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Kategorie: geschichte Seite 2 von 6

Positive Nachrichten

Posi­ti­ve Nach­rich­ten aus der Geschich­te sind nicht nur bei Min­der­hei­ten die Min­der­heit.

Elke Erb: Wer sie spricht, tut es aus Lie­be

Historiker

Statt aller lebens­träch­ti­gen Erin­ne­rung, die neu­es Leben ent­wi­ckeln könn­te, bleibt nichts zurück als ein dürf­ti­ger Hau­fen Asche, gera­de noch genug, um eine klei­ne Kolo­nie von Bak­te­ri­en zu näh­ren, die sich aus­brei­ten wer­den. Das Men­schen­schick­saml mag für Jahr­mil­lio­nen vor­be­stimmt sein. Es läßt trotz­dem nichts zurück als die­sen Dreck, den dürf­ti­gen Rest, womit er sich selbst ver­daut hat. Es gibt in der einer Beschrei­bung zugäng­li­chen mensch­li­chen Gesell­schaft eine beson­ders nie­de­re Art von Beschäf­tig­ten, die die­sen Dreck sam­meln, kne­ten und zu model­lie­ren vor­ge­ben, die Wis­sen­schaft­ler und in die­sem beson­de­ren Fall die His­to­ri­ker.

—Franz Jung, Der Tor­pe­do­kä­fer, 119f.

Jörn Rüsen: Historik

Für die sieb­te Aus­ga­be der stu­den­ti­schen geschichts­wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrift „Skrip­tum“ habe ich Jörn Rüsens His­to­rik. Theo­rie der Geschichts­wis­sen­schaft mit eini­gen weni­gen Ein­schrän­kun­gen durch­aus posi­tiv bespro­chen:

Trotz der hier dar­ge­leg­ten Ein­schrän­kun­gen legt Rüsen ein durch­aus zeit­ge­mä­ßes sys­te­ma­ti­sches Ver­ständ­nis der Geschichts­wis­sen­schaf­ten mit ihren Mög­lich­kei­ten und Leis­tun­gen vor. Dass vie­les davon in den letz­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten an ande­ren Orten – oft aus­führ­li­cher – schon ein­mal aus­ge­führt wur­de, scha­det kaum und ist wohl bei einem der­ar­ti­gen opus magnum unver­meid­lich. Denn als umfas­sen­de „Theo­rie der Geschichts­wis­sen­schaft“ bie­tet die ‚His­to­rik‘ eben eine über die Ein­zel­stu­die hin­aus­ge­hen­de sys­te­ma­tisch-syn­op­ti­sche Ver­knüp­fung bekann­ter Kon­zep­te und Theo­rie­bau­stei­ne aus Rüsen’scher Feder. Und dazu gehört eben auch, und dies ist einer der unbe­ding­ten gro­ßen Vor­zü­ge von Rüsens ‚His­to­rik‘, dass auch die Geschichts­di­dak­tik und das Pro­blem­feld Geschichts­be­wusst­sein im gesam­ten Raum des kul­tu­rel­len Lebens ele­men­ta­rer Teil sei­ner viel­di­men­sio­na­len His­to­rik sind – wie es sich für die Theo­rie einer Geschichts­wis­sen­schaft, die sich als unmit­tel­bar und unbe­dingt lebens­prak­ti­sche Wis­sen­schaft begreift, ja fast von selbst ver­steht.

Zu der – recht umfang­rei­chen – Rezen­si­on geht es bit­te hier ent­lang: klick.

