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Schlagwort: gerhard falkner

bücherstapel

Aus-​Lese #50

Ger­hard Falk­ner: Romeo oder Julia. Mün­chen: Ber­lin 2017. 269 Sei­ten. ISBN 978–3‑8270–1358‑3.

falkner, romeo oder julia (cover)Ich kann nicht sagen, dass ich von Romeo oder Julia wirk­lich begeis­tert gewe­sen wäre. Das liegt vor allem dar­an, dass ich nicht so recht kapiert habe, was der Text eigent­lich (sein) möch­te. Dabei hat er unbe­streit­bar aus­ge­zeich­ne­te Momen­te und Sei­ten, neben eini­gen Län­gen. Eini­ge der aus­ge­zeich­ne­ten Momen­te fin­den auf der Ebe­ne der Spra­che statt: Es gibt fun­keln­de ein­zel­ne Sät­ze in einem Meer von sti­lis­ti­schem und gedank­li­chem Cha­os. So habe ich mir das zunächst notiert – aber das stimmt so nicht ganz: chao­tisch (also rea­lis­tisch) erscheint der Text zunächst nur, er ent­wi­ckelt dann aber schon sei­ne Form. Die zumin­dest stel­len­wei­se hyper­tro­phe Sti­lis­tik in der Über­stei­ge­rung auf allen Ebe­nen ist dann auch tat­säch­lich lustig.

Uner­müd­lich arbei­te­ten hin­ter den Din­gen, an denen ich vor­bei­kam, die Grund­ma­schi­nen der Exis­tenz, die seit Jahr­tau­sen­den mit Men­schen­le­ben gefüt­tert wer­den, und die Stadt stütz­te ihre tau­be und orna­men­ta­le Mas­se auf die­ses unter­ir­di­sche Mag­ma von Lebens­gier, Kampf, Wil­le, Lust und Bewe­gung. 227

Was wird in Romeo oder Julia erzählt? Das ist eben die Fra­ge. Irgend­wie geht es um einen Schrift­stel­ler, Kurt Prinz­horn (über des­sen lite­ra­ri­sche Wer­ke nichts zu erfah­ren ist), der bei einem Hotel­auf­ent­halt in Inns­bruck von einer benutz­ten Bade­wan­ne und ver­schwun­de­nen Schlüs­seln etwas erschreckt wird. Rat­los bleibt er zurück und denkt immer wie­der über die Rät­sel­haf­tig­keit des Gesche­hens nach, wäh­rend das Autoren­le­ben mit Sta­tio­nen in Mos­kau und Madrid wei­ter­geht. Dort nähert sich dann auch die anti­kli­mak­ti­sche Auf­lö­sung, die in einem Nach­spiel in Ber­lin noch ein­mal aus­ge­brei­tet wird: Der Erzäh­ler wird von einer sehr viel frü­he­ren kurz­zei­ti­gen Freun­din ver­folgt und bedroht, die dann beim Ver­such, zu ihm zu gelan­gen (um ihn zu töten), selbst stirbt … Trotz des Plots, der nach Kri­mi oder Thril­ler klingt, bleibt Romeo oder Julia bei einer unbe­schwer­ten Rät­sel­haf­tig­keit, ein Spiel mit Span­nungs­ele­men­ten, sexis­ti­schem und völ­ker­psy­cho­lo­gi­schem Unsinn und ande­ren Pein­lich­kei­ten. Immer­hin sind der knap­pe Umfang und die eher kur­zen Kapi­tel (übri­gens genau 42 – wobei ich bei Falk­ner in die­sem Fall kei­ne Absicht unter­stel­le) sehr leser­freund­lich. Durch die zumin­dest ein­ge­streu­ten sti­lis­ti­schen Höhen­flü­ge war das für mich eine durch­aus unter­halt­sa­me Lek­tü­re, bei der ich kei­ne Ahnung habe, was das eigent­lich sein soll, was der Text eigent­lich will. Weder die Krimi-​Elemente noch die Pop­li­te­ra­tur­kom­po­nen­te oder die mas­si­ven Inter­tex­tua­li­täts­si­gna­le (die ich nicht alle in ver­nünf­ti­ge Bezie­hung zum Text brin­ge, aber sicher­lich habe ich auch eine Men­ge schlicht über­se­hen) for­men sich bei mei­ner Lek­tü­re zu einem Kon­zept: Ein schlüs­si­ges Sinn­kon­strukt kann ich nicht so recht erken­nen, nicht lesen und lei­der auch nicht basteln.

