik von Magen und Darm und insofern Anze­ichen für deren nor­male oder gestörte Tätigkeit.“ (167)) und das etwas hochtra­bende Nach­wort von Her­aus­ge­ber Braun. Über­haupt macht das Drumherum, das ja eine ganze Menge Raum ein­nimmt, eher wenig Spaß. Das liegt auch an der eher unschö­nen, lieblose Gestal­tung. Und den — wie man es bei Fichte und Fis­ch­er ja lei­der gewöh­nt ist — vagen, unge­nauen Edi­tion­srichtlin­ien. Der Titel müsste eigentlich auch anders heißen, das Zitat geht näm­lich noch ein Wort weit­er und heißt dann: “Ich beiße dich zum Abschied ganz zart / wohin.” So ste­ht es zumin­d­est im entsprechen­den Brief, war dem Ver­lag aber wohl zu heikel. Und das ist dann doch schade …

Aber für uns ist ja nur das Unvor­sichtige das richtige. (141)

außer­dem gele­sen:

  • T. E. Lawrence: Wüsten-Gueril­la. Über­set­zt von Flo­ri­an Trem­ba. Her­aus­gegeben von Rein­er Niehoff. Berlin: blauw­erke 2015 (= split­ter 05/06). 98 Seit­en. ISBN 9783945002056.
  • Björn Kuh­ligk: Ich habe den Tag zer­schnit­ten. Riga: hochroth 2013. 26 Seit­en. ISBN 97839934838309.
  • Chris­t­ian Meier­hofer: Georg Philipp Hars­dörf­fer. Han­nover: Wehrhahn 2014 (Mete­o­re 15). 134 Seit­en. ISBN 978–3‑86525–418‑4.
  • Edit #66
  • Mütze #12 & #13 (mit inter­es­san­ten Gedicht­en von Kurt Aebli und Rain­er René Mueller)

Erziehungsanstalt des Ausdrucks

Die Orthogra­phie ist die Erziehungsanstalt des freien schriftlichen Aus­drucks. Es soll Kor­rek­toren geben, die über der Orthogra­phie das Lesen ver­lernt haben. Wenn es sie nicht gäbe, würde jed­er in jedem geschriebe­nen Satz die Entwick­lung sein­er Sprache und die Struk­turen sein­er Intel­li­genz doku­men­tieren — wie Friedrich II., wie Quir­i­nus Kuhlmann, wie noch Goethe und Schiller gele­gentlich.

— Hubert Fichte, im Gespräch mit Dieter E. Zim­mer
(zitiert nach Thomas Beck­er­mann (Hrsg.): Hubert Fichte. Mate­ri­alien zu Leben und Werk. Frank­furt am Main: Fis­ch­er 1985, S. 91)

Taglied 26.1.2012

nach dem Sound­scape von gestern heute noch ein­mal das gle­ich The­ma: Der “Platz der Gehenk­ten”, die Dje­maa el Fna, (übri­gens ein Unesco-Weltkul­turerbe) in Mar­rakesch, im großen und großar­ti­gen Hör­spiel von Hubert Fichte:

[wpau­dio url=“https://dl-web.dropbox.com/get/Public/22%20_1_22%20Djemna‑1.mp3?w=b6c6bb5b” text=“Hubert Fichte, Djem­ma el-Fna (Platz der Gehenk­ten), Teil 1” dl=“0”]