Gedenken und Helden II

Selbst Absur­di­tä­ten kann man noch ad absur­dum füh­ren – zumin­dest in Hes­sen. Vor eini­gen Tagen habe ich mich hier über den Plan des hr-fern­se­hens, die neue Frank­fur­ter-Tat­ort­kom­mis­sa­rin nach einem jüdi­schen Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus zu benen­nen echauf­fiert. Vor allem die gegen­über der Pres­se geäu­ßer­ten Moti­ve und Begrün­dun­gen für die­se Namens­wahl haben, um es vor­sich­tig zu sagen, mein Miss­fal­len erregt. Aber das war lei­der noch nicht das Ende: Weil die zustän­di­ge „Fern­seh­che­fin“ beim Hes­si­chen Rund­funk bedau­ert, „die Gefüh­le ein­zel­ner ver­letzt zu haben“, neh­men sie in Frank­furt jetzt doch von der Benen­nung Abstand. Allein die­se Begrün­dung ist ja schon wie­der genau­so frech und eigent­lich dumm wie das ursprüng­li­che Vor­ha­ben: Ers­tens wer­den die Geg­ner damit klein gemacht – es sind ja nur „ein­zel­ne“. Zwei­tens wer­den sie noch für nicht voll genom­men, weil es ja nur um ihre „Gefüh­le“ geht. Dass die Idee ein­fach Unsinn und unsen­si­bel war, scheint Lia­ne Jes­sen immer noch nicht zu ver­ste­hen und ein­zu­se­hen.

Aber damit ist lei­der immer noch nicht Schluss. Denn gegen­über der FAZ sag­te Jes­sen außer­dem noch:

Die Rol­le wäre immer mit dem Holo­caust-Opfer Sel­ma Jaco­bi in Ver­bin­dung gebracht wor­den. Eine freie Wei­ter­ent­wick­lung der Figur wäre unter die­sem Aspekt nicht mehr mög­lich.

- und des­halb sei die Umben­nung auch aus „künst­le­ri­schen Grün­den“ (als hät­te der „Tat­ort“ was mit Kunst zu tun, aber das ist eine ande­re Bau­stel­le …) not­wen­dig gewor­den. Wir fas­sen also zusam­men: Die Schau­spie­le­rin woll­te ihre Figur nach einer his­to­ri­schen Per­son benen­nen, um sie als Opfer und Per­son zu erin­nern und ehren und wur­de dabei durch die lei­ten­de Redak­teu­rin unter­stützt und bekräf­tig. Die­se unsen­sei­b­le Hal­tung miss­fällt nicht weni­gen Men­schen, wes­we­gen die Inan­spruch­n­nah­me des his­to­ri­schen Namens nun fal­len gelas­sen wird – mit der Begrün­dung, die Erin­ne­rung an eine his­to­ri­sche Per­son ste­he einer „freie[n] Wei­ter­ent­wick­lung der Figur“ im Wege. Da stellt sich mir dann doch die Fra­ge: Wie wird man eigent­lich „Lei­te­rin Fern­seh­spiel und Spiel­film“ beim hr-fern­se­hen? Wel­che Qua­li­fi­ka­tio­nen sind dafür not­wen­dig? Die Fähig­keit, den­ken zu kön­nen gehört offen­bar nicht zum Anfor­de­rungs­pro­fil. Von his­to­ri­scher Sen­si­bi­li­tät ganz zu schwei­gen.

Gedenken und Helden

Ich konn­te eben mei­nen Augen ja kaum trau­en: Das hr-fern­se­hen hat sei­ne neue „Tatort“-Kommissarin nach einer von den Natio­nal­so­zia­lis­ten depor­tier­ten und ermor­de­ten jüdi­schen Deut­schen benannt. Der ein­zi­ge Grund dafür: Die Schau­spie­le­rin Mar­ga­ri­ta Broich – in Ber­lin lebend – hat den Namen auf einem „Stol­per­stein“ vor ihrer Haus­tür gele­sen und fin­det, die Benen­nung einer fik­ti­ven (und wie ich den „Tat­ort“ ken­ne, regel­mä­ßig deut­sche Geset­ze bre­chen­den) Figur sei eine tol­le Erin­ne­rung und Ehrung für die­se Frau.

