Eigentlich bin ich ja kein Science-Fiction-Leser und schon gar kein Fan — auf den schmalen Roman von Carl Amery hat mich die “Phantastik”-Ausgabe der Krachkultur gebracht. Der Untergang der Stadt Passau ist ein Text, der ganz klar die Vorgaben des Genres erfüllt: Nach dem nicht ganz vollständigen Untergang der Zivilisation in Europa sammeln sich die Reste der Bevölkerung langsam wieder in Gruppen. In Passau etabliert sich eine Art Diktatur, die die Technik der Vergangenheit — unter anderem Stromerzeugung — noch nutzbar macht und dafür/dabei die Landbevölkerung unterdrückt und ausraubt. Es gibt eine Art Showdown mit einer kleinen Gruppe Jäger und Sammler/Landwirten, der in Gewalt und Verfolgung endet. Und einige Generationen später kommen die Nachfahren dieser beiden Abgesandten, um die Stadt Passau — den babylonischen Sündenpfuhl (die Parallelen zur biblischen Geschichte sind kein Zufall) dem Erdboden gleich zu machen. Das ist alles einigermaßen konventionell, aber dennoch ganz geschickt und einfallsreich geschrieben. Interessant auch: Was bei Clemens Setz Jahrzehnte später als großartiger Kunstgriff gilt — das Spiel mit verschiedenen Typographien, die verschiedenen Erzählebenen bzw. ‑formen entsprechen (siehe unten) -, passiert hier bei Amery quasi nebenbei. Aber halt in einem nicht ernst zu nehmenden Genre, der Science-Fiction. Übrigens zeigt das meines Erachtens wieder mal, wie wenig die Literaturkritik mit den Schöpfungen der deutschen Literaturgeschichte wirklich vertraut ist — oder, um es positiver zu sagen: Wie wenig sie diese Kenntnis in ihren Kritiken, die es ja nur in Ausnahmefällen vermag, wirklich historische (d.h. mehr als zwei, drei Jahre in die Vergangenheit zeigende) Einordnung oder Traditionslinien aufzuzeigen, zeigt und vermittelt …
Es ist eigentlich alles gutgegangen, überlegte er. Trotz der Politik. Oder wegen der Politik? (112)
Kosmas ist eigentlich nicht viel mehr als eine nette Kunstbetrieb-Satire, in der Wolfgang Müller die verrückten Kapriolen der Sammler und Spekulanten und Künstler der Gegenwartskunst der Post-Post-Moderne um die Jahrtausendwende gekonnt aufspießt (unübersehbar ist die Referenz an Damien Hirst), die sich ganz und gar von der ästhetischen Seite der Kunst entfernt haben und nur noch ihre monetären und Aufmerksamkeit bzw. Geltung produzierenden Aspekte — v.a. die Exklusivität und die entsprechende Vermarktung — berücksichtigen und wertschätzen. Deshalb läuft sich der Text auch etwas schnell tot: Die Angriffsziele und Waffen dieser Satire sind schnell klar — und dann passiert eigentlich nicht mehr viel: Das wird noch ein wenig variiert und weitergesponnen, vor allem aber immer noch eine, hat aber Umdrehung mehr übersteigert. Leider hat Müller aber kaum neue Ideen im Verlauf des Textes. Immerhin bleibt der aber auch dann noch amüsant, so dass man die Lektüre nicht total bereut …
Als Fortsetzung von Q (das noch unter dem älteren Namen des Schreibkollektivs, Luther Blisset, erschien) angepriesen, erzählt Altai die Vorgeschichte der Schlacht von Lepanto: Manuel Cardoso, ein Spion, muss aus Venedig fliehen, weil er der Sabotage verdächtigt wird und landet in Konstantinopel. Damit ist der große, welthistorische Geltung beanspruchende Rahmung des Romans schon beinahe abgesteckt: Alle drei monotheistischen Religionen werden hier mehr oder weniger konfrontativ zusammengebracht — und Cardoso steht als katholischer Konvertit im Dienste eines Judens, der für/mit den muslimischen Herrschern des Osmanischen Reiches arbeitet, immer im Zentrum. Beziehungsweise fast im Zentrum: Denn er ist zwar nahe dran, etwa an der Eroberung Zyperns und dann eben — als Reaktion darauf — in der Schlacht von Lepanto. Doch