Kann es sein, daß das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu werden und im Erzählt-Werden immer wieder neu zu entstehen? Daß also das Erzählt-Werden einer der vielen Wege der Fortpflanzung ist, die das Leben kennt?
Anne Weber, Luft und Liebe, 184
Schlagwort: erzählen
Jörg Fauser in der heute etwas seltsam anmutenden Sendung “Autor Scooter” (mit dem damals noch halbwegs erträglichen Hellmuth Karasek) über sich, sein Schreiben und so weiter — der Autor als selbsternanntes “Mitglied der Agentur für Sprache und Zweifel” spricht:
Den Schriftsteller, der nicht gelesen wird, halte ich für eine pathetische und sinnlose Figur.
schön auch, wie Karasek mit seinem romantisch-genialen Autorbegriff auf Jörg Fausers wesentlich handfesterem, handwerklichen Autor-Ich (“writing is my business”) trifft …
Wer erzählt denn hier überhaupt?? (107)
Warum zieht Island eigentlich die Spinner an? Zumindest die gutmütigen? Wolfgang Müller ist ja schon eine Weile auf diese Spezialitäten wie Feen, Elfe und Kobolde — alles isländische Bestände — abonniert. Jetzt offenbar auch Albrecht E. Mangler. Mit “VERASCHUNG” (die Versalien sind Absicht), das über Tubuk Deluxe (inklusive originaler Island-Asche!) den Weg auf meinen Lesetisch fand, ist jedenfalls ausreichend verrückt, um Mangler zu einem Ehren-Isländer zu machen.
Schon die ganze Aufmachung, das ewige drunter & drüber, die zusätzlich eingeschobene Erzählerfiktion, das Casting für Figuren der Erzählung, … machen den Leser schwindlig. “Veraschung” ist nämlich vieles, aber eines bestimmt nicht: diszipliniert. Stattdessen ist das Büchlein, “der Island-Roman”, ausschweifend, undisziplinert, unbändig, wild, wirr (im besten, nämlich unterhaltenden Sinne das alles …) — und vor allem komisch. Mit allem, was das Erzählerherz und ‑hirn hergibt, wird gespielt: Mit Fußnoten, mit Ergänzungen, Verweisen, Pseudo-Interaktivität (inklusive Blog, Facebook-Account — und mit “Warteseiten” im Buch, um die Zeit bis zur Auszählung zu überbrücken …) — das ist fast ein gedruckter Hypertext. Allerdings nur als Show, sozusagen, nur aufgesetzt, um möglichst viel Farbe und Verwirrung in den Lesefluss und den mehr oder weniger geneigten Leser zu bekommen … Dazu noch — nicht zu vergessen (und auch nicht zu übersehen) — die Selbstreferenzialität auf verschiedenen Ebenen des Textes — eine furios Mischung, fast ein Lehrbuch der Narrativität.
Mangler zieht nämlich so ziemlich alle Register des (auch mal notorisch unzuverlässigen) Erzählens, unzählige Erzählerfiktionen, Fußnoten, Stimmenwechsel, der “Gastbeitrag” von Jökull Eldfellsson, der das ganze noch einmal unterbricht, aber auch die Mittel der Multimedialität (nicht nur Zeichnungen und Bildverweise, auch noch eine isländische Hobbyfotostrecke in der Mitte, stilecht auf Hochglanzpapier) und der Hyperfiktion, Spiel mit den Gattungen … so könnte man jetzt noch eine ganze Weile weiter aufzählen, was er sich so alles einfallen lässt bzw. was er von anderen übernimmt. Zum Glück für “Veraschung” ist das mit 127 Seiten gerade noch so im Rahmen, das der unaufhörliche Strom an erzählerischen Gimmicks noch auszuhalten ist — viel länger hätte ich das wohl nicht ertragen. Ach ja, so etwas wie eine “Fabel”, einen erzählerischen Kern, gibt es auch noch. Der ist aber fast banal, den brauche ich hier nicht zu referieren — ein bisschen muss dem Leser auch selbst überlassen bleiben. Schießlich ist das Entziffern und Entwirren desr Erzählknäuls ein wesenticher Teil des Spaßes — und das ist schon ein rundum amüsantes Spiel.
Wer erzählt denn hier überhaupt?? (107)
Albrecht E. Mangler: VERASCHUNG. Der Island-Roman erzählt von Vigo LaFlamme. Mit einem Gastbeitrag von Jökull Eldfellsson. Wien: Milena 2011. 127 Seiten. ISBN 978–3‑85286–210‑1.