Es war Sonn­tag­vor­mit­tag, und es gab kaum Leu­te auf der Stra­ße. Stra­ßen auf den Leu­ten gab es erst recht nicht. es gab auch kei­ne Bus­se, die man sich auf der Zun­ge hät­te zer­ge­hen las­sen kön­nen, oder Fri­seu­re, die auf­grund einer unge­stü­men Blü­mer­anz der Ohn­macht nahe gewe­sen wären. Auch nicht die Hel­den­fried­hö­fe, die in wil­den und aus­ufern­den Vor­früh­lings­näch­ten von den Such­ma­schi­nen auf die Bild­schir­me gezau­bert wer­den, um mit ihren schnee­wei­ßen und chris­tus­lo­sen Kreu­zen die Sur­fer in ihre lee­re Erde zu locken. Es gab nicht ein­mal die feuch­te, war­me Hand der katho­li­schen Kir­che oder das tröst­li­che Röcheln des Dra­chens, dem sein belieb­tes­ter Geg­ner, der hei­li­ge Georg, gera­de die eiser­ne Lan­ze in den Rachen gesto­ßen hat. Es gab ein­fach wirk­lich nur das, was da war, was wir unmit­tel­bar vor Augen hat­ten, und die Tat­sa­che, dass ich in Kür­ze los­muss­te. 78

Ali­na Her­bing: Nie­mand ist bei den Käl­bern. Zürich, Ham­burg: Arche 2017. 256 Sei­ten. ISBN 9783716027622.

herbing, niemand ist bei den kälbern (cover)Das ist mal ein ziem­lich trost­lo­ses Buch über eine jun­ge Bäue­rin aus Alter­na­tiv­lo­sig­keit, die auch in den angeb­lich so fes­ten Wer­ten und sozia­len Net­zen des Land­le­bens (der „Hei­mat“) kei­nen Halt fin­det, kei­nen Sinn für ihr Leben. Statt­des­sen herrscht über­all Gewalt – gegen Din­ge, Tie­re und Men­schen. Einer­seits ist da also die Bana­li­tät des Land­le­bens, der Ödnis, der „Nor­ma­li­tät“, dem nicht-​besonderen, nicht-​individuellen Leben. Ande­rer­seits bro­delt es dar­un­ter so stark, dass auch die Ober­flä­che in Bewe­gung gerät und Ris­se bekommt. Natür­lich gibt es die Schön­heit des Lan­des, auch in der beschrei­ben­den Spra­che (die frei­lich nicht so recht zur eigent­li­chen Erzähl­hal­tung passt und mit ihren ange­deu­te­ten pseudo-​umgangssprachlichen Wen­dun­ge („nich“, „glaub ich“) auch vie­le schwa­che Sei­ten hat und ner­ven kann). Aber genau­so natür­lich gibt es auch die Ver­let­zun­gen, die die Men­schen sich gegen­sei­tig und der „natür­li­chen“ Umwelt glei­cher­ma­ßen zufügen.

Die Absicht von Nie­mand ist bei den Käl­bern ist schnell klar (schon mit dem Umschlag, sonst spä­tes­tens auf der ers­ten Sei­te, wenn das Reh­kitz beim Mähen getö­tet wird): Hei­mat, v.a. aber das Land­le­ben ent­zau­bern – denn es ist auch nur eine Rei­he von Bana­li­tä­ten und Ein­sam­kei­ten (auch & gera­de zu zweit) und suche nach Lie­be, Nähe, Emo­tio­nen. Die Natur bleibt von all dem unbe­tei­ligt und eigent­lich unbe­rührt. Mich ner­ven aber so Haupt­fi­gu­ren wie die­se Chris­tin, die – obwohl viel­leicht nicht direkt defä­tis­tisch – alles (!) ein­fach so hin­neh­men, ohne Gefühls­re­gung, ohne Gestal­tungs­wil­len, ja fast ohne Wil­len über­haupt, denen alles nur pas­siert, die alles mit sich gesche­hen las­sen. Dass da dann kein erfüll­ter Lebens­ent­wurf her­aus­kommt, ist abzu­se­hen. Mir war das unter ande­rem des­halb zu ein­sei­tig, zu eindimensional.