eingreifen kann er nicht oder nur so, dass seine Ohnmacht erst recht sichtbar wird. Das ist also ein historischer Krimi — aber ein Krimi, den ich überhaupt nicht spannend fand. Und zwar weder als historischen Roman noch als Kriminal- oder Verschwörungsgeschichte. Der ganze Text ist letztlich nicht im gleichen Maße überzeugend und faszinierend wie Q — auch wenn er sich der gleichen Mittel bedient: Bericht aus “zweiter Reihe”, Erleben des Entstehens und Geschehens von (Welt-)Geschichte aus anderer Perspektive etc… Aber: Zum einen ist Cardoso und damit der Erzähler viel näher dran an der Macht, zum anderen schien mir das alles viel konstruierter. Und viele Beschreibungen und Erzählungsstränge bleiben für mich schematisch, blass und leblos. Das gilt vor allem für ungefähr die ersten beiden Drittel — das ist total zerfasert und unharmonisch. Danach wird es besser, weil konzentrierter und spannender. Die Grausamkeit der Belagerung von Famagusta auf Zypern durch die Türken (und auch die Schlacht von Lepanto) wird dann durchaus fesselnd geschildert. Aber ein Problem bleibt: Die Figuren wirken alle wie am Reißbrett entworfen: eindimensional, flach und leblos. Und deshalb bleibt Altai dann ein zwar flott lesbarer, aber eher langweiliger Roman. Fortsetzungen von Erfolgsbüchern sind eben nicht einfach …
Seine vergangenen Leben verblassen, er weiß nicht, was ihn noch erwartet, und die Gegenwart zeigt sich nur in verschwommenen Umrissen. Deshalb nimmt er alles mit, was er im Laufe der Jahre aufgeschrieben hat.
Aber das genügt nicht.
Er steckt eine Spiegelscherbe ein. Er will sichergehen, dass er sich am Ende der Reise wiedererkennt. (90)
Der Gang der Ereignisse in diesem Buch muß sich beschleunigen. Es wäre wichtig, der Erzählung das Fleisch so abzulösen, daß allein ihr Knochengerüst übrigbliebe. Indessen, die bloße Wiedergabe der Tatsachen kann nicht genügen. Hier einige Erklärungen: Wer darüber erstaunt ist (wir sagen lieber erstaunt als erregt oder entrüstet, um deutlicher zu zeigen, daß dieser Roman demonstrativ sein will), daß Querelle bei Gils Verhaftung, die er den Abend zuvor veranlaßt hatte, Schmerz empfand, der möge den Ablauf seiner Abenteuer überblicken. Er tötet, um zu rauben. Wenn der Mord vollbracht ist, ist der Diebstahl zwar nicht gerechtfertigt — eher möchte man die Meinung wagen, daß der Mord durch den Diebstahl gerechtfertigt sein könnte -, aber er ist geheiligt. Offenbar ließ der Zufall Querelle die moralische Kraft des Diebstahls, der vom Mord gekrönt und zunichte gemacht wird, erfahren. (192)
Der Querelle — benannt nach seinem (Anti-)Helden — von Jean Genet ist ein sogenannter “berühmt-berüchtigter” Text (Was wohl auch heißt, dass er heute zwar gerne mal anzitiert, aber wohl seltener gelesen wird). Er begleitet den Matrosen und Mörder Querelle, einen vielfachen Außenseiter (Bisexueller, Dieb, Serienmörder, Matrose …), dessen Leben und Lieben außerhalb der Gesellschaft und der Kommunikation und der gesellschaftlich akzeptieren Form der Liebe immer wieder gezeigt wird. Und zwar in aller Schwärze und Verzweiflung gezeigt und beschrieben, aber auch in allen Verästelungen und Verirrungen. Das ist ein ausgesprochen grandioser Text, der auch heute noch mit seiner Genauigkeit und seiner Drastik gleichermaßen aufrütteln kann. Wie der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg — das französische Original erschien schon 1947 — gewirkt haben muss, kann man sich kaum mehr vorstellen. Die unbarmherzige Darstellung der physischen und emotionalen Gewalt, die Gemengelage aus Liebe, Begehren, Hass, Verrat und Gewalt “erzählt” Genet mit einer ungeheuren Detailgenauigkeit gerade im psychologischen: Das ist immer wieder faszinierend.
