Das Volkslied taucht in den letzten Jahren immer mehr aus der Versenkung wieder auf – Projekte wie das Carus/SWR-Liederprojekt oder S.O.S. – Save Our Songs von Singer Pur sind nur Teil und Zeichen eines größeren rückbesinnenden Revivals. Das, was das SWR Vokalensemble Stuttgart und die SWR Big Band unter der Leitung von Morten Schuldt-Jensen mit Volkslieder 2.0 vorlegen, ist freilich etwas anderes. Denn für ihre erste Zusammenarbeit gehen die beiden SWR-Klangkörper einen Schritt weiter und in eine andere Richtung.
Der Komponist und Arrangeur Ralf Schmid warf dafür einen Blick auf die norwegische Tradition, während der Norweger Helge Sunde umgekehrt deutsche Volkslieder bearbeitete. Dabei steht für beide nicht das Volkslied an sich im Zentrum, sondern dessen künstlerische Potenz ohne nationalistischen Ballast. Und vielleicht ist es ganz folgerichtig, dass Schmid sich ohne Volkslieder direkt mit Peer Gynt auseinandersetzt, mit Griegs traditioneller Musik und Ibsens Text. Trotz aller Nähe zu einzelnen Sätzen wie der „Morgenstimmung” oder „Solveigs Lied“ verleiht er Peer Gynt eine sehr eigenständige Prägung, bringt etwa die Morgenstimmung als „toast på coast“ locker-beschwingt zum Tanzen und nutzt die Fusionsenergie aus der vokalen Kraft und der eher metallischen Energie der Big-Band in fein abgestimmten Arrangements.
Überhaupt gibt die Kooperation zweier so herausragender Ensembles den Komponisten reiche Möglichkeiten an die Hand. Die nutzen das zurückhaltend, aber subtil und geschickt. Die Vielfalt der Klangfarben ist phänomenal: Vom grellen Schmettern bis zum gehauchten Laut, von zackig-präziser Kraft über expressives Parlando bis zu den weich fließenden Melodien, von filigranen polyphonen Strukturen bis zu kraftvollen chorischen Klangflächen — man merkt, dass das den Musikern sozusagen auf den Leib oder in die Stimme geschrieben wurde.
Der Norweger Helge Sunde steuert einen faszinierenden Blick auf vier deutsche Volkslieder bei: Das eigentlich so harmlose Schlafliedchen wird ihm zu einem Thriller – einem lebendig und detailliert nachzuhörenden Kampf zwischen Kind und Schlaf, zwischen Traum und Ungeheuer, der gerade so noch die Kurve bekommt und im friedlichen Schlaf endet. Auch „Auf einem Baum“ erfährt eine Verwandlung: Der Kuckuck sitzt nicht einfach nur rum, man kann ihn in den agilen Stimmen des Vokalensembles tänzeln und flattern hören – und auch vom Baum fallen, nachdem der Jäger ihn abgeschossen hat. Und während „Wenn ich ein Vöglein wär“ zu einer astreinen Jazzballade wird, kracht die „Lore-Ley“ ausgesprochen funkig und rockig. Überhaupt haben Sundes Bearbeitungskompositionen etwas sehr verspieltes: Wie ein Kind, das im Spielwarenladen freie Auswahl hat, legt sich Sunde kaum Zurückhaltung auf – das offensichtlichste meidet er meistens, aber die vokal-instrumenalen und klanglichen Fähigkeiten beider Ensembles nutzt er weidlich aus. Die Avantgarde-Spezialisten des Stuttgarter Vokalensembles singen das präzise, bleiben aber immer ganz entspannt, ganz egal, ob sie nun gerade sanft säuseln oder wie in der „Lore-Ley“ selbst zu einem Teil der Big Band werden. Und da gibt es immer wieder buntes und abwechslungsreiches zu hören – beide Gruppen fangen die Stimmungen der Lieder sehr geschickt auf und machen sie sehr deutlich vernehmbar. Das beste ist aber: Alles wirkt vollkommen natürlich, ungezwungen und harmonisch – weil sowohl Schmid als auch Sunde beiden Ensembles ihren Raum lassen. Auch wenn diese vielschichtig-vertrackte Musik so sicher nicht selbst zu Volksmusik werden wird – man wünscht ihr, möglichst oft gespielt, gesungen und gehört zu werden.
(In einer etwas kürzeren Fassung zuerst erschienen in »Chorzeit – Das Vokalmagazin« No. 28, Juni 2016.)
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