Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: erzählungen

Aus-Lese #41

Wolf­gang Sof­sky: Weisen­fels. Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2014. 236 Seit­en.

sofsky, weisenfels“Unab­d­ing­bare Erschüt­terung”, “ver­fal­l­ene Gemäuer”, “die Begeg­nung zweier Men­schen im Zen­it des Unter­gangs ein­er ver­lore­nen Welt” — der Umschlag­text hält sich nicht zurück. Dabei ist Weisen­fels eigentlich ein ziem­lich selt­samer Roman: Zwei (ehe­ma­lige) Fre­unde tre­f­fen sich im Fam­i­lien­sitz des einen, einem ver­fal­l­en­den Schloss, dass gefüllt ist mit Arte­fak­ten der abendländis­chen Kun­st- und Kul­turgeschichte — aber nicht mit Men­schen. Die bei­den wan­deln durch die Gemäuer und durch die Samm­lun­gen und durch die Erin­nerung an eine Welt oder eine Epoche, die nicht mehr ver­füg­bar ist — eine Unternehmung, die ganz fol­gerichtig nur mit dem Tod enden kann. Es war nicht so sehr der plot, der mir schw­er­fiel, son­dern die sehr selt­same Prosa, die Sof­sky hier pflegt. Das ist ein unen­twegtes Deklar­ien, Dozieren und Deklamieren, sowohl der Fig­uren als auch des Erzäh­lers. Über­haupt die Fig­uren, die sind auch sehr selt­sam — näm­lich eigentlich nur (noch) als Maske, als Rolle oder als Platzhal­ter präsent und damit untote Hüllen, leblose Über­reste ein­er einst lebendi­gen Welt (dem christlichen Abend­land, das mit sein­er Tra­di­tion und Bil­dung so gerne beschworen wird, aber schon lange nicht mehr lebendig ist …). Reli­gion und ihre Anziehungskraft, aber auch ihre Aus­prä­gun­gen, Prax­en und The­olo­gien spie­len eine große Rolle, vor allem aber ein ganz wörtlich genommenes Leben „in“ Kul­turen: Wenn hier über­haupt noch Leben ist, dann im Über­rest der Kul­tur, nicht aber in dem, was man Welt nen­nen möchte.

Der Ver­lust der Bil­dung und der Kul­tur ist sozusagen die Grundthese, von der aus dieser Text geschrieben ist. Der koket­tiert aber zugle­ich selb­st auf allen Ebe­nen und auf­dringlich per­ma­nent damit, mit dem Bil­dungswis­sen sein­er Pro­tag­o­nis­ten bzw. deren Erzäh­ler: Tabak, Whiskey, Renais­sance-Malerei, Kun­st­musik des 19. Jahrhun­derts, Lit­er­atur, Enzyk­lopädis­tik, Skulp­turen — alles ist hier da, präsent und wird erzählt. Man kön­nte auch sagen: Das ist lauter bedeu­tungss­chwan­geres Wis­sen-Gek­lin­gel … Denn die Idee ist schnell klar, eben­so schnell zeigen sich Län­gen im Text, der manch­mal recht zäh daherkommt. Denn auch ihm gelingt natür­lich nicht das, was im und mit dem Schloss ver­sucht wird: Der Ver­such, den ewigen Prozess des Zer­fal­l­ens und Ver­falls anzuhal­ten, den Ver­lust zu ver­mei­den: Deshalb das man­is­che Sam­meln und Rekon­stru­ieren ver­loren­er Bil­dungs- und Kul­turgüter — ein Ver­such, der nahezu zwangsläu­fig mit dem Ver­lust der Erin­nerun­gen, des Selb­st und des Lebens — also dem Tod — enden muss.

Bern­hard Stro­bel: Ein dün­ner Faden. Erzäh­lun­gen. Graz, Wien: Droschl 2015. 152 Seit­en.