Aber es ist nicht nur thematisch, sondern auch formal durchaus interessant, weil Genet alles andere als traditionell erzählt: mit der Inkorporation des Tagebuchs des Leutenant Selbon schafft Genet zum Beispiel eine Außenperspektive aus unmittelbarer Nähe auf Querelle, die sein eigentlicher Erzähler nicht hergibt. Dazu gehört aber auch die etwas durcheinandergewürftelte Chronologie, die harten Schnitten und Montagen des Textes. Und — auch etwas, was ich gerne lese — ein Erzähler, der sich selbst thematisiert. Mir scheint, die nimmt im Lauf des Textes deutlich zu: Es scheint dem Erzähler zunehmend wichtiger zu werden, sich selbst und sein Tun — also das Erzählen dieses “seltsamen” Stoffes — zu rechtfertigen und zu erklären.
Indem wir die psychologische Bewegung unserer Helden beschreiben, wollen wir unsere Seele zutage fördern. Dieses freimütige Bekenntnis der Haltung, die wir wählen würden — vielleicht angesichts oder vielmehr in Voraussicht eines ersehnten Endes -, führt uns zur Entdeckung jener gegebenen Welt der Psychologie, auf die sich die Freiheit der Wahl stützt, aber wenn es im Interesse der Handlich erforderlich ist, daß einer der Helden eine Entscheidung trifft und überlegt, sind wir plötzlich der Willkür preisgegeben: Das Geschöpf löst sich von seinem Autor. Es sondert sich ab. Wir müßten also zugeben, daß einer der Faktoren, aus denen sich unser Held zusammensetzt, nachträglich vom Autor entdeckt werden wird. (201)
Die Gedanken laufen in merkwürdigen Bahnen. Dadurch ensteht sehr viel Kunst. Ja, auch subversive, natürlich. (403)
Gelesen habe ich das vor allem, weil Indigo als eine Art Exemplum für eine Buchgestaltung gilt, die die inhaltlichen und formalen Aspekte des Textes sehr genau aufnimmt. Oder umgekehrt: Weil der Text gestalterische Elemente — Schriftarten zum Beispiel, auch (Pseudo-)Zitate und handschriftliche Faksimiles — zum Teil seiner selbst macht, also eine solche buchgestalterische Arbeit (die sich bis zum Umschlag erstreckt) geradezu voraussetzt. Judith Schalansky hat das sehr schön umgesetzt. Indigo erzählt von einer Art Krankheit oder Gendefekt, der dazu führt, dass Kinder ihre Umgebung krank machen — so krank, dass Nähe nicht möglich ist. Er tut das eben auf sehr verschiedene Weise: Als Bericht, als Sammlung von Medienberichten, Augenzeugen etc., von historischen Berichten ähnlicher Phänomene in verschiedenen Mappen. Das wird im Buch (das trotz der divergenten Materialien, die es scheinbar (!) inkorporiert, aber doch ein Buch bleibt, das in einem klassischen Buchblock gedruckt und gebunden ist (anders als etwa in Doug Dorsts S.) dann geschickt und vielfältig kombiniert. Handwerklich ist das, auch erzähltechnisch, durchaus interessant. Mir ist nur nicht ganz klar geworden, was Setz hier eigentlich erzählen will …
Wie schön das aussah, wenn Papier verbrannte. Man sollte jeden Tag etwas verbrennen, so wie man sich jeden Tag die Zähne putzt. (473)
Nun ja, das ist doch arg mager: Der letzte Zeitungsleser ist eine Verklärung von Zeitungslesern wie Thomas Bernhard (der taucht immer wieder auf) oder Claus Peymann, die täglich reichhaltiges Zeitungsmenu zu sich nehmen und daraus viel und wesentliches schöpfen. Mit der Realität scheint mir das nur sehr auszugsweise übereinzustimmen: Ja, solche emphatischen Zeitungslektüren gab und gibt es. Aber sie sind Ausnahmen. Die Wirklichkeit der Masse — und die braucht die Zeitung als solche ja gerade! — ist schon immer viel, viel prosaischer und langweiliger, aber auch weniger kultur- und staatstragend (freilich, sowohl Boulevardzeitungsleser als solche als auch Politik kommen bein Angele nicht wirklich vor).