ein kleiner nachtrag zum hubert-fichte-jubiläum

„Es ergeben sich Über­schnei­dun­gen“ heißt es am Anfang der Palette. Und das ist, das klitzek­leine Hubert-Fichte-Jahr zum 20. Todestag macht es deut­lich, noch sehr unter­trieben. Im Zen­trum ste­ht natür­lich das etwas über­raschende Erscheinen des Ban­des Die zweite Schuld von Fichte selb­st. Fis­ch­er, inzwis­chen Ficht­es Hausver­lag, hat sich entschlossen, die Geschichte der Empfind­lichkeit, dieses vielköpfrige Mon­ster, mit dem Fichte sein schrift­stel­lerisches Werk krö­nen wollte, damit vorzeit­ig zum Abschluss zu brin­gen. Das bringt allerd­ings wenig Über­raschun­gen, wenig prinzip­iell Uner­wartetes. Auch die span­nende Frage, warum Fichte dieses Buch mit einem Sper­rver­merk verse­hen hat­te, hängt plöt­zlich ganz und gar in der Luft: So spek­takulär ist das alles gar nicht. Über den Zeit­punkt der Veröf­fentlichung kann man übri­gens tre­f­flich stre­it­en. Und das ist schon typ­isch für alles, was mit der Geschichte der Empfind­lichkeit zu tun hat: Defin­i­tive Klarheit­en gibt es hier im Moment fast gar keine, zu oft hat Fichte hier selb­st noch geschwankt. Auch seine Angaben zur Dauer der Sper­rfrist vari­ieren, man hätte das Buch auch guten Gewis­sens  und mit guten Argu­menten erst in 10 Jahren her­aus­brin­gen kön­nen. Davon abge­se­hen, ist Die zweite Schuld eigentlich ein unmöglich­es Buch. Und das mehrfach: Es ist ein­fach nicht fer­tig – und nir­gendswo in der Geschichte der Empfind­lichkeit fällt das so sehr auf wie hier -, es ist aber auch eine dop­pelte Zumu­tung an den Leser: Von Fichte selb­st und seit­ens der Her­aus­ge­ber.

Das The­ma ist der deutsche Lit­er­aturbe­trieb – mit einem leicht eth­nol­o­gisch gefärbten Blick und der ewigen Suche suche nach den wahren Motiv­en des Han­delns entwick­elt Fichte die Szener­ie des Lit­er­arischen Col­lo­qi­ums in Berlin mit seinen Teil­nehmer, den Dozen­ten und Fichte selb­st. Das Buch trägt außer­dem den Unter­ti­tel „Abbitte an Joachim Neu­gröschel“. Und damit ist offen­bar das stärk­ste Motiv für diese Arbeit genan­nt. Denn Fichte geht es gar nicht so sehr um das LCB selb­st, son­dern viel mehr um die sich dort man­i­festieren­den Macht­struk­turen und kreuz und quer ver­laufend­en Anti- und Sym­pa­thien. Erar­beit­et und geschrieben ist das ganz offen­sichtlich aus einem Unbe­ha­gen, als Teil­nehmer in dieseSi­t­u­a­tion selb­st ver­wick­elt gewe­sen zu sein, die anlässlich ein­er Kri­tik eines Textes von Neu­gröschel durch Grass, die Fichte bedenken­los fort­set­zte, in einem sym­bol­is­chen Juden- und/oder Schwu­len­mord gipfelt. Dafür hat Fichte einige der dama­li­gen Teil­nehmer inter­viewt. Und das sind natür­lich wieder typ­is­che Fichte-Inter­views, mit ihrer beson­deren Inten­sität und dem zwar genau geführten und ges­teuert, aber sich stets kol­lo­qui­al geben­den Dia­log-Ablauf. Gesprochen hat er mit Neu­gröschel selb­st, mit Elfriede Ger­s­tel, Her­mann Peter Piwitt und Wal­ter Höllerer. Dazu kom­men immer wieder kurze Skizzen, kleine Sit­u­a­tions­beschrei­bun­gen aus Berlin und der Gruppe 47. Und am Ende noch eine frühe Fichte-Erzäh­lung, „Im Tief­stall“.