bernhard strobel, ein dünner fadenMit dem “dün­nen Faden” kon­nte Stro­bel mich nicht so recht begeis­tern. “Schnörkel­lose Schilderun­gen des müh­sam unter­drück­ten Alp­traums im Häuschen im Grü­nen” ver­spricht der Schutzum­schlag. Das trifft die Erzäh­lun­gen auch ziem­lich genau, ver­schweigt aber, dass sie dabei eher fad herüberkom­men — unter anderem, weil das Muster schnell erkan­nt ist: Es geht um ein­brechende Gefahren, Dro­hung, Andro­hun­gen und Stre­it. Immer wieder wird der All­t­ag durch ein plöt­zlich über die Pro­tag­o­nis­ten her­brechen­des Unheil, ein Unglück und Tragik, in der Real­ität des Fig­uren­lebens oder auch nur in Gedanken, Träu­men und Ahnun­gen, unter­brochen. Das beson­dere bei Stro­bel ist dabei, dass ger­ade die Momente der Erwartung des Unheils, das spür­bare, aber (noch) nicht zu benen­nende (und damit auch nicht zu hegende) Brodeln unter der Ober­fläche des gewön­lichen All­t­ags eine große Rolle spielt. Vieles ist und bleibt dabei auf­fal­l­end unspez­i­fisch — nicht nur Ort, Raum und Zeit, son­dern vor allem die Fig­uren selb­st. Das kann man natür­lich aus dem erzählten Geschehen — etwa dem Nebeneinan­der­leben der Paare, der aus­gestell­ten Nicht-Kom­mu­nika­tion — motivieren. Das wird auch dementsprechend ganz unauf­fäl­lig erzählt, in unmarkiertem Stil und unmarkiert­er Form. Lauter Nor­mal­ität — oder eben lei­der oft: Mit­tel­maß — also. Klar, der “müh­sam unter­drück­te Alp­traum” ist da: unter den Ober­flächen brodelt es gewaltig. Aber der Text ver­rät das kaum, seine „schnörkel­lose Schilderun­gen“ bleiben selb­st schreck­lich ober­fläch­lich und vom Geschehen oder dessen Ahnung und Ankündi­gung gän­zlich unberührt. Wofür dann die Stil­verk­nap­pung, die kün­stliche Kun­st­losigkeit gut ist, erschließt sich mir also nicht wirk­lich. Alles in allem überzeu­gen mich diese Erzäh­lun­gen also lei­der über­haupt nicht.

Die Sprache. Sie ist ein unzure­ichen­des Hil­f­s­mit­tel, und sie ist das einzige Hil­f­s­mit­tel. Ein schönes Dilem­ma. (131)

Peter Neu­mann: geheuer. Dres­den: edi­tion azur 2014. 88 Seit­en.

neumann, geheuerEine mar­itime Gedicht­samm­lung. Das Meer mit sein­er Bewe­gung, der Gren­ze zwis­chen Land und Wass­er, der (möglichen) Fremde und den unbe­herrscht­en und unbe­herrschbaren Gewal­ten spielt hier — der Titel weist darauf hin und das Titel“bild” unter­stützt das noch — eine große Rolle. Sind das also Naturgedichte? Nun­ja, Natur taucht hier eher und vor­rangig als Impuls für Wahrnehmung des Men­schen und für Poe­sie auf, sie ste­ht nicht für sich selb­st und wird auch nicht so wahrgenom­men und beschrieben. Neu­manns Gedichte eröff­nen oft und gerne einen großen Raum (der Imag­i­na­tion), ohne den auch nur annäherungsweise auszu­loten und ohne das auch über­haupt zu wollen. Gewis­ser­maßen wird eine Tür geöffnet, der Blick des Lesers in den Raum gewiesen — und dann alleine gelassen. Schön gemacht und deut­lich zeigt das Gedicht “bud­delschiff” dieses Ver­fahren:

das gefühl ein­er lan­gen reise
aufgeklappte mas­ten
und take­lage, das englis­che

schiff­s­tau zum reißen ges­pan­nt
der wind humpelt
auf eingeschlafe­nen beinen

durch die schmale öff­nung
im flaschen­hals
flaut ab, ein helles pfeifen (55)

Typ­isch für Neu­manns Gedichte ist außer­dem ihre Kürze. Immer wieder sind sie durch das Anreißen von solchen Augen­blick­en der (erken­nt­nishaften) Wahrnehmung, die dann aber nicht weit­erge­führt und aus­gear­beit­et wird, gekennze­ich­net. Sel­ten sind sie länger als 10/12 Verse. For­mal scheinen sie mir vor allem dem Fließen, dem Flow verpflichtet, ohne erkennbare Regel­haftigkeit. Die Gedichte ste­hen zwar gerne in Grup­pen von drei Versen, aber einen Grund erkenne ich dafür nicht …

Durch die inhaltliche und for­male Kürze — wenn man das mal so nen­nen mag — kommt es manch­mal zur Über­fülle der visuellen und sprach­lichen Bilder, die ange­häuft, nebeinan­der geset­zt wer­den, aber im Text kaum beziehun­gen zueinan­der haben — außer eben dem vor allem als (aus­ges­parten) aus­lösenden Moment der Erin­nerung an ein Gefühl, eine Empfind­ung, eine beobach­t­ende Wahrnehmung. Das (fast) rein bildliche Sprechen wirkt dabei für mich etwas über­sät­ti­gend — man darf wohl nicht zu viel am Stück lesen, dann wird die kun­stvolle Schön­heit dieser Gedichte schnell etwas schal. Aber es lohnt sich, immer wieder zurück zu kom­men.