Selt­sam dar­an ist: Was hat die Frank­fur­ter Kom­mis­sa­rin mit einer Ber­li­ne­rin zu tun? Wie­so soll das eine ange­mes­se­ne Form der Erin­ne­rung sein? Ganz schlimm wird es, wenn die Redak­teu­rin des Hes­si­schen Rund­funks, Lia­ne Jes­sen, die Idee ver­tei­di­gen will. Gegen­über dem „Tages­spie­gel“ – dem ich die­sen Vor­gang ent­nahm – argu­men­tiert sie:

Ich wäre glück­lich in mei­nem Grab, wenn auf die­se Art und Wei­se an mich erin­nert wer­den wür­de

Selbst wenn dem so wäre – übli­cher­wei­se ist man in einem Grab ja nicht mehr unbe­dingt sol­cher Gefüh­le fähig -: Wie­so geht sie ein­fach davon aus, dass das auch für ande­re Per­so­nen und gar noch Per­so­nen der Ver­gan­gen­heit gel­ten soll?
Aber sie kann die Absur­di­tät noch stei­gern. Sie sag­te näm­lich außer­dem noch:

‚Tatort‘-Kommissare sind schließ­lich die moder­nen Hel­den unse­rer Zeit, und wir las­sen Sel­ma Jaco­bi als Hel­din wie­der­auf­er­ste­hen.

Jetzt wird es voll­kom­men ver­quer: Seit wann sind „Tatort“-Kommissare (hier han­delt es sich übri­gens um eine Kom­mis­sa­rin, aber das macht ja nichts …) „moder­ne Hel­den“? Und wie­so las­sen sie beim Hes­si­schen Rund­funk eine Ver­folg­te als Hel­din wie­der­auf­er­ste­hen? Wie darf man sich das vor­stel­len – hat die Kom­mis­sa­rin dann Erin­ne­run­gen an ihr frü­he­res Leben, in dem sie depor­tiert und ermor­det wur­de?

Auch die Behaup­tung Jes­sens

Das kann doch nur im Sin­ne des Opfers sein, das sicher nicht ver­ges­sen wer­den will.

wür­de ich so nicht ste­hen las­sen: Viel­leicht will sie das ja gera­de? Wer weiß das denn? Und ist es nicht eine unge­heu­re Anma­ßung, für eine ver­stor­be­ne Per­son so zu spre­chen? Sie hat sich ihr Schick­sal, des­sen­we­gen sie hier erin­nert wer­den soll, ja nicht aus­ge­sucht.

In der Sum­me also: Zwei Men­schen maßen sich an, wie sich eine Per­son der Geschich­te zu füh­len hat und was sie freu­en soll. Ganz zu schwei­gen von der Ober­fläch­lich­keit und Pie­tät­lo­sig­keit, die hin­ter die­sem „Geden­ken“ und der Ver­knüp­fung von Opfer und angeb­li­chen Hel­den steht.

Subventionen

Schon im 19. Jahr­hun­derts war das Pro­blem der sinn­lo­sen Wirt­schafts­po­li­tik und fehl­ge­lei­te­ter Sub­ven­tio­nen zur öko­no­mi­schen För­de­rung einer Regi­on und Hebung ihres all­ge­mei­nen Wohl­stands offen­bar nicht unbe­kannt. Wolf­ram Sie­mann schreibt in sei­nem klei­nen Met­ter­nich-Büch­lein:

Mit dem für ihn nicht sel­te­nen iro­ni­schen Sar­kas­mus gei­ßel­te er die bis­he­ri­ge irre­ge­lei­te­te Wirt­schafts­po­li­tik. Deren Resul­tat sei­en «Pfer­de­ren­nen, Casi­nos, unga­ri­sches Thea­ter und eine Mil­lio­nen kos­ten­de Brü­cke, zu der kei­ne fahr­ba­ren Stra­ßen füh­ren». (104)

– und zitiert dabei Met­ter­nichs Denk­schrift „Über die Unga­ri­schen Zustän­de“ aus dem Jah­re 1844. So viel also zum dem „aus der Geschich­te ler­nen“ – Brü­cken, die ohne Stra­ßen­an­schluss im Nir­gend­wo der (Provinz-)Landschaft her­um­ste­hen, das habe ich auch am Ende des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts mit­ten in der Bun­des­re­pu­blik noch ken­nen gelernt. Ob man frei­lisch (unga­ri­sches) Thea­ter unbe­dingt als nutz­lo­se Inves­ti­ti­on anse­hen will, das kommt wohl doch sehr auf den per­sön­li­chen Stand­punkt an. Heu­te ist das ja wie­der Mode – ich bin aber doch der Mei­nung, dass öffent­lich finan­zier­te Thea­ter in einem der reichs­ten Län­der der Erde eine Selbst­ver­ständ­lich­keit sein soll­ten.