Verzweifeln kann man an diesem Buch, d.h. an sein­er äußeren Gestalt. Denn so lobenswert es ja von den Leuten bei Fis­ch­er ist, das noch zu veröf­fentlichen – hätte man das nicht gle­ich richtig machen kön­nen? Wie die gesamte Geschichte der Empfind­lichkeit ist das auch ein furcht­bar­er mis­chmasch und nicht nur völ­lig inkon­se­quent, son­dern auch unprak­tisch und dadurch fast unles­bar. Z.B. das Höllerer-Inter­view, oder bess­er gesagt die kär­glichen Reste, die Fichte noch selb­st tran­skri­biert hat­te. Im Manuskript sind die Gesprächs­fet­zen noch mit den Ini­tialen verse­hen – weil zwis­chen­durch viele Dialogteile fehlen, ist das ja nicht ger­ade ganz verkehrt. Jet­zt ste­hen da nur noch Spiegel­striche. Und spätestens nach ein paar seit­en muss man rat­en, wer ger­ade spricht – sehr müh­sam ist so etwas… Denn damit ist der zen­trale Teil des geplanten Ban­des eigentlich über­haupt nicht les­bar, ganz zu schweigen davon, dass noch zwei wichtige Inter­views ganz und gar fehlen, die hat Fichte noch nicht ein­mal geführt: Mit Oswald Wiener und HC Art­mann.

Schon deshalb wäre der Unter­ti­tel, den Fichte notiert hat, eigentlich gar nicht so schlecht gewe­sen: Frag­mente. Nun heißt der Band aber „Glossen“, eine der frag­würdi­ger­eren Her­aus­ge­ber-Entschei­dun­gen. Die zweite Schuld ist wahrschein­lich vor allem der Band der Geschichte der Empfind­lichkeit, der die Schwierigkeit­en – und lei­der eben auch die Unzulänglichkeit­en – dieser pos­tu­men Edi­tion am stärk­sten her­vorteten lässt. Nur als zwei Beispiele noch: Das unfer­tige Höllerer-Inter­view druck­en die Her­aus­ge­ber mit den Coun­ter­num­mer ab, denn: „Die Lizenz Ficht­es, eine unortho­doxe Gram­matik und Syn­tax unge­filtert zu belassen und dafür eine entsprechende informelle Inter­punk­tion einzuset­zen, machen diese zum Instru­ment, das präzise das Aus­ge­sagt über­mit­telt“ – was immer das heißen soll. Oder die abschließende Erzäh­lung „Im Tief­stall“. Die wird gedruckt nach ein­er Veröf­fentlichung von 1965, nicht nach der Form, in der sie Hubert Fichte maschi­nengeschrieben in das Manuskript einge­fügt hat­te – ohne das irgend­wie zu begrün­den.