Jörg Döring, Felix Römer, Rolf Seu­bert: Alfred Ander­sch desertiert. Fah­nen­flucht und Lit­er­atur (1944–1952). Berlin: Ver­brech­er 2015. 277 Seit­en.

drews/römer/seubert, alfred andersch desertiertEine schöne Gemein­schaft­sar­beit ist dieses Buch über Alfred Ander­sch, seine let­zten Tage als Sol­dat im Zweit­en Weltkrieg, seine Gefan­gen­schaft und vor allem die lit­er­arische — oder eben auto­bi­ographis­che? — Ver­ar­beitung dessen in mehreren Anläufen in der Nachkriegszeit, mit der sich Ander­sch auch und ger­ade im öffentlichen Diskurs sehr ein­deutig und nach­haltig posi­tion­ierte. Eine Arbeit des biographis­ches Forschens also. Aber nur bed­ingt biographisch, denn die drei Autoren beto­nen wieder­holt, dass es nicht primär darum geht, die biographis­che Dimen­sion fik­tionaler Texte in den Blick zu nehmen (das wäre ja auch unsin­ning und wenig hil­fre­ich), son­dern darum, die spez­i­fis­che Sit­u­a­tion von Deser­tion, Kriegsende und Nachkriegszeit bzw. vor allem ihre Deu­tung in der Ret­ro­spek­tive zu unter­suchen. Da Ander­sch die auto­bi­ographis­che Dimen­sion der “Kirschen der Frei­heit” stark forciert — und damit in der Lek­türe und Diskus­sion des Textes auch erfol­re­ich ist -, lässt sich das vertreten. Zumal die drei Autoren aus Ger­man­is­tik und Geschichtswis­senschaft sich mit weit(er)gehenden Deu­tun­gen und Speku­la­tio­nen zurück­hal­ten, son­dern einen starken Fokus auf die Rekon­struk­tion der Ereignisse um Alfred Ander­sch im Krieg in Ital­ien, um die (Möglichkeit der) Nieder­schrift und lit­er­arischen Bear­beitung solch­er Erleb­nisse in der Nachkriegszeit richt­en. Das ist, auch wenn ich mich für Ander­sch nur am Rande inter­essiere, ger­ade in der Vere­ini­gung ver­schieden­er fach­lich­er Per­spek­tiv­en, sehr inter­es­sant und auf­schlussre­ich — und trotz der teil­weise sehr akribis­chen Aufar­beitung der mil­itärhis­torischen und werk­strate­gis­chen Zusam­men­hänge auch sehr gut — zu lesen.

Jules Renard: Das Leben wird über­schätzt.Berlin: Matthes & Seitz 2015. 72 Seit­en.

renard, das leben wird überschätztDiese ganz kleine — aber auch aus­ge­sprochen feine — Auswahl aus dem “Jour­nal” Jules Renards hat der inzwis­chen lei­der ver­stor­bene Hen­ning Rit­ter besorgt und auch selb­st über­set­zt, der Ver­lag Matthes & Seitz hat sie in sein­er über­aus empfehlenswerten Rei­he “Fröh­liche Wis­senschaft” nun veröf­fentlicht. Das hier vorgelegte ist zwar chro­nol­o­gisch — von 1890 bis 1910 — an- und zuge­ord­net, aber den­noch kein eigentlich­es Tage­buch, son­dern eher eine Notate-Samm­lung (Rit­ter selb­st hat sein ähn­lich­es Unternehmen “Notizhefte” genan­nt). Man kön­nte auch sagen: Das sind Extrem-Apho­ris­men. (Zu über­legen wäre freilich, ob das im Orig­i­nal auch so ist, oder ob das erst durch die darauf abzie­lende Auswahl des Her­aus­ge­bers so erscheint.) Denn was Rit­ter aus­gewählt hat und hier veröf­fentlicht wird, das sind lauter kleine und knack­ige, tre­f­fende und totale Sätze. Das hat natür­lich immer wieder ein Hang zum Apodik­tis­chen, beruht aber ander­er­seits auf ein­er genauen Beobach­tung der Welt und ihrer Kun­st, die sich mit ein­er aus­ge­feil­ten Präzi­sion der genauesten For­mulierung paart.