Da sitzt er also, verschwindet fast hinter seinem Buch mit dem auffälligen orangefarbenen Umschlag, wirkt noch kleiner und zerbrechlicher als sonst. Aber seine Stimme, die dringt mühelos über das Publikum hinweg bis in die letzte Reihe und füllt das Antiquariat am Ballplatz ganz und gar aus. Peter Kurzeck, der aus Böhmen stammende, bei Gießen aufgewachsene, lange in Frankfurt lebende und nun in Südfrankreich schreibende Meister der Erinnerung und der Vergegenwärtigung liest aus seinem letzten Buch, „Oktober und wer wir selbst sind“. Die Lesungen Kurzecks sind immer ein Fest für seine Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwischen eine ganze Menge gibt – die Stühle im Antiquariat reichten gar nicht für alle, eine schöner Erfolg für den Veranstalter, das Literaturbüro Mainz. Denn Peter Kurzeck liest nicht nur einfachr, was er mal, vor einigen Jahren, irgendwann aufgeschrieben hat. Nein, er trägt es wirklich vor. Mit schwebenden Betonungen, manchmal fast singend. Und immer mit großem, beinahe kindlichem Erstaunen über diesen Text, den er da vor sich liegen hat. Dieses Erstaunen, das ist eine echte Kurzecksche Qualität. Es findet sich nämlich schon im Buch selbst: Als Staunen über die Welt, die den Erzähler umgibt. In „Oktober und wer wir selbst sind“ ist es das Frankfurt im Herbst 1983, die Wohnung in Bockenheim, die Wege in der Stadt und an ihren Rändern, mit Frau und Kind, zum Einkaufen und zum Kinderladen, im vergangenen Sommer und beginnenden Herbst. Und natürlich das Schreiben selbst – der Erzähler hat gerade sein drittes Buch begonnen. Kurzeck liest in Mainz aus den beiden ersten Kapiteln von „Oktober“, die genau den Moment beschreiben, in dem der Sommer endgülig vorüber ist. Aber in dem zugleich auch der Herbst schon da ist, schon etwas Neues begonnen hat. Das klingt alles furchtbar banal. Und ist es eigentlich auch. Nicht aber für Peter Kurzeck. Er verzaubert das nämlich: Durch die Erinnerung an den Alltag, das übliche und das ungewöhnliche, das banale und außerordentliche Geschehen wird das alles schon wieder ganz anders und besonders. Und durch seinen feinen, präzisen, verknappten und doch beredten Stil, der ihn schon so lange zu einer ganz außergewöhnlichen Erscheinung der deutschen Gegenwartsliteratur macht, wird es geradezu überhöht. Das Ergebnis, sein Buch und seine Lesung, ist berührend. Und mächtiger, auch dauerhafter als der kleine, unscheinbare Mann, der sie geschaffen hat.
(geschrieben für die mainzer rhein-zeitung)
schon der titel ist ja ein meisterwerk — ein anspruch, den der roman auch einö?sen kann: „Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das keiner.” (154 — das schreibt der erzähler über sein zweites buch. die parallelen zu peter kurzeck und dessen „das schwarze buch” von 1982 sind natürlich alles andere als zufällig. immerhin merken die qualität inzwischen ein paar mehr. aber das sind immer noch nur die kritiker — leser gibt es immer noch zu wenige. dabei hätte die lektüre von kurzecks büchern für die meisten einen gewaltigen gewinn und erkenntniszuwachs zu bieten — erheblich mehr als die bücher, die sich so auf den bestsellerlisten tummeln.) und auch sonst ist es wieder ein echter kurzeck — unbedingt, etwas monomanisch, aber faszinierend und fesselnd. nicht nur wegen der stilistischen virtuosität — kaum ein anderer gegenwärtiger autor hat so einen unverkennbar eigenen stil oder besser gesagt tonfall: denn es klingt immer, das von kurzeck geschriebene, es schwebt quasi schwerelos wie zarte kammermusik — sondern auch seiner themen und motive wegen. das buch ist wieder übervoll von schönen stellen, schönen formulierungen — einige stehen ja auch hier…
der beginn ist schon ein ende und verlust — oder umgekehrt: das ende ist der beginn — der anfang des erzählens: –> von dort startet das schreiben, das des erzählers und das des autors. aus angst, das geschehene, d.h. vergangene, zu verlieren — und aus dieser furcht beginnt sofort die suche nach der vergewisserung: „[…] wisst ihr den Sommer noch?” (7)
und noch etwas zeigt sich schon auf den ersten seiten: die gewissheit, die vergangenheit verloren zu haben, ist noch stärker als sonst (wenn ich die letzten bücher recht erinnere, die lektüre ist jetzt schon eine weile her): „unauffindbar. […] für immer in einem kerker.” (10) da hilft dann nur noch das erzählen: erzählen, um die wirklichkeit (der vergangenheit) aufzubauen, „in Gang” zu halten.