Ähn­lich unbe­friedi­gend sind auch andere Novitäten,  z.B. die Edi­tion der Hör­w­erke bei Zweitausendeins. Immer­hin ist sie jet­zt über­haupt mal erschienen, nach lan­gen, lan­gen Verzögerun­gen. Aber auch hier wieder ist die Art der Veröf­fentlichung zumin­d­est ernüchternd, wenn nicht verärg­ernd. Davon, dass die Kom­prim­ierung auf 2 mp3-CDs wed­er der klangqual­ität noch dem Han­dling irgend­wie ent­ge­genkommt (so teuer sind doch CD-Pres­sun­gen gar nicht mehr?), die Auswahl bleibt, um es milde auszu­drück­en, unbe­friedi­gend. Fast alles wichtiges fehlt: die vie­len Hör­spiele – zu nen­nen wäre ja nur Ich würde ein oder Lohen­steins Ibrahim Bas­sa schlum­mern weit­er­hin in den Rund­funkarchiv­en — mit Aus­nahme von Gott ist ein Math­e­matik­er, das ja schon vor einiger Zeit bei sup­posée wieder zugänglich gemacht wurde. Dort gibt es ja auch schon die wirk­lich her­aus­ra­gende Fichte-Lesung im Ham­burg­er Star­club, seine Palais‑d’amour-Interviews und seine Gespräche mit Lil Picard. Das alles hat Zweitausendeins natür­lich nicht. Dafür eine Menge Rund­fun­kle­sun­gen, deren Aus­sagekraft sich in sehr engen Gren­zen bewegt. Denn die sind zwar alle­samt nicht schlecht, aber doch auch ziem­lich belan­g­los. Denn Fichte liest in der ster­ilen Atmo­sphäre des Stu­dios gewöhn­lich auch entsprechend nüchtern. Höhep­unk­te sind aber auch zu verze­ich­nen. Das Fea­ture Djem­ma el Fna, das fast schon ein Hör­spiel ist (und damit ganz typ­isch für Ficht­es ganz eige­nen umgang mit dem Medi­um Radio). Auch das kurze Hör­spiel Romy und Julius von 1973, eine rol­len­ver­tausche Ver­sion von Romeo und Julia, gehört ohne Zweifel zu den besseren arbeit­en Ficht­es. Und immer­hin ist auch San Pedro Claver dabei, das Fichte selb­st zu seinen zen­tralen Werken gezählt hat und das sich die let­zten Leben­stage des spanis­chen Jesuit­en und Mis­sion­ars in einem echt radio­pho­nen, 14stimmigen imag­inären Raum vorstellt – eine para­doxe Fig­ur, gefan­gen zwis­chen ihrer Liebe zu den Sklaven und der Ange­hörigkeit zu ein­er ver­sklaven­den Macht, der katholis­chen Kirche,  vorgestellt in ein­er Art szenis­ch­er Rit­us, den Fichte faszinierend sich­er und wirk­mächtig beherrschte.

Es hat sich aber noch mehr getan. Schon im let­zten jahr, 2005, war in den Ham­burg­er Deich­torhallen die „Leben­sreise“ von Hubert Fichte und Leonore Mau zu sehen. Das Kat­a­log­buch dazu schrieb Wil­fried F. Schmoeller – als eine Art vor­läu­fige Biogra­phie Ficht­es.  Er scheut nicht vor seinen Urteilen zurück, weiß auch viel und hat einiges Licht in die Reisen Ficht­es gebracht. Nur zu Leonore Mau und ihren Fotogra­phien fällt ihm erstaunlich wenig ein, näm­lich fast gar nichts. Dafür gibt es – bei einem als Ausstel­lungskat­a­log konzip­ierten Buch natür­lich kaum anders zu erwarten – eine große Auswahl von ihr und anderen Fotographen (etwa Chris­t­ian von Alvensleben, der Fichte für sein wun­der­schön kitschiges Port­fo­lio 1960 einen Tag bei der Land­wirtschaft­sar­beit  in der Provence beobachtete). Das hätte ein schönes und ein gutes Buch wer­den kön­nen, das auch ohne die Ausstel­lung hil­fre­ich und wohltuend ist. Denn Schoeller schreckt nie vor deut­lichen Worten und eige­nen Wer­tun­gen zurück. Aber es ist doch nur eine Mogel­pack­ung, ein Etiket­ten­schwindel: Leonore Mau ist eben wieder ein­mal nur die fotografierende Dichter­gat­tin, die zur Illus­tra­tion ein paar Bilder beis­teuern darf, son­st aber nach Möglichkeit über­haupt nicht vorkommt. Es bleibt also doch wieder nur Ficht­es „Leben­sreise“, die für Schoeller eher ein „Lebenslabyrinth“ ist (aber wer kann das nicht von sich behaupten?) Seinem „Reise­fahrplan“ fol­gt Schoeller, mit auswer­tung der ver­streuten Dat­en, auch der Reisepässe, und stellt pflicht­gemäß auch die dabei ent­standen Büch­er vor, was bei der Geschichte der Empfind­lichkeit zu recht kuriosen Ein­schätzun­gen und Verk­nap­pun­gen führt. Es hat fast den Anschein, als sei das als Vorar­beit, Par­alipom­e­na ein­er Biogra­phie zu ver­ste­hen – die Frage ist dann nur noch, wer wagt sich als erstes, seine Arbeit wirk­lich so zu nen­nen. Denn geschrieben wird sie, mehr oder weniger aus­führlich und direkt, von nahezu allen, die über Fichte veröf­fentlichen. Es wäre wohl auch das näch­ste, das fol­gerichtige Pro­jekt – neben ein­er „richti­gen“ Werkaus­gabe. Aber ger­ade die wird wohl, vor allem was die Geschichte der Empfind­lichkeit bet­rifft, noch eine Weile Desider­at bleiben.