Ich denke nicht nach: Ich schaue hin und lasse die Dinge meine Augen berühren. (13)

Oft geht es in den Miniatur-Ein­trä­gen um die Lit­er­atur, noch mehr um das Schreiben an sich, aber auch um die Felder der Kri­tik und des Jour­nal­is­mus — lauter Zeit­losigkeit­en also. Das Ich, sein selb­st und seine Tugen­den wird dabei genau­so unbarmherzig und oft hart beobachtet wie die anderen um ihn und um die Jahrhun­der­twende herum. Da kann ich sehr viel Zus­tim­mungs­fähiges find­en — man nickt dann beim Lesen immer so schön mit dem Kopf … -, auch pointiert Über­raschen­des, aber auch Fraglich­es. Ger­ade in sein­er Hal­tung zur Welt, die vor allem aus sein­er Abso­lu­tierung sein­er Indi­vid­u­al­ität resul­tiert, sehe ich nicht nur Vor­bild­haftes.

Das Recht eines Kri­ti­kers ist es, seine Grund­sätze einen nach dem ande­ren zu ver­leug­nen, seine Pflicht ist es, keine Über­zeu­gung zu haben. (5)
Was ist das Leben, wenn es nur mit Augen gese­hen wird, die nicht Augen von Dichtern sind? (22)

außer­dem unter anderem gele­sen:

  • Alexan­der Osang: Im näch­sten Leben. Reporta­gen und Porträts. Berlin: Ch. Links 2010. 254 Seit­en
  • Hein­rich Deter­ing: Vom Zählen der Sil­ben. Über das lyrische Handw­erk. München: Stiftung Lyrik Kabi­nett 2009. 28 Seit­en.
  • Hans-Wern­er Richter: Die Geschla­ge­nen. München: Kurt Desch 1949. 459 Seit­en.
  • Siri Hustvedt: The Blaz­ing World. Lon­don: Scep­tre 2014. 379 Seit­en.
  • Jür­gen Kaube: Im Reformhaus. Zur Krise des Bil­dungssys­tems. Springe: zu Klam­p­en 2015 (Zu Klam­p­en Essay). 174 Seit­en.
  • Isabel­la Straub: Das Fest des Win­drads. Berlin: Blu­men­bar 2015. 348 Seit­en.
  • Daniel Mar­tin Feige: Philoso­phie des Jazz. Berlin: Suhrkamp 2014. 142 Seit­en.
  • Thomas Heck­en: Avant­garde und Ter­ror­is­mus. Rhetorik der Inten­sität und Pro­gramme der Revolte von den Futur­is­ten bis zur RAF. Biele­feld: Tran­script 2006. 158 Seit­en.
  • Har­ald Welz­er, Dana Giesecke, Luise Tremel (Hrsg.): FUTURZWEI Zukun­ft­salmanach 2015/16. Geschicht­en vom guten Umgang mit der Welt. Schw­er­punkt Mate­r­i­al. Frank­furt am Main: Fis­ch­er 2014. 544 Seit­en.
  • Ben­jamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stim­men. Berlin: Ver­brech­er 2015. 107 Seit­en.

Aus-Lese #12

Johannes Bobrows­ki: Nach­barschaft. Gedichte. Aus­gewählt und mit einem Nach­wort von Klaus Wagen­bach. Berlin: Klaus Wagen­bach 2010 (Klaus Wagen­bachs Oktavhefte). 77 Seit­en.

Eine Auswahlaus­gabe der Gedichte Bobrowskis, die im Wagen­bach-Ver­lag zum Ver­lagsju­biläum erschien und mich, da ich noch nichts von Bobrows­ki (außer seinem Namen) kan­nte, angelacht hat. Nach dem Lesen war das nicht mehr so sehr der Fall: Einen recht­en Zugang habe ich nicht gefun­den, die Lyrik Bobrowskis resoniert nicht so recht bei mir. Es ist eine ganz bes­timte Art von Dich­tung der und über Land­schaften, was hier immer ganze Land­schaften meint, mit ihren Leuten, Tieren und der Gegend — aber eben nicht nur die der Natur etc. Er beschreibt das weniger, son­dern besingt die — auch schon zum Entste­hungszeit­punkt — unterge­gan­gene, ver­loren gegan­gene Land­schaften sehr poet­isch und auch gewollt poet­isch. Das klingt mir dann oft sehr emphatisch aufge­laden, in ein­er bewusst und gewollt artis­tisch über­höht­en Sprache, die ihre (Landschafts-)Bilder immer ger­adezu zwang­haft metapho­risch und mythisch ergänzt bzw. über­höht — das passiert natür­lich fast immer bei (guter) Land­schafts­dich­tung, fiel mir hier aber als beson­ders gesuchte Form sehr auf.

Ildikó Noé­mi Nagy: Oh Bumerang. Sto­ries. Salzburg: Jung und Jung 2013. 127 Seit­en.