Manch­mal glaub ich, jedes Flug­zeug, das ich sehe, exis­tiert über­haupt nur, um mich dar­an zu erin­nern, dass ich einer der unbe­deu­tends­ten Men­schen der Welt bin. Wie­so soll­te ich sonst in die­sem Moment auf einem halb abge­mäh­ten Feld ste­hen? Nicht mal in einer Nazi-​Hochburg, nicht mal an der Ost­see oder auf der Seen­plat­te, nicht mal auf dem Todes­strei­fen, son­dern kurz davor, dane­ben, irgend­wo zwi­schen all­dem. Genau da, wo es eigent­lich nichts gibt außer Gras und Lehm­bo­den und ein paar Plät­ze, die gut genug sind, um da Wind­rä­der hin­zu­stel­len. 11

Lau­rent Binet: Die sieb­te Sprach­funk­ti­on. Rein­bek: Rowohlt 2017. 524 Sei­ten. ISBN 9783498006761.

laurent binet, die siebte sprachfunktion (cover)Das ist tat­säch­lich ein ziem­lich lus­ti­ger Roman über Roland Bar­thes, die post­mo­der­ne Phi­lo­so­phie, Sprach­wis­sen­schaft und Psy­cho­lo­gie in Frank­reich, auch wenn der Text eini­ge Län­gen hat. Viel­leicht ist das aber wirk­lich nur für Leser lus­tig, die sich zumin­dest ein biss­chen in der Geschich­te der fran­zö­si­schen Post­mo­der­ne, ihrem Per­so­nal und ihren Ideen (und deren Rezep­ti­on in den USA und Euro­pa) aus­ken­nen. Und es ist auch ein etwas gro­tes­ker Humor, der so ziem­lich alle Geis­tes­he­ro­en des 20. Jahr­hun­derts kör­per­lich und see­lisch beschä­digt zurücklässt.

Aus­gangs­punkt der mehr als 500 Sei­ten, die aber schnell gele­sen sind, ist der Tod des Struk­tu­ra­lis­ten und Semio­ti­kers Roland Bar­thes, der im Febru­ar 1980 bei einen Unfall über­fah­ren wur­de. Für die Ermitt­lun­gen, die schnell einer­seits in das phi­lo­so­phisch gepräg­te Milieu der Post­mo­der­ne füh­ren, ande­rer­seits vol­ler Absur­di­tä­ten und gro­tes­ker Gescheh­nis­se sind, ver­pflich­tet der etwas hemds­är­me­li­ge Kom­mis­sar einen Dok­to­rand, der sich in die­sem Gebiet gut aus­zu­ken­nen scheint. Ihre Ermitt­lun­gen führt das Duo dann in fünf Sta­tio­nen von Paris über Bolo­gna nach Ithaca/​USA und zurück zu Umber­to Eco (der ein­zi­ge, der eini­ger­ma­ßen unver­sehrt davon­kommt), womit die Rei­se, die Ermitt­lung und der Text das Netz­werk euro­päi­schen Den­kens (mit sei­nen ame­ri­ka­ni­schen Satel­li­ten der Ost­küs­te) in der zwei­ten Hälf­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts nach­zeich­nen. Das ist so etwas wie ein Pop-​Philosophie-​Thriller, der für mich doch recht zügig sei­nen Reiz ver­lor, weil das als Roman­text eher banal und kon­ven­tio­nell bleibt. Inter­es­sant sind höchs­tens die Meta­ebe­nen der Erzäh­lung (die es reich­lich gibt) und die Ana­chro­nis­men (die auch ger­ne und mit Absicht ver­wen­det wer­den), zumal die Theo­rie und ihr Per­so­nal immer mehr aus dem Blick geraten

Die im Titel ver­hie­ße­ne sieb­te Sprach­funk­ti­on bleibt natür­lich Leer­stel­le und wird nur in Andeu­tun­gen – als unwi­der­steh­li­che, poli­tisch nutz­ba­re Über­zeu­gungs­kraft der Rede – kon­tu­riert. Dafür gibt es genü­gend ande­re Sta­tio­nen, bei denen Binet sein Wis­sen der euro­päi­schen und ame­ri­ka­ni­schen Post­mo­der­ne groß­zü­gig aus­brei­ten kann. 