Auch Peter Braun hat sich auf eine Reise begeben, Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Das ist ein Ver­such, eine „spez­i­fis­che Poet­ik der Orte“ zu beobacht­en oder zu kon­sti­tu­ieren. Aber genau in diesem Punkt bleibt die Arbeit von Braun frag­il, schwammig, und unbes­timmt: Worin sich denn die Orte nun genau unter­schei­den, was das „orts­ge­bun­dene Erzählen“ (43) denn nun wirk­lich aus­macht – wird kaum deut­lich. Klar, bes­timmte Dinge passier(t)en nun ein­mal an bes­timmten Orten. Aber ist Ficht­es Zugriff auf die Djem­ma el Fna wirk­lich kat­e­go­r­i­al anders als der auf, sagen wir, den Gänse­markt? Oder die Palette? Braun geht übri­gens noch ein Schrittchen weit­er als Schoeller und sieht den ganzen lit­er­arische out­put gle­ich als „Lebenss­chrei­bung“ – damit ist er dann endgültig leg­timiert, das Leben und das Werk des Autors beliebig durcheinan­der zu wer­fen. Entsprechend umstand­los springt Braun dann auch hin und her. Über­haupt ist er ein ganz großer Inte­gra­tor. Alles wird zu einem großen Buch, Leben und Werk, Roman und Inter­view, Hör­spiel und Fea­ture wird zu einem einzi­gen, gigan­tis­chen Werk zusam­mengemixt – natür­lich hat er dabei ein kleines biss­chen Recht, die inter­textuellen Bezüge sind ja schon bei der ersten Lek­türe über­haupt nicht zu überse­hen. Aber er ver­liert dabei doch lei­der immer wieder die jew­eils eige­nen Qual­itäten der Texte aus den Augen. Zeitliche Struk­turen der Erzäh­lun­gen Ficht­es kann Peter Braun etwa nur unzure­ichend, nur sehr neben­bei, über­haupt ein­mal würdi­gen. Wenn man das so hin­tere­inan­der weg liest, drängt sich fast ein etwas unlieb­samer Ein­druck auf: Irgend­wie bleibt ein schales Gefühl. Denn neu ist das nicht. Das führt bekan­nte Motive, Ideen, Analy­sen weit­er, aber ohne dabei wirk­lich neue Per­spek­tiv­en auf Ficht­es Werke zu eröff­nen: Ein beson­der­er Erken­nt­nis­gewinn ist hier nicht zu beobacht­en. Das trifft im grunde vor allem Peter Brauns Buch – von einem Ausstel­lungskat­a­log muss man nicht unbe­d­ingt eigen­ständi­ge Forschung erwarten. Aber auch Braun hat das bedacht und will die „Reise“ als Ein­führung ver­standen sehen: „vor­rangiges Ziel […] ist es, die Schwelle vor der eige­nen Lek­türe zu senken.“ (16)  Aber dann stellt sich natür­lich die Frage: für wen bloß? Und es macht dann doch den Ein­druck, als solle es den geplagten Stu­den­ten von der Last befreien, Fichte über­haupt zu lesen – die exten­sive, seit­en­lange Zitier­erei trägt da nicht unwesentlich zu bei.