Das Som­mer­buch von Tubuk-Deluxe. Und ein echt­es Spät­som­mer­buch, das schon ein biss­chen auf den Herb­st ein­stimmt. Nagys “Sto­ries” sind wirk­liche kurze Geschicht­en, die man kaum Erzäh­lung nen­nen mag: Momen­tauf­nah­men, fast lyrisch verdichtet, manch­mal nur knappe zwei Seit­en lang — aber immer sehr genau und präzise. Immer geht es hier um eine Art Leere, vor allem die emo­tionale. Auch eine gewisse Ort­slosigkeit spielt da häu­fig mit hinein, die irgend­wie mit der ungarisch-stäm­mi­gen Amerikaner­in als Ich-Erzäh­lerin (die Ähn­lichkeit­en mit der Autorin hat) zusam­men­hängt: Die “Unbe­haus­theit” ist hier nicht nur (aber auch) meta­ph­ysisch, sie man­i­festiert sich hier immer wieder. Und dann ist da noch eine Art offene Trau­rigkeit, die die Stim­mung der meis­ten Sto­ries prägt. Auch in den Per­so­n­enkon­stel­la­tio­nen, dem Umgang der Per­so­n­en miteinan­der, der fast immer beim Nebeneinan­der verbleibt, zeigt sich das immer wieder. So gibt es nur ganz wenige Gespräche, in denen Kom­mu­nika­tion wirk­lich gelingt. Die große Fremd­heit geht aber noch weit­er, sie umschließt auch das eigene Lebens und das eigene Selb­st. Über­haupt ist (oder scheint?) immer alles schon länst ver­gan­gen und ver­loren — Zukun­ft gibt es nur ganz sel­ten, Gegen­wart auch nicht so häu­fig. Das ist dann nur in kleinen Dosen genießbar, son­st ver­liert man sich darin wie in ein­er boden­losen Tiefe. Aber das ist auch kein Prob­lem, die “Sto­ries” sind ja alle kurz und knapp.

Pas­cal Merci­er: Nachtzug nach Liss­abon. 8. Auflage. München: btb 2008. 697 Seit­en.

Ein schönes Buch hat Pas­cal Merci­er da geschrieben, über die Möglichkeit des recht­en, richti­gen und wahren Lebens. Und über die Tiefe der Seele. Und über die Möglichkeit, einen anderen Men­schen ken­nen: Das Prob­lem fängt ja schon beim Indi­vidu­um selb­st an: Kann man sich selb­st ken­nen? Und kann man dann andere Men­schen (er-)kennen? Und kann man Men­schen nach ihrem Tod noch ken­nen ler­nen? In den Erin­nerun­gen der­er, die diesen Men­schen über­lebten? In seinen Tat­en? In seinen poet­is­chen Erkun­dun­gen, seinen Notat­en und seinen Nieder­schriften?

Das Leben ist nicht das, was wir leben; es ist das, was wir uns vorstellen zu leben.

Der Plot dafür ist manch­mal etwas arg kon­stru­iert für meinen Geschmack, und manch­mal wird es auch etwas lan­gat­mig. Aber schön — nicht nur inhaltlich, auch ger­ade im sprach­lichen Sinne — ist der Nachtzug nach Liss­abon trotz­dem.

Kitsch ist das tück­ischste aller Gefäng­nisse. Die Git­ter­stäbe sind mit dem Gold vere­in­fachter, unwirk­lich­er Gefüh­le verklei­det, so daß man sie für die Säulen eines Palastes hält.

dunkle bilder und düstere texte

das soll jet­zt nicht den ein­druck erweck­en, bei peter schüne­manns kleinem, aber feinem band mit erzäh­lun­gen: dun­kles bild (münchen: hanser 2005) han­dele es sich um depres­sive prosa. aber die erfahrung der dunkel­heit in ver­schiede­nen graden, der düster­n­is (ger­ade im kon­trast mit den auf­scheinen­den licht(blitzen)) ist doch ein pär­gen­des ele­ment dieser drei her­rlichen texte. ihre dunkel­heit, sprach­macht und ja, auch ihre men­schen­liebe, sowie natür­lich ihre bildlichkeit erin­nern mich teil­weise (v.a. im dun­klen bild) doch recht deut­lich an texte von christoph rans­mayr, beson­ders dessen let­zte welt.