Geschichte für Programmierer

(oder viel­leicht auch umge­kehrt …) – jeden­falls mal wie­der eine schö­ne Idee von „Geek & Poke“, die­ser „Famous Fork“:

Famous Forks (1521)

Famous Forks (1521)

Wiener Kongress

… als ver­früh­ter Auf­takt zum 200-jäh­ri­gen Jubi­lä­um des Wie­ner Kon­gress schon mal eine Ein­schät­zung von Arno Schmidt:

Damals in Wien wur­de sei­tens der Mon­ar­chen und ihrer Kanz­ler orga­ni­siert: die Restau­ra­ti­on, die Gro­ße Läh­mung, die »Hei­li­ge Alli­anz« – das Wind­ei, an dem wir auch heu­te wie­der sau­gen. Unser dum­mes Volk frei­lich – zu des­sen Merk­ma­len es gehört, daß es kit­schi­gen For­mu­lie­run­gen gegen­über beson­ders wider­stands­los ist – hat sich die sinis­tren Fak­ten des­sen, was damals mit ihm gemacht wur­de, durch fol­gen­de Über­schrift aus dem Gedächt­nis weg=eskamotieren las­sen: »Der Kon­greß tanzt«: so bringt man dem »Unter­tan« Geschich­te bei: es lebe die Mne­mo­tech­nik!Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns

Der „echte“ Rand

In Edgar Wolf­rums Die geglück­te Demo­kra­tie. Geschich­te der Bun­des­re­bu­blik Deutsch­land von ihren Anfän­gen bis zur Gegen­wart heißt es auf Sei­te 641:

Hin­sicht­lich der Anti-Sys­tem­par­tein am ech­ten und lin­ken Rand des poli­ti­schen Spek­trums erwie­sen sich Par­tei­en­ver­bo­te der wehr­haf­ten Demo­kra­tie als ein pro­ba­tes Mit­tel, die Repu­blik zu kon­so­li­die­ren.

Ich glau­be, einen schö­ne­ren Flüch­tig­keits­feh­ler habe ich bis­her noch nicht wahr­ge­nom­men: Der „ech­te Rand“ hat schon sei­ne ganz eige­nen Qua­li­tät (ich möch­te jetzt nicht dar­über spe­ku­lie­ren, ob – und was – uns die­ser Feh­ler über die Ein­stel­lung oder den Stand­ort des Ver­fas­sers ver­rät …).

Show 1 foot­no­te

  1. Ich benut­ze die Aus­ga­be der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung, Bonn 2007, die aber wohl sei­ten­iden­tisch ist mit der Erst­auf­la­ge bei Klett-Cot­ta, Stutt­gart 2006.

Revolutionär? Die Darmstädter Büchnerausstellung

„Revo­lu­ti­on mit Feder und Skal­pell“ ist die gro­ße Aus­stel­lung zum 200. Geburts­tag von Georg Büch­ner unter­ti­telt. Das ist bemer­kens­wert (weil momen­tan das Revo­lu­tio­nä­re in Leben und Werk Büch­ners kei­ne beson­de­re Kon­junk­tur hat …) und son­der­bar, weil es die Aus­stel­lung nicht wider­spie­gelt. Offen­bar war die Lust nach einem grif­fi­gen Slo­gan aber grö­ßer als der Wunsch, dem Besu­cher zu signa­li­sie­ren, was ihn erwar­tet …