Wer lesen kann und das wom­öglich gar selb­st tut, ist dage­gen ein­deutig im Vorteil – das Meiste von dem, was Braun hier ver­sam­melt, kann, soll und muss man doch recht eigentlich selb­st ent­deck­en – es hat etwas von Vorver­dau­ung, wenn er aus­führlich und dur­chaus in der Sache zutr­e­f­fend, aber let­ztlich auch über­flüs­sig für denk­ende und ver­ste­hende Leser, die ganzen Querverbindun­gen in Ficht­es Prosa aufzutrödeln sucht.
Sein Blick­winkel ist dafür natür­lich sehr stark fokussiert (um ihn nicht eingeschränkt zu nen­nen) und etwas monogam: Er konzen­tri­ert sich auf die einzel­nen Orte, wo Schoeller mehr das Ele­ment der Reise, also der Bewe­gung, im Blick­feld hat: die per­ma­nente Verän­derung, Trans­gres­sion, Trans­for­ma­tion, wie auch immer. Und er ent­deckt diese Prozesse auch in der Prosa Ficht­es, v.a. in der eth­nol­o­gis­chen (falls man die mal behelf­sweise so benen­nen darf, auch wenn es nicht ganz exakt zutrifft) natür­lich beson­ders deut­lich. Für Schoeller zeigt sich Ficht­es Reisen dabei let­ztlich nur als (mehr oder min­der) äußer­lich­er Aus­druck ein­er „Expe­di­tion nach Innen“, eines per­ma­nen­ten Forschens in nur schein­bar chao­tis­chen Sprün­gen zwis­chen Ham­burg und Bahia de Sal­vador, Schroben­hausen und São Luíz de Maran­hão.

Allen, die das schon selb­st gemerkt haben und sich immer noch näher mit Fichte beschäfti­gen wollen, sei unbe­d­ingt emp­fohlen: Michael Fischs Bib­li­ogra­phie, die auch ger­ade in ein­er Neu­fas­sung erschienen ist. Selb­st so etwas harm­los­es wie eine Bib­li­ogra­phie, die den passenden Titel Explo­sion der Forschung führt, geht nicht ohne Trubel von­stat­ten, wenn es um Hubert Fichte geht. Damals, beim Erscheinen der ersten Fas­sung 1996, gab es eini­gen Wirbel mit der Ham­burg­er Hubert-Fichte-Arbeit­stelle, die auch Anspruch auf diese Bib­li­ogra­phie erhob. Aber egal wie: Hil­fre­ich ist das schon, auch wenn die Gliederung nicht immer bis ins Let­zte überzeugt. Und doch ist sie eben genau in dieser Form (auch) ein klares Zeichen für den momen­ta­nen Umgang mit Fichte: Die Erforschung scheint sich in ein­er Kon­so­li­dierungsphase, im Über­gang,  zu befind­en: Der Autor entschwindet langsam aber unaufhalt­sam und muss immer wieder neu ent­deckt, d.h. ver­standen wer­den. Es kön­nten sich also noch ein paar mehr Über­schnei­dun­gen ergeben.

  • Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Glossen. (Die Geschichte der Empfind­lichkeit). Frankfurt/Main: S. Fis­ch­er 2006.
  • Hubert Fichte: Hör­w­erke 1966–86. Hre­saus­gegebn von Robert Galitz, Kurt Kreil­er und Mar­tin Wein­mann. Frankfurt/Main: Zweitausendeins 2006.
  • Wil­fried F. Schoeller: Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schrift­steller und die Fotografin. Frankfurt/Main: S. Fis­ch­er 2005.
  • Peter Braun: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/Main: Fis­ch­er Taschen­buch 2005.
  • Michael Fisch: Hubert Fichte – Explo­sion der Forschung. Bib­li­ogra­phie zu Leben und Werk von Hubert Fichte. Unter Berück­sich­ti­gung des Werkes von Leonore Mau. Biele­feld. Ais­the­sis 2006.

(ste­ht auch in der test­card no. 16)

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