zwei texte haben mich beson­ders beein­druckt: zunächst der die samm­lung eröff­nen­den und titel­gebende, dun­kles bild. schüne­mann erzählt in andeu­tun­gen, sorgfältig ges­teuerte infor­ma­tionsver­gabe (d.h. vor allem infor­ma­tion­skon­trolle: das ist ein­er dieser ganz sel­te­nen texte, die nur ganz wenig und nur ganz allmäh­lich mit­teilen, aber den­noch unge­heuer lebendig und faszinierend sind), der erzählt also von einem maler, der vorüberge­hend (die gründe und umstände sind nicht so ganz klar), ein blindes kind bei sich aufgenom­men hat. zusam­men erfahren sie vor allem die kälte (und den man­gel über­haupt). der maler ist auf der suche, auf der reise zu einem unge­mal­ten und unge­se­henen bild – er wird es erst im moment seines selb­st­mordes erken­nen, der so zu einem wahren und wirk­lichen moment der erlö­sung und der schau der reinen wahrheit (was natür­lich auch einen anspielung auf novalis, der jüngling zu sais, ist) wird (übri­gens ist der tod (absichtlich her­beige­führt oder nicht) zen­trales motiv von schüne­manns erzäh­lun­gen): „dann ließ ich los; un in der ver­hal­len­den sekunde sah ich endlich das bild, es waren nicht mehr die kalten augen der stat­uen, jahrtausendalt, es war das kleine gesicht, weiß, die ver­bran­nte hoff­nung in der licht­losen nacht, nur sehr fern und allein das zarte leucht­en in der tiefe sein­er augen, das bild nun, nach dem ich geforscht, und der leise laut, der micht im sturz noch traf. “ (24)

im zitat wird die qual­ität der schüne­mannschen prosa schon ziem­lich deut­lich: expres­sion­is­tisch bee­in­flusst, man kön­nte es fast eine bilderorgie nen­nen. die sprache lebt von der kraft ihrer bildlichkeit, d.h. ihrer meta­phern und ver­gle­iche. beson­ders in der massierung wirkt das ger­ade in dun­kles bild unge­heuer konzen­tri­ert – obwohl diese erzäh­lung nur ein kurzes stück ist, so ist sie doch von fes­sel­nder, unbezwun­gener und ungezähmter, also unmit­tel­bar­er kraft. allerd­ings eben nicht so, wie das im moment eher zeit­gemäß wäre, als schein­bare real­ität­sna­he, unmit­tel­bare sprache ohne stil­willen. ger­ade der enorme stil­willen, die enorme geformtheit der sprache, der worte und ihrer verknüp­fun­gen zu sätzen und absätzen, ist es erst, was mich beim lesen so unge­heuer fes­selt. dazu kommt dann die bere­its ange­sproch­ene reiche metaphorik und die post­fig­u­ra­tive motivik.

die treibt vor allem in der zweit­en erzäh­lung, zwieland. eine büch­n­er suite, ihre spielchen mit dem leser. denn dieser text ist bis zum überquellen vollgestopft mit anspielun­genen, wieder­auf­nah­men, abwan­del­n­dem auf­greifen von bes­timmten for­mulierun­gen, motiv­en, ideen aus büch­n­ers tex­ten – aus dem dan­ton, aus leonce und lena, natür­lich aus dem lenz, aber auch aus den briefen und vielem anderen mehr. die erzählsi­t­u­a­tion ist recht ein­fach: eine betra­ch­tung der let­zten tage georg büch­n­ers. der autor liegt mit faulfieber in sein­er eige­nen vari­ante der matrazen­gruft, wird von car­o­line und wil­helm schulz gepflegt, von min­na besucht. das ganze sowohl in der eigen­per­spek­tive büch­n­ers als auch beobach­t­end, mit großer klarheit als auch im fieber­traum eine paradies der post­fig­u­ra­tio­nen im quer­gang durch rück­blick, biogra­phie und werkschau.

der dritte text in diesem band, die nov­el­le zenons spur, scheint mir gegen diese bei­den erzäh­lun­gen etwas abz­u­fall­en. jet­zt ist es vor allem die auflö­sung des (kün­st­lerischen) lebens in das nichts, das erzählt wird: ein brud­er­paar, maler und schrift­steller, an der schwelle zum tod. der maler, epilep­tik­er, erliegt ein­er krankheit, hat zuvor noch sämtliche über­reste sein­er kün­st­lerischen tätigkeit getil­gt. sein brud­er, schrift­steller, fol­gt ihm offen­bar in den tod. mir allerd­ings fehlt dieser nov­el­le die spannkraft, das fes­sel­nde moment oder ein­fach die konzen­tra­tion der bei­den anderen erzäh­lun­gen. es kann freilich auch sein, dass ich nur noch nicht den passenden zugang, den richti­gen moment der lek­türe erwis­cht habe.

