Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Jahr: 2014 Seite 4 von 18

Mit den Wise Guys auf der Achterbahn

wise guys, achterbahnKeine Angst, auf dieser Achter­bahn wird nie­man­den übel. Denn die 14. CD der Wise Guys ist über­wiegend harm­los. Mit ihren bewährten Konzepten machen sie auch in neuer Beset­zung weit­er­hin ihren bekan­nten char­to­ri­en­tierten Vokal-Pop. Aus­gerech­net der Titel­song ist aber eher lang­weilig: kein zün­den­der Text, keine beson­ders eingängige Melodie, kein bemerkenswertes Arrange­ment. Das kon­nten die Wise Guys schon bess­er.

Ein paar eingängige Songs sind aber auch auf “Achter­bahn” zu hören: “Das Sägew­erk Bad Sege­berg” hat etwa nette Momente, die vor allem auf dem her­rlich blödel­nden Text beruhen. Der ist der­maßen blödsin­nig, dass es wirk­lich lustig wird, sich über Holz­sorten und fehlende Kör­perteile zu amüsieren — auch wenn die kon­se­quente Quoten­ra­dio-Ori­en­tierung selb­st bei eigentlich guten Songs ganz schön ner­ven kann: Das fängt mit dem qui­etschen­den Beat an, geht über die garantiert mit­gröl­taugliche Melodie bis zum vol­lkom­men erwart­baren Arrange­ment.

Zu den pos­i­tiv­en Ein­drück­en gehört auch “Keine gute Idee”, das aber ander­er­seits auch recht naht­los an die “älteren” Wise Guys anschließt. Allerd­ings haben die Wise Guys noch nie die Begleit­stim­men von den jew­eili­gen Lead­vo­cals so sehr in den Hin­ter­grund drän­gen lassen — gut, die Wise Guys sind sich­er nicht die allerbesten Sänger Deutsch­lands, aber ver­steck­en muss man sie auch nicht. Ein Kun­st­stück beherrschen die Wise Guys allerd­ings aus­ge­sprochen gut: Aus mäßigem Mate­r­i­al guten Pop zu machen. Aus schwachen Tex­ten und ein­er weit­ge­hend banalen Musik zaubern sie immer wieder Eingängigkeit und eine Menge guter Laune her­vor. Die elek­tro­n­isch ange­hauchte eskapis­tis­che Glücks­fan­tasie “Ans Ende der Welt” macht das fast per­fekt vor.
“Alles so schön bunt hier” bringt dann tat­säch­lich etwas (Klang)Farbe mit in den Mix, bei “Küss mich” geschieht das — welch Sakri­leg — durch eine weib­liche Stimme: Jas­min Wag­n­er, vor Jahren auch mal “Blüm­chen” bekan­nt, unter­stützt das Quin­tett. Am besten sind die Wise Guys dann, wenn sie sich wie bei “Gen­er­a­tion Hörg­erät” auf ihre Stärken besin­nen: Treibende Dis­cobeats, fre­undliche Melo­di­en und ein humor­voller Text, bei dem die fünf Köl­ner zeigen, dass sie sich selb­st nicht so ganz ernst nehmen. Dass muss man auch “Ich kann nur den Refrain” zugute­hal­ten. Denn das passt zum Glück nicht auf die Wise Guys selb­st: “Ich kann nur den Refrain, die Stro­phen sind zu schw­er” heißt es da, “den Rest krieg ich nicht hin, weil ich mit den Stro­phen ein­fach über­fordert bin” — davon ist das Quin­tett wahrlich weit ent­fer­nt. Aber das ist noch kein Grund zum Jubeln: Nuan­cen fehlen auch hier, und nicht nur in der Stro­phe. Inhaltlich, kom­pos­i­torisch und lei­der auch stimm­lich bleiben die 16 Songs der “Achter­bahn” schließlich doch reich­lich eindi­men­sion­al. Die Wise Guys sind stolz darauf, das erste Mal ein Album kom­plett in Eigen­regie pro­duziert zu haben — aber ob das so eine gute Idee war? Etwas Input von außen hätte vielle­icht nicht geschadet, etwas mehr Adren­a­lin wäre sich­er kein Fehler gewe­sen. So ist das näm­lich eher ein Kinderkarus­sell als eine Achter­bahn.

Wise Guys: Achter­bahn. Poly­dor. CD 2014.

— Zuerst erschienen in Chorzeit — Das Vokalmagazin, Aus­gabe Okto­ber 2014.

Digitalisierung?

Natür­lich kön­nte man sie [Urkun­den zur Mainz­er Stadt­geschichte von 1251 bis 1260] auch dig­i­tal­isieren – Vasil Bivolarov, Mither­aus­ge­ber von der His­torischen Kom­mis­sion Darm­stadt, hielt diese Meth­ode im Umgang mit den Jahrhun­derte alten Schriften und Tex­ten allerd­ings für ungeeignet und war sich darin mit den anderen His­torik­ern einig.

Wenn er das wirk­lich so gesagt hat, wie ihn die All­ge­meine Zeitung Mainz anlässlich der Vorstel­lung eines Regesten-Ban­des (! — also nicht mal ein­er voll­ständi­gen Edi­tion!) zitiert, dann beantrage ich, der Hes­sis­chen His­torischen Kom­mis­sion Darm­stadt sämtliche För­der­mit­tel zu entziehen. Denn offen­sichtlich hat sie ja kein Inter­esse daran, dass ihre Ergeb­nisse auch gele­sen, genutzt, gekan­nt wer­den von denen, die dafür bezahlen. Denn diese reflex­hafte, unre­flek­tierte Ablehnung der Dig­i­tal­isierung wird ja langsam lächer­lich.