Wäh­rend er rück­wärts­geht, über­legt Simon: Ange­nom­men, er wäre wirk­lich eine Roman­ge­stalt (eine Annah­me, die wei­te­re Nah­rung erhält durch das Set­ting, die Mas­ken, die mäch­ti­gen male­ri­schen Gegen­stän­de: in einem Roman, der sich nicht zu gut dafür wäre, alle Kli­schees zu bedie­nen, denkt er), wel­cher Gefahr wäre er im Ernst aus­ge­setzt? Ein Roman ist kein Traum: In einem Roman kann man umkom­men. Hin­wie­der­um kommt nor­ma­ler­wei­se die Haupt­fi­gur nicht ums Leben, außer viel­leicht gegen Ende der Hand­lung. /​ Aber wenn es das Ende der Hand­lung wäre, wie wür­de er das erfah­ren? Wie erfährt man, wann man auf der letz­ten Sei­te ange­kom­men ist? /​ Und wenn er gar nicht die Haupt­fi­gur wäre? Hält sich nicht jeder für den Hel­den sei­ner eige­nen Exis­tenz? 420

Die­ter Grimm: „Ich bin ein Freund der Ver­fas­sung“. Wis­sen­schafts­bio­gra­phi­sches Inter­view von Oli­ver Lep­si­us, Chris­ti­an Wald­hoff(span> und Mat­thi­as Roß­bach mit Die­ter Grimm. Tübin­gen: Mohr Sie­beck 2017. 325 Sei­ten. ISBN 9783161554490.

grimm, freund der verfassung (cover)Ein fei­nes, klei­nes Büch­lein. Mit „Inter­view“ ist es viel zu pro­sa­isch umschrie­ben, denn einer­seits ist das ein ver­nünf­ti­ges Gespräch, ande­rer­seits aber auch so etwas wie ein Aus­kunfts­buch: Die­ter Grimm gibt Aus­kunft über sich, sein Leben und sein Werk. Dabei lernt man auch als Nicht-​Jurist eine Men­ge – zumin­dest ging es mir so: Viel span­nen­des zur Ent­wick­lung von recht und Ver­fas­sung konn­te ich hier lesen – span­nend vor allem durch das Inter­es­se Grimms an Nach­bar­dis­zi­pli­nen des Rechts, ins­be­son­de­re der Sozio­lo­gie. Des­halb tau­chen dann auch ein paar net­te Luh­mann-Anek­do­ten auf. Außer­dem gewinnt man als Leser auch ein biss­chen Ein­blick in Ver­fah­ren, Orga­ni­sa­ti­on und Bera­tung am Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, an dem Grimm für 12 Jah­re als Rich­ter tätig war. Schön ist schon die nüch­ter­ne Schil­de­rung der der nüch­ter­nen Wahl zum Rich­ter – ein poli­ti­scher Aus­wahl­pro­zess, den Grimm für „erfreu­lich unpro­fes­sio­nell“ (126) hält. Natür­lich gewinnt das Buch nicht nur durch Grimms Ein­blick in grund­le­gen­de Wesens­merk­ma­le des Rechts und der Juris­pru­denz, son­dern auch durch sei­ne durch­aus span­nen­de Bio­gra­phie mit ihren vie­len Sta­tio­nen – von Kas­sel über Frank­furt und Frei­burg nach Paris und Har­vard wie­der zurück nach Frank­furt und Bie­le­feld, dann natür­lich Karls­ru­he und zum Schluss noch Ber­lin – also qua­si die gesam­te Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land – Grimm ist 1937 gebo­ren – in einem Leben kondensiert. 