Schön zeigt sich seine Verklärung des “traditionellen” Zeitungslesens bei seiner Gegenüberstellung von Kosmopolitismus und Globalisierung: Ersteres ist Zeitungslesen — weil ein Zeitungsleser (bei Angele geht es eh’ nur um Männer) Zeitungen aus aller Welt, am besten im Café oder Kaffeehaus, liest. Schon das ist meines Erachtens eine maßlose Übertreibung und Überschätzung — weil ja auch so viele Zeitungen aus aller Welt lesen/lasen … Letzteres, also Globalisierung, ist angeblich digitales Informieren. Denn dann wird angeblich noch Spiegel online überall auf der Welt gelesen. Unterschlägt das aber nicht vollkommen die Vielzahl der (genutzten!) Möglichkeiten der Lektüren, die das Internet erst ermöglicht: Gut, oft mögen das (wie bei mir z.B.) nur zwei Sprachen, etwa Deutsch und Englisch, sein. Aber ohne Internet würde ich von englischsprachigen Publikationen aus UK und USA ziemlich sicher genau nichts wahrnehmen. Gut, Angele würde jetzt einwenden: Das ist keine Zeitungslektüre, weil die Bündelung etc. fehlt, die das interesselose Lesen (das er offenbar sehr schätzt), das allerdings eher ein flüchtiges Anschauen und Durchblättern ist, und die damit einhergehenden Entdeckungen von Skurilitäten und Kuriosa ermöglicht. Dafür gibt es im Netz eben andere Zufallsmomente, andere Serendipitäten, um diesen schönen Ausdruck zu verwenden …
Mir stellt sich Angeles Essay deshalb eher als ein Abgesang auf eine gute, alte Zeit dar, die nie so gut war, wie er sie verklärend darstellt. Das hat wahrscheinlich einen genauso großen (kultursoziologischen) Wert wie Adornos Typologie der Musikhörer …
außerdem gelesen:
- Gerty Spies: Des Unschuldigen Schuld. Eine Auswahl aus dem Werk. Mainz: Landeszentrale für politische Bildung 2016. 52 Seiten. ISBN 9783892890379.
- Micha Brumlik: Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums. 2. Auflage. Berlin: Neofelis 2016 (Relationen — Essays zur Gegenwart 3). 130 Seiten. ISBN 978–3‑95808–032‑4.
- Oswald Egger: Was nicht gesagt ist. Göttingen: Wallstein 2016 (Berliner Rede zur Poesie 1). 42 Seiten. ISBN 9783835319820.
- Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp 2016. ebook. ISBN 978–3‑518–74439‑0.
- Jan Volker Röhnert, Romina Nikolić (Hrsg.): Dem Meister des langen Atems. Paulus Böhmer zu Ehren. Frankfurt am Main: Edition Faust 2016. 211 Seiten. ISBN 978–3‑945400–36‑4.
- Klaus Hoffer: Bei den Bieresch. Halbwegs / Der große Potlatsch. 2. Auflage. Wien, Graz: Droschl 2007. 272 Seiten. ISBN 978–3‑85420–718‑4. (dritte Lektüre — immer noch großartig …)
- Edit #69 (wunderbare Ausgabe, mit sehr guten Texten von u. a. Ann Cotten, Gerhard Falkner und Ulrike Almut Sandig
- Poet #21
- Randnummer #6
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