die erinnerung wird allerdings immer unsicherer, immer ungerichteter und fragiler: „Nachträglich kommt dir vor, du hättest ihn an einunddemselben Tag wenigstens zwei- oder dreimal gehört.” (50) aber alles ist verloren, die erinnerung, das gedächtnis, die orte, die ganze vergangene realität — und die gegenwart als zuk?nftige vergangenheit auch schon: „Wo ist der Tag hin?” (50) und diese ahnung der wiederholung der realität greift inzwischen selbst auf die träume aus: “[…] oder den gleichen Traum immer wieder?” (75) aber noch ist hoffnung (freilich ist die auch schon zwiespältig und gebrochen): „Und dann bleibt dir für immer das Bild.” — man muss es nur richtig und immer wieder erzählen. die frage ist dann nur: „wohin jetzt mit dieser geschichte?” (71). für diese art zu erzählen, zu schreiben gibt es allerdings keine direkten wege — und genau das macht eine wesentliche faszination der lektüre aus: „beim erzählen immer noch einen umweg.” (29). schlie?lich ist das ganze buch ein einziger umweg — eigentlich sollte es nur ein einziges kapitel der vorgeschichte sein, kein eigener roman.
auch das schreiben an sich spielt natürlich (wieder) eine große rolle — von anfang an. und wieder ist der erzähler seinem text ziemlich gnadenlos ausgeliefert: „Noch bei keinem Buch hat die Sprache mich so sehr gepackt, wie bei diesem — oder denkst du das jedesmal wieder?” (19) insbesondere die enden der kapitel führen immer wieder zum prozess des schreibens hin, zum erzählen an sich, zu den projekten des erzählers. und die sind schon lange mehr oder weniger zwanghaft geworden: „Ausnahmsweise vielleicht heut nicht mehr? Ausruhen? Eine Pause? Aber das fehlt mir dann morgen früh und was fehlt, fehlt für immer.” (111) sp?ter hei?t es dann noch einmal: „Doch inzwischen will die Zeit, die kein Einssehen hat, mir keine Ruhe mehr lassen.” (162)
und natürlich auch die zeit an sich wieder thema — das themas überhaupt, das kurzeck in seinen büchern umtreibt (vor allem natürlich in der chronik der frankfurter achtziger): hier ist sie aber noch offener thematisiert als in den letzten werken: „Die Zeit. Als ob man sich selbst sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die Zeit mit uns hin?” (23) oder später: „Daß die Zeit auch so schnell vergeht! Man weiß es und kann es doch nicht begreifen” (101)
die probleme der zeit: einerseits fliegt sie, rast davon — andererseits verlangsamt sie bis zum stillstand: „Ist für uns die Zeit stehengeblieben? Ist es jeden Herbst wieder der gleiche Tag?” (45) und dann taucht aber auch noch immer wieder die frage auf: „Wie soll man die Zeit erzählen?” (77) die kernfrage, die kurzeck (und seinen erzähler) schon länger beschäftigt und begleitet, wird nun immer expliziter gestellt: „[…] und in Ruhe die Zeit, immer weiter die Zeit aufschreiben. Den Fluß und die Zeit und das ganze Land.” (121)
viel stärker spielen daneben allerdings auch die fragen der realität eine rolle: gibt es zeit überhaupt? gibt es die dinge, vor allem aber gibt es orte? — oder ist alles nur ausgedacht, imaginiert? die zeit wird dabei auch noch stärker verdinglicht, zum objekt gemacht: „Wie die zeit selbst. als ob es die zeit ist, die immerfort über sie hinstreicht, unablässig, die heilige zeit.” (94) mehr noch als früher tritt dem leser peter kurzeck hier nicht nur als phänomenologe, sondern auch als erkenntniskritiker gegenüber. genau deshalb beherrscht ihn auch der zwang zur wiederholung (und zur wiederholung gehürt auch das erzählen als wiederholen — auf anderer stufe — der erlebten wirklichkeit): „Man muß sie glauben, weil man sie sieht, aber kann sie sich nicht erklären.” (47) — und dann sind ja da noch „überall Zeichen. […] Aber wie soll man die Zeichen deuten?” (49) — Zeichen haben sich ubiquitär ausgebreitet, alles wird zum Zeichen, der Erzähler weiß nicht mehr, was jetzt Zeichen ist und was nicht — von der Frage ihrer Bedeutung natürlich einmal ganz abgesehen.
ein anderes motiv, dass neu ist, durchzieht den text auch noch: der vater des erzählers taucht immer mehr und deutlicher auf — bisher war es vor allem die mutter der erzählers „peter”, die in den texten vorkam — hier wird immer wieder auch auf den vater bezug genommen.
und das alles gibt wieder so einen herrlichen text, das man nur ins schwärmen kommen kann. wie anders kann man auch auf solche zeilen reagieren: „Man kommt an und Ort und Zeit warten schon” (173)?
peter kurzeck: oktober und wer wir selbst sind. frankfurt am main: stromefeld 2007.