Ganz Darm­stadt büch­nert dafür, für die Gele­gen­heit „sei­nen“ Dich­ter zu ehren. Über­all wird für ihn und vor allem die Aus­stel­lung gewor­ben. Auch das übri­gens viel bun­ter, pep­pi­ger und pop­pi­ger als in den Hal­len selbst – da herrscht klas­si­sche Typo­gra­phie in Schwarz auf Weiß bzw. Weiß auf Schwarz vor. Sonst tun sie das ja eher nicht oder doch zumin­dest deut­lich zurück­hal­ten­der. Sei’s drum …

"wir alle haben etwas mut und etwas seelengröße notwendig" - Büchner-Zitat-Installation am Darmstädter Hauptbahnhof

„wir alle haben etwas mut und etwas see­len­grö­ße not­wen­dig“ – Büch­ner-Zitat-Instal­la­ti­on am Darm­städ­ter Haupt­bahn­hof

Im Darm­stad­ti­um hat die ver­an­stal­ten­de Mat­hil­den­hö­he mit der Aus­stel­lung Raum gefun­den, Georg Büch­ner zu erin­nern und zu ver­ge­gen­wär­ti­gen. Wobei Raum schon schwie­rig ist – das sind offen­bar ein paar Ecken, die bis­her unge­nutzt waren, ver­win­kelt und ver­schach­telt – was der Aus­stel­lung nur mäßig gut­tut, Über­sicht oder logi­sche Abläu­fe oder auch blo­ße Ent­wick­lun­gen gibt es hier wenig.

Was gibt es aber in der Aus­stel­lung zu erfah­ren und zu sehen? Zuerst mal gibt es unheim­lich viel zu sehen – und vie­le schö­ne, span­nen­de Sachen. Zum Bei­spiel das nach­ge­bau­te Wohn­zim­mer der Büch­ners – nicht rekon­stru­iert, aber schön gemacht (schon die Wän­de haben mir gefal­len). Sehr schön auch die Rekon­struk­ti­on sei­ner letz­ten Woh­nung in Zürich (Spie­gel­gas­se 12 – ganz in der Nähe wird spä­ter auch Lenin resi­die­ren), sei­nes Ster­be­zim­mers (zwar hin­ter Glas, aber den­noch sehr schön). Auch die Büchner’sche Haar­lo­cke darf natür­lich nicht feh­len.

Büchner auf der Treppe zur Ausstellung (keine Angst, der Rest der Ausstellung ist nicht so wild ...)

Büch­ner auf der Trep­pe zur Aus­stel­lung (kei­ne Angst, der Rest der Aus­stel­lung ist nicht so wild …)

Über­haupt, das kann man nicht oft genug beto­nen: Zu sehen gibt es unend­lich viel: Unzäh­li­ge Sti­che, Radie­run­gen, Bil­der – von Darm­stadt und Straß­burg vor allem. Gie­ßen zum Bei­spiel ist extrem unter­re­prä­sen­tiert. Und natür­lich gibt es Tex­te über Tex­te: Schrif­ten, die Büch­ner gele­sen hat, die er benutzt hat, die er ver­ar­bei­tet hat – sie tau­chen (fast) alle in den enst­pre­chen­den Dru­cken der Büch­ner­zeit hier auf, von Shake­speare bis zu den medi­zi­ni­schen Trak­ta­ten, von Des­car­tes bis Goe­the und Tieck.
Auch Büch­ner selbst ist mit sei­nen Schrif­ten ver­tre­ten – natur­ge­mäß weni­ger mit Dru­cken – da ist außer „Danton’s Tod“ ja wenig zu machen -, son­dern mit Hand­schrif­ten. Die sind in der Aus­stel­lung zwar reich­lich in Ori­gi­na­len zu bewun­dern, aber Tran­skrip­tio­nen darf man nicht erwar­ten. Und lesen, das ist bei Büch­ners Sau­klaue oft nicht gera­de ein­fach. Zumal mir da noch ein ande­rer Umstand arg auf­ge­sto­ßen ist: Die Expo­na­te in der (aus kon­ser­va­to­ri­schen Grün­den) sehr dämm­ri­gen Aus­stel­lung sind in der Regel von schräg oben beleuch­tet – und zwar in einem sehr ungüns­ti­gen Win­kel: Immer wenn ich mir einen Brief an oder von Büch­ner genau­er betrach­ten woll­te, um ihn zu ent­zif­fern, stand ich mir mit mei­ner Rübe selbst im Licht.