als ganzes mag das zwar zunächst wie ein reich­lich anachro­nis­tis­ches unternehmen erscheinen, was schüne­mann hier vor­legt. aber jen­seits von plat­tem aktu­al­itäts­drang, von pseu­do-kun­st und gewoll­ter bedeut­samkeit, ist das offen­sichtlich ein ver­such der ver­schmelzung: das dur­chaus in hohen dosen vorhan­den pathos dieser expres­sion­is­tisch ange­haucht­en sprache und ihrer väter wie kleist, novalis, hölder­lin (büch­n­er natür­lich auch) zeigt seine überzeitlichkeit, stellt seine weit­er­hin mögliche funk­tion auch im 20. (alle texte sind nicht mehr ganz taufrisch) bzw. natür­lich auch im 21. jahrhun­dert zumin­d­est zur diskus­sion, wenn nicht gar unter beweis. zumin­d­est ich möchte das behaupten, denn der ver­such, das echo, den ruf ver­gan­gener zeit­en hier einz­u­fan­gen und lebendig und vor allem wirk­mächtig zu machen, ist schüne­mann offen­sichtlich gelun­gen. das sagt nun allerd­ings wenig über die all­ge­meine ver­füg­barkeit dieser art von sprache (die auch eine bes­timmte art des denkens, vor allem aber der wahrnehmung der welt und des sub­jek­tes impliziert) aus – peter schüne­mann kann darüber gebi­eten, und das ist ein glo­r­re­ich­er sieg für den autor, aber auch für den leser, der dafür noch ein paar offene ner­ve­nen­den hat.

georg kleins ideen von den deutschen

georg klein zählt ja nicht ger­ade zu meinen lieblingsautoren – wer schrift­steller wie jir­gl, kurzeck etc. schätzt, wird das auch sel­ten tun. als kleine nachtlek­türe zwis­chen­durch lässt er sich aber noch aushal­ten. etwa sein erzäh­lungs­band von den deutschen (ham­burg: rowohlt 2002). der ist ziem­lich typ­isch für seine art zu schreiben – näm­lich größ­ten­teils harm­los – oder sog­ar ganz? jeden­falls ist das zweifel­los ganz und gar glänzend erzählt. aber auch oft mit dem ein­druck, es gin­ge nur noch um das erzählen an sich: das mit­tel ist zum zweck gewor­den. typ­isch ist dafür die per­fek­te beherrschung des erzäh­lerischen handw­erks. aber es wird auch bloß noch als handw­erk betrieben, nicht mehr als kun­st. dafür fehlt den tex­ten näm­lich die dringlichkeit, der durch nichts zu bändi­gende drang zur äußerung, zur mit­teilung, der sich nur in der kün­st­lerischen for­mung, der tex­tkon­sti­tu­tion äußern kann. ein neben georg klein für eine solche schreib­weise exem­plar­isch ste­hen­der autor ist etwa bodo kirch­hoff, auch hel­mut krauss­er vefällt solchen ten­den­zen manch­mal. das ist ja alles über­haupt nicht ehren­rührig. was mich an solchen autoren (weniger an kirch­hoff, dafür beson­ders an klein und krauss­er) am meis­ten stört, ist ihre behaup­tung und wom­öglich sog­ar überzeu­gung, das sei wirk­lich schon große kun­st, sei erzählen auf der höhe der zeit oder wie auch immer man das aus­drück­en will. und das stimmt ein­fach nicht. es muss ja gar nicht immer mod­ernistisch oder (for­mal) avant­gardis­tisch sein. aber ger­ade diese erzäh­lun­gen von klein sind ein­fach nur nette unter­hal­tung, die so tun, als seien sie was beson­deres – genau das richtige eigentlich für das heute offen­bar (wenn man sich die verkauf­szahlen bes­timmter büch­er, etwa – auch so ein lieblings­beispiel von mir – daniel kehlmann, anschaut) weit ver­bre­it­ete pseu­do-bil­dungs-bürg­er­tum, das nur noch die erbärm­lichen reste von bil­dung besitzt, sich aber immer noch in der priv­eligierten lage der ken­ner und wis­senden glaubt. solche leser haben an diesen erzäh­lun­gen bes­timmt viel spaß, dafür sorgt auch noch die ten­denz zum alle­gorischen auf­bau der geschicht­en – aber let­ztlich scheint es mir fast immer irgend­wie ins leere zu laufen: man spürt die bemühun­gen und ist ver­stimmt – so funk­tion­iert kun­st nicht, insofern er sein selb­st­gesteck­tes ziel per­ma­nent knapp zu ver­fehlen scheint, knapp unter der mess­lat­te ihn die kräfte ver­lassen. was bleibt, ist ein­fach harm­lose augen­wis­cherei, zudem in vie­len teilen erschreck­end schnulzig und har­monieseel­ig (etwa „der gute ray“), auch mal mit exo­tis­chen zutat­en (vor­wiegend lokalitäten, „lm lande od“). erschreck­end ist das, denn ger­ade die hier ver­bre­it­ete harm­losigkeit ist ja beson­ders gefährlich: sie täuscht über den wahren zus­tand von kun­st und welt, sie sug­geriert längst nicht mehr vorhan­dene möglichkeit­en des guten, gelin­gen­den, erfül­len­den lebens, des richti­gen ver­hal­tens und führt den leser damit nicht nur in eine ästhetis­che (und philosophis­che) falle, son­dern auch unbarmherzig ins abseits, ins reich der lügen. und von dort ist es dann wirk­lich nicht mehr weit bis ins reich der vor­abend-tv-serien – das ist dann wahrschein­lich nur noch eine frage der unter­schiedlichen herkun­ft, erziehung, des divergieren­den habi­tus: georg klein als tv-schnulze für leser….