Das Buch hat immer­hin auch sei­ne Selt­sam­kei­ten – in einem sol­chen Text in zwei Stich­wör­tern in der Fuß­no­te zu erklä­ren, wer Kon­rad Ade­nau­er war, hat schon sei­ne komi­sche Sei­te. Bei so manch ande­rem Namen war ich aber froh über zumin­dest die gro­be Auf­klä­rung, um wen es sich han­delt. Die ande­re Selt­sam­keit betrifft den Satz. Dabei hat jemand näm­lich geschlampt, es kom­men immer wie­der Pas­sa­gen vor, die ein Schrift­grad klei­ner gesetzt wur­den, ohne dass das inhalt­lich moti­viert zu sein scheint – offen­sicht­lich ein unschö­ner Feh­ler, der bei einem renom­mier­ten und tra­di­ti­ons­rei­chen Ver­lag wie Mohr Sie­beck ziem­lich pein­lich ist.

Ador­no ver­stand ich nicht. Stre­cken­wei­se unter­hielt ich mich ein­fach damit zu prü­fen, ober er sei­ne Schach­tel­sät­ze kor­rekt zu Ende brach­te. Er tat es. 41

Con­stan­ti­jn Huy­gens: Euphra­sia. Augen­trost. Über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Ard Post­hu­ma. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. [ohne Sei­ten­zäh­lung]. ISBN 9783942901222.

Zu die­sem schö­nen, wenn auch recht kur­zen Ver­gnü­gen habe ich vor eini­ger Zeit schon etwas geson­dert geschrie­ben: klick.

außer­dem gelesen:

  • Dirk von Peters­dorff: In der Bar zum Kro­ko­dil. Lie­der und Songs als Gedich­te. Göt­tin­gen: Wall­stein 2017 (Klei­ne Schrif­ten zur lite­ra­ri­schen Ästhe­tik und Her­me­neu­tik, 9). 113 Sei­ten. ISBN 978–3‑8353–3022‑1.
  • Hans-​Rudolf Vaget: „Weh­vol­les Erbe“. Richard Wag­ner in Deutsch­land. Hit­ler, Knap­perts­busch, Mann. Frank­furt am Main: Fischer 2017. 560 Sei­ten. ISBN 9783103972443.

Denken

Am schwie­rigs­ten ist es, beim Den­ken nicht immer nur die eige­nen Gedan­ken zu den­ken. Ger­hard Falk­ner, Romeo oder Julia, 137

Schönheit

Schön­heit ist die ein­zi­ge, heu­te noch eini­ger­ma­ßen erschwing­li­che Heldenhaftigkeit.

— Ger­hard Falk­ner (im Gespräch mit Cor­ne­lia Jentzsch)

Aus-​Lese #10

ZEIT-​Geschichte, 2/​2013: Anders leben. Jugend­be­we­gung und Lebens­re­form in Deutsch­land um 1900. 114 Seiten.

Das Heft bie­tet vor allem eines: Vie­le schö­ne Bil­der luf­ti­ger oder gar nicht beklei­de­ter Men­schen … Die Tex­te haben mich näm­lich die­ses Mal etwas ent­täuscht: Joa­chim Rad­kau haut im ein­lei­ten­den Über­blicks­ar­ti­kel erst mal kräf­tig auf alle ande­ren His­to­ri­ker aller Pro­ve­ni­en­zen ein, die die (Lebens-)Reformbewegungen der Jahr­hun­dert­wen­de sowie­so alle falsch ver­stan­den haben (im Gegen­satz zu ihm selbst). Inter­es­sant ist dann noch der Text über den „Mon­te Veri­tà“, Andre­as Molitors Text über die Darm­städ­ter Mat­hil­den­hö­he hin­ge­gen bleibt flach – wie vie­le ande­re Bei­trä­ge auch. Ins­ge­samt sicher eines der schlech­te­ren Hef­te – mit der Geschich­te einer Idee kommt die Redak­ti­on mit ihren gewohn­ten Mit­teln offen­bar nicht zuran­de: Das ist nur eine lan­ge Rei­hung von Ein­zel­phä­no­me­nen, die kaum ein gro­ßes oder nur ein grö­ße­res Bild ergeben.

Jörn Rüsen: Kann ges­tern bes­ser wer­den? Zum Beden­ken der Geschich­te. Ber­lin: Kad­mos 2003 (Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Inter­ven­tio­nen, Bd. 2). 160 Seiten.