Sonst bie­tet die Aus­stel­lung so ziem­lich alles, was moder­ne Aus­stel­lungs­pla­ner und ‑bau­er so in ihrem Reper­toire haben: Pro­jek­tio­nen, Mul­ti­me­dia­in­stal­la­tio­nen, Ani­ma­tio­nen, über­blen­de­te Bil­der, eine Art Nach­rich­ten­ti­cker (der schwer zu bedie­nen ist, weil er dazu ten­diert, in irrem Tem­po durch­zu­ra­sen), mit Vor­hän­gen abge­trenn­te Sepa­rées (wäh­rend das beim Sezieren/​der Ana­to­mie unmit­tel­bar Sinn macht, hat mir das ero­ti­sche Kabi­nett ins­ge­samt nicht so recht ein­ge­leuch­tet …) und sogar einen „Lenz-Tun­nel“ (von dem man sich nicht zu viel erwar­ten darf und soll­te). Der letz­te Raum, der sich der Rezep­ti­on der letz­ten Jahr­zehn­te wid­met, hat das übli­che Pro­blem: So ganz mag man die Rezep­ti­on nicht weg­las­sen, eine verün­f­ti­ge Idee dafür hat­te man aber auch nicht. Da er auch deut­lich vom Rest der Aus­stel­lung getrennt ist und qua­si schon im Foy­er liegt, ver­liert er zusätz­lich. Viel span­nen­des gibt es da aber eh‘ nicht zu sehen, so dass man durch­aus mit Recht hin­durch­ei­len darf (wie ich es getan hab – Wer­ner Her­zog ken­ne ich, Alban Berg ken­ne ich, Tom Waits auch, die Her­bert-Grö­ne­mey­er-Bear­bei­tung von „Leon­ce und Lena“ soll­te man sowie­so mei­den …).

Bei man­chen Wer­tun­gen bin ich natur­ge­mäß zumin­dest unsi­cher, ob das der Wahr­heit letz­ter Schluss ist – etwa bei der Beto­nung der Freu­de und des Enga­ge­ments, das Büch­ner für die ver­glei­chen­de Ana­to­mie ent­wi­ckelt haben soll – was übri­gens in der Aus­stel­lung selbst schon durch ent­spre­chen­de Zita­te kon­ter­ka­riert wird und in mei­ner Erin­ne­rung in Hau­schilds gro­ßer Büch­ner-Bio­gra­fie nicht von unge­fähr deut­lich anders dar­ge­stellt wird. Unter den Exper­ten und Büch­ner-Bio­gra­fen schon immer umstrit­ten war die Rol­le des Vaters – hier taucht er über­ra­schend wenig auf. Über­haupt bleibt die Fami­lie sehr im Hin­ter­grund: Sie bie­tet nur am Anfang ein wenig den Rah­men, in dem Georg auf­wächst – mehr Wert als auf die Fami­lie und per­sön­li­che Bezie­hun­gen über­haupt legt die Aus­stel­lung aber auf Erfah­run­gen und Rezep­tio­nen von Kunst (Lite­ra­tur, Thea­ter, Gemäl­de und ande­re mehr oder weni­ger musea­le Gegen­ständ­lich­kei­ten) und geo-/to­po­gra­phi­schem Umfeld.

Nicht zu ver­ges­sen sind bei den Expo­na­ten aber die kürz­lich ent­deck­te Zeich­nung August Hoff­mann, die wahr­schein­lich Büch­ner zeigt. Auch wenn ich mir dabei wie­der­um nicht so sicher bin, dass sie das Büch­ner-Bild wirk­lich so radi­kal ver­än­dert, wie etwa Ded­ner meint (in der Aus­stel­lung wird sie nicht wei­ter kom­men­tiert). Und die ers­te „ech­te“ Guil­lo­ti­ne, die ich gese­hen habe, auch wenn es „nur“ eine deut­sche ist.