blut & bier

mein gott, schon wieder so eine ent­täuschung. manche leute soll­ten wohl ein­fach nur bis zu einem bes­timmten alter schreiben. und bei franz xaver kroetz ist das offen­bar inzwis­chen über­schrit­ten. denn was er hier unter dem titel blut & bier. 15 unge­wasch­ene sto­ries vor­legt, ist bei tages­licht bese­hen, ein­fach mist. und zwar ziem­lich großer.

ich hat­te ja eigentlich gehofft, etwas von der sprach­lichen poe­sie des frühen kroetz, wie in bauern ster­ben, wun­schkonz­ert oder furcht und hoff­nung in deutsch­land auch in diesen geschicht­en wiederzufind­en. aber nix da, das ist nur noch selb­sthil­fe­prosa aus der schreib­w­erk­statt eines abgewrack­ten dichters, der genau weiß, dass er nichts mehr auf die rei­he bringt. noch nicht ein­mal mehr ordentliche beobach­tun­gen sind aufzuzeigen, kein inter­es­santes the­ma oder ein gelun­gener plot. wobei die meis­ten dieser wirk­lich recht dreck­i­gen g’schichten nicht ein­mal so etwas haben. apro­pos dreck: die vor­getäuschte kol­lo­qui­al­ität, die bedeu­tungsvoll-unab­sichtlich/be­deu­tungs­los ein­flocht­e­nen floskel der umgangssprache sind keinesweg legit­i­ma­tion für irgen­det­was, son­dern bloß ner­vend.

denn worum geht es hier eigentlich: genau, um kroetz. der taucht ziem­lich offen­sichtlich in fast allen erzäh­lun­gen auf – immer gibt es einen altern­den schrift­steller, der kaum noch etwas zu stande bringt, der über der schreib­mas­chine brütet, der von alko­hol und über­haupt dem auss­chweifend­en leben sein­er erfol­gre­ichen jugend geze­ich­net ist: „er schick­te sich rum. suchte eine neue. er fand ein loch. ein echt­es. das war er. ein arschloch.“ (28)

oder die tollen, ach so wage­muti­gen, ein­fach pein­lichen phan­tasien des altern­den her­rn beim anblick sein­er fam­i­lie – sein­er frau und sein­er bei­den töchter: „sie zogen sich aus. sechs tit­ten, drei ärsche, drei mösen, straffe haut über jungem fleisch“ … „mein gott, diese nut­ten, dachte er, diese gottver­dammten nut­ten.“ (38) und so geht das dann die ganze zeit…

manch­mal immer­hin scheint noch etwas vom sozialkri­tis­chen beobachter, dem ehe­ma­li­gen mit­glieder der kom­mu­nis­tis­chen partei, in den tex­ten auf – sel­ten genug. etwa wenn er im let­zten text „der ganz nor­mal super­mann“ das szenario ein­er ökol­o­gisch-egal­itären gesellschaft entwirft, in der alles, auch sex etc., streng lim­i­tiert sind, damit alle mal zum zuge kom­men.

lit­er­arisch ist das ein­fach mist: „schreiben kann doch heutzu­tage jed­er depp, aber er war ein guter mann, und darauf kommts doch let­ztlich an!“ (79). das, was mich an solchen tex­ten immer wieder am meis­ten anwidert, ist die tat­sache, dass ihr autor dur­chaus zu wis­sen scheint, dass er nur mist, nur bil­liges geschwurbel ohne kün­st­lerischen wert, pro­duziert – und trotz­dem nichts dage­gen untern­immt, nichts besseres schreibt oder wenig­stens den dreck unveröf­fentlich lässt.

damit wäre kroetz also auch abge­hakt – es sei denn, er macht einen münch­hausen und holt sich selb­st noch ein­mal aus dem sumpf sein­er selb­st­bezüglichen, selb­stver­liebten (immer­hin mit dem oblig­a­torischen winzi­gen schuss ironie), vor allem aber ein­fach schlecht­en prosa wieder her­aus.

franz xaver kroetz: blut & bier. 15 unge­wasch­ene sto­ries. ham­burg, rot­buch 2006

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