Vier Essays über Geschich­te an sich, als Pro­blem und Lösung, über die Ver­ant­wor­tung von His­to­ri­kern gegen­über der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart und der Zukunft – all die­se Grund­satz­fra­gen beim Nach­den­ken über und Arbeit mit und an der Geschich­te eben. Das ist alles sehr reflek­tiert, aber auch sehr tro­cken und strikt theo­re­tisch: typisch Rüsen eben … Typisch für ihn ist auch, immer von einer (exis­ten­zia­lis­ti­schen) „Anthro­po­lo­gie des His­to­ri­schen“ aus­zu­ge­hen und dar­aus sei­ne Über­le­gun­gen zu Wert und Gestalt der Geschich­te zu entwickeln.

Ger­hard Falk­ner: Per­ga­mon Poems. Gedichte+Clips (dt-​en). Über­ta­gen von Mark Ander­son. Ber­lin: kook­books 20012. 64 Sei­ten + DVD.

Zu dem Per­ga­mon Poems auf Papier und Silber-​/​Mattscheibe habe ich die­se Woche schon ein biss­chen etwas geschrie­ben: klick.

Edgar Allan Poe: Die Geschich­te der Arthur Gor­don Pym aus Nan­tu­cket. Über­setzt von Hans Schmid, her­aus­ge­ge­ben von Hans Schmid und Micha­el Farin. Ham­burg: mare­buch­ver­lag 2008. 525 Seiten.

Ein schön gemach­tes Buch, mit aus­führ­li­chem Begleit­ma­te­ri­al, einer neu­en, gut les­ba­ren Über­set­zung mit reich­li­cher Kom­men­tie­rung (auch wenn mich die Fuß­no­ten fast ein biss­chen zu sehr ablen­ken beim Lesen des Haupt­tex­tes). Vor allem aber ein wirk­lich groß­ar­ti­ger Roman, ein Hoch­fest des unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lens – denn das ein­zi­ge, das sicher ist, ist, dass nichts sicher ist, was hier erzählt wird … – da hilft auch die Beteue­rung des Erzäh­lers nicht viel:

Ich berich­te die­se Umstän­de ganz detail­ge­treu, und ich berich­te sie, wohl­ver­stan­den, exakt so, wie sie uns erschie­nen. (199)

Davon darf man sich den Spaß aber nicht ver­der­ben las­sen. Im Gegen­teil, der schlitz­oh­ri­ge Erzäh­ler ist ein nicht uner­heb­li­cher Grund, war­um die­se Aben­teu­er­ge­schich­te einer See­rei­se mit blin­dem Pas­sa­gier, Meu­te­rei, Schiffs­bruch, Südsee-​Handel, Südpol-​Expedition und Kämp­fen mit Ein­ge­bo­re­nen … so unter­halt­sam daher­kommt und so ein raf­fi­nier­ter Text ist.

Pergamontexte

Mit die­sem Blick beginnt Euro­pa! (29)

Ger­hard Falk­ner spricht, befragt von dem, nun­ja, Lite­ra­tur­fern­seh­red­ner Denis Scheck, im Fern­se­hen über sei­ne Lyrik im all­ge­mei­nen und sei­nen neu­en Lyrik­band Per­ga­mon Poems – natür­lich im Pergamon-​Altar. So bin ich auf die­ses schma­le Bänd­chen mit den neu­en Gedich­ten von Ger­hard Falk­ner (der spä­tes­tens seit „Gegen­sprech­stadt – ground zero“ auf mei­ner Lis­te geschät­zer Lyri­ker steht) gesto­ßen. Ganz nett anzu­schau­en und vor allem anzu­hö­ren sind die fünf Fil­me – eigent­lich ja eher Trai­ler – die die ers­ten Gedich­te des Ban­des insze­nie­ren und die dem Bänd­chen als DVD bei­gelegt sind: Gera­de in ihrer Zurück­hal­tung fand ich das ganz gut gemacht, die Kon­zen­tra­ti­on auf den Text und die Rezi­ta­ti­on der Schau­spie­le­rin­nen zusam­men mit den beschrie­be­nen Bil­dern des Pergamon-​Altars: Mini­ma­lis­tisch, aber nicht nüch­tern – im Gegen­teil, sogar vol­ler wohl­do­sier­tem Pathos. Aber bei Göt­ter­ge­dich­ten und solch mythisch und erin­ne­rungs­tech­nisch auf­ge­la­de­nem Gegen­stadt geht das nicht anders …: „Das Bei­spiel, das die Grie­chen gaben /​ man wird es nicht mehr los“ (37)