Gestört hat mich ins­ge­samt vor allem die Fixie­rung auf den Audio­gui­de – ich hät­te ger­ne mehr Text an der Wand gehabt (zum Bei­spiel, wie erwähnt, die Tran­skrip­tio­nen der Hand­schrif­ten – die muss man mir nicht vor­le­sen, da gibt es wesent­lich ele­gan­te­re Lösun­gen, die einer Aus­stel­lung über einen Schrift­stel­ler auch ange­mes­se­ner sind). Zumal die Spre­cher manch­mal arg geküns­telt wir­ken.

Und wie­der ist mir auf­ge­fal­len: Büch­ner selbst ist fast so etwas wie das lee­re Zen­trum der Aus­stel­lung (auch wenn das jetzt etwas über­spitzt ist). Es gibt hier unheim­lich viel Mate­ri­al aus sei­nem nähe­ren und wei­te­ren Umkreis, zu sei­ner Zeit­ge­schich­te und sei­ner Geo­gra­phie – aber zu ihm selbst gar nicht so viel. Das ist natür­lich kein Zufall, son­dern hängt eben mit der Über­lie­fe­rungs- und Rezep­ti­ons­ge­schich­te zusam­men. Aber als Pan­ora­ma des Vor­märz im Groß­her­zog­tum Hes­sen (und Straß­burg) ist die Aus­stel­lung durch­aus taug­lich. Jetzt, wo ich dar­über nach­den­ke, fällt mir aller­dings auf: Weder „Vor­märz“ noch „Jun­ges Deutsch­land“ sind mir in der Aus­stel­lung begeg­net. Von der Ein­bet­tung soll­te man sich auch über­haupt weder in lite­ra­tur­ge­schicht­li­cher noch in all­ge­mein­his­to­ri­scher Hin­sicht zu viel erwar­ten: Das ist nur auf Büch­ner selbst bezo­gen, nach­träg­li­che Erkennt­nis­se der For­schung oder nicht von Büch­ner selbst expli­zier­te Zusam­men­hän­ge ver­schwin­den da etwas.

Und noch etwas: eines der über­ra­schends­ten Aus­stel­lungs­stü­cke ist übri­gens Rudi Dutsch­kes Hand­ex­em­plar der Enzens­ber­ger-Aus­ga­be des „Hes­si­schen Land­bo­ten“, mit sehr inten­si­ven Lek­tü­re­spu­ren und Anmer­kun­gen …

Hoch geht's zu Büchner

Hoch geht’s zu Büch­ner

Aber dass der Kata­log – ein gewal­ti­ger Schin­ken – die Abbil­dun­gen aus irgend einer ver­spon­ne­nen Design-Idee alle auf den Kopf gestellt hat, hal­te ich gelin­de gesagt für eine Frech­heit. Ein Kata­log ist mei­nes Erach­tens nicht der Platz für sol­che Spie­le­rei­en (denen ich sonst ja über­haupt nicht abge­neigt bein), weil er dadurch fast unbe­nutz­bar wird – so einen Bro­cken mag ich eigent­lich nicht stän­dig hin und her dre­hen, so kann man ihn nicht ver­nünf­tig lesen.

Aber trotz­dem bie­tet die Aus­stel­lung eine schö­ne Mög­lich­keit, in das frü­he 19. Jahr­hun­dert ein­zu­tau­chen: Sel­ten gibt es so viel Aura auf ein­mal. Die Aus­strah­lung der Ori­gi­na­le aus Büch­ners Hand und der (Druck-)Erzeugnisse sei­ner Gegen­wart, von denen es hier ja eine fast über­mä­ßi­ge Zahl gibt, ist immer wie­der beein­dru­ckend – und irgend­wie auch erhe­bend. Fast so ein­drück­lich übri­gens wie die Lek­tü­re der Tex­te Büch­ners selbst – dad­rü­ber kommt die Aus­stel­lung auch mit ihrer Mas­se an Expo­na­ten nicht.

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