Die Gedich­te selbst neh­men die Betrach­tung der Figu­ren und Geschich­ten des Pergamon-​Altars nicht nur zum The­ma, son­dern zum Aus­gangs­punkt – für Fra­gen vor allem: Das hat ger­ne einen etwas kultur- und/​oder zivil­sa­ti­ons­kri­ti­schen Ein­schlag. Vor allem aber geht es um Fas­zi­na­ti­on: Die Fas­zi­na­ti­on des Betrach­ters durch die Schön­heit der Stei­ne, die Leben­dig­keit ihrer Gestal­ten und – auch – der Gewalt ihrer Taten, der Grö­ße und Unmit­tel­bar­keit. Das ist der Punkt, wo immer wie­der die fra­gen­de Gegen­warts­kri­tik ansetzt: Haben wir heu­te noch sol­che Grö­ße? Wie sähe oder sieht sie aus? „Wie viel Giga­byte hat die­ser Fries?“, fragt Falk­ner dann auch ent­spre­chend. Und genau aus die­ser Span­nung zwi­schen modern-​technisiert-​medialisierter Gegen­wart und mythisch-​kämpferisch-​heldenhafter Ver­gan­gen­heit zie­hen die kur­zen, oft locker gefügt erschei­nen­den Gedich­te ihre Spannung: 

Oh, Mann!
Hier flie­gen Räu­me aus­ein­an­der. Hier tre­ten Zeiten
aus den Schran­ken, Göt­ter wan­ken. Alles ist entfesselt.
Ist mit sich im Über­maß und den­noch redu­ziert und klar
… (Otos, 27)

Was Falk­ner außer­dem immer wie­der neu fas­zi­niert: Die stil­le Hand­lung, die ein­ge­fro­re­ne Bewe­gung, der ewi­ge Augen­blick – „ein Tanz der Tat“: 

wenn Aphro­di­te tanzt, raschelt der Mar­mor (43)

An ande­rer Stel­le heißt das „Action­ki­no /​ fest­ge­hal­ten als Still“. Und ähn­lich funk­tio­nie­ren auch sei­ne kur­zen Gedich­te: Sie sind vol­ler Bewe­gung und Drang, vol­ler Auf­bruch und Tat­kraft – und blei­ben doch bei einem Augen­blick, erstre­cken sich nie über län­ge­re Zei­ten oder ent­fal­te­te Vor­gän­ge. Scha­de nur, dass es so wenig gewor­den ist: Ohne die eng­li­sche Über­set­zung und viel Para­text hät­te das nicht ein­mal für den sowie­so schon gerin­gen Umfang eines Lyrik­ban­des gereicht. 

Ger­hard Falk­ner: Per­ga­mon Poems. Gedichte+Clips (dt-​en). Über­ta­gen von Mark Ander­son. Ber­lin: kook­books 20012. 64 Sei­ten + DVD.

Das Gespräch mit Denis Scheck:


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Und hier sind auch die fünf ange­spro­che­nen kur­zen Fil­me, die zu dem Auf­trag für die „Per­ga­mon Poems“ führ­ten, zu finden:

Per­ga­mon Poems I: Aste­ria & Phoi­be | Judith Engel, Ger­hard Falk­ner, Pergamonaltar

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Per­ga­mon Poems II: Aphro­di­te | Eva Meck­bach, Ger­hard Falk­ner, Pergamonaltar

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Per­ga­mon Poems III: Arte­mis | Til­man Strauss, Ger­hard Falk­ner, Pergamonaltar

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Per­ga­mon Poems IV: Apol­lon | Sebas­ti­an Schwarz, Ger­hard Falk­ner, Pergamonaltar

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Per­ga­mon Poems V: Kybe­le | Jen­ny König, Ger­hard Falk­ner, Pergamonaltar

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