Twitterlieblinge September 2014


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Sicherheit

Mit ein­er hes­sis­chen Polizeis­ta­tion auf dig­i­talem Weg Kon­takt aufzunehmen, das ist gar nicht so ein­fach. Es geht schon damit los, über­haupt eine E‑Mail-Adresse zu find­en — die sind gut ver­steckt. Offen­bar will man nicht zu viel Arbeit haben ;-). Auf das Kon­tak­t­for­mu­lar darf man auch nicht hof­fen, nach ein­er Woche habe ich da noch keine Reak­tion erhal­ten. Hat man aber eine E‑Mail-Adresse gefun­den (es gibt sie tat­säch­lich!) — übri­gens auf ein­er Seite, die den schö­nen Titel “Willkom­men im Inter­net der hes­sis­chen Polizei” trägt (ich wusste gar nicht, dass die ein eigenes Inter­net haben …) — begin­nt der Spaß erst richtig. Dass es nir­gend­wo eine Möglichkeit gibt, ver­schlüs­selte Mails zu schick­en — das habe ich ja schon fast erwartet, auf einen irgend­wo aus­gewiese­nen Schlüs­sel gar nicht erst gehofft. Natür­lich wird auch die Möglichkeit der Ver­schlüs­selung von E‑Mails über­haupt nicht erwäh­nt. Das ist ja immer­hin so, als würde die Post Anzeigen etc. nur per Postkarte annehmen und Briefe ver­weigern. Also schrieb ich eben unver­schlüs­selt meine Frage nach ver­schlüs­sel­ter Kom­mu­nika­tion. Und ich hat­te die Dreistigkeit, diese Mail mit meinem Schlüs­sel zu sig­nieren. Was passiert dann? Ganz großes The­ater:

Ihre Mail an PST.ERBACH.ppsh@polizei.hessen.de mit dem Betr­e­ff […] wurde auf einem der E‑Mailserverinfrastruktur der hes­sis­chen Polizei vorge­lagertem Sys­tem geprüft.

Die Prü­fung ergab, dass Ihre E‑Mail nicht den derzeit definierten Schutzkri­te­rien der hes­sis­chen Polizei entspricht, somit geblockt wurde und nicht an das von Ihnen adressierte Post­fach zugestellt wird. Die E‑Mail enthielt möglicher­weise aktive Inhalte (z.B. Makros), einen oder mehrere uner­laubte Dateian­hänge, eine zu große Anzahl an Empfängern oder mehr als 50 Anhänge bzw. der Mailan­hang ist über 3 MB groß oder ver­schlüs­selt. Die Mail wurde daher gelöscht, das von Ihnen adressierte Post­fach wird die E‑Mail nicht erhal­ten.

Da füh­le ich mich doch gle­ich run­dum sich­er, wenn solche Spezial­is­ten am Werk sind. Das ist wohl noch ein ziem­lich weit­er Weg, bis Deutsch­land “Ver­schlüs­selungs­stan­dort Nr. 1 auf der Welt” wird, wie es die Bun­desregierung mit ihrer “Dig­i­tal­en Agen­da” anstrebt. Wäre ich zynisch, würde ich sagen: Natür­lich haben die kein Inter­esse daran, dass möglichst viele Bürg­er Mail-Ver­schlüs­selung benutzen — dann kön­nen sie und ihre Kol­le­gen von den Geheim­di­en­sten dieser Welt das ja auch nicht mehr so ein­fach mitle­sen ;-).

Ins Netz gegangen (21.9.)

Ins Netz gegan­gen am 21.9.:

Organist

Der Organ­ist:

organist (aus dem "ständebuch")

Das Posi­tiff mit süssem hal /
Schlag ich auff Bürg­er­lichem Sal /
Da die ehrbarn der Gschlecht sind gsessn /
Ein köstlich Hochtzeit­mal zu essen /
Daß jn die weil nicht werd zu lang
Brauchn wir die Ley­ern mit gesang /
Daß sich dar­von jr Hertz eben /
In freud vnd wunne thu erhebn.

—aus: Jost Amman, Eygentliche Beschrei­bung aller Stände auff Erden, hoher und nidriger, geistlich­er und weltlich­er, aller Kün­sten, Handw­er­ck­en und Hän­deln. Durch d. weit­berümpten Hans Sach­sen gantz fleis­sig beschrieben u. in teutsche Reimen gefas­set. 1568

Mahnmale

Je mehr Mah­n­male, desto weniger fühlen sich die Men­schen betrof­fen.
Jedes Denkmal legt Erin­nerun­gen für immer ad acta.

—Wal­ter Kem­pows­ki: Hamit. Tage­buch 1990 (10)

Ins Netz gegangen (17.9.)

Ins Netz gegan­gen am 17.9.:

  • Im Gespräch ǀ „Der Frust begin­nt beim Job“ — der Fre­itag — kurzes inter­view mit ange­li­ka hager über rol­len­bilder, gle­ich­stel­lung etc

    Da entwick­eln junge Frauen, schon ermüdet, jene Krankheit, die ich Schnee­wittchen­fieber nenne: Sie verkriechen sich in Idyllen und kochen Obst ein.

  • Vom Suchen und Find­en vergessen­er Autoren | intel­lec­tures — sebas­t­ian gug­golz, ehe­ma­liger lek­tor bei matthes & seitz, der jetz ger­ade seinen eige­nen ver­lag gegrün­det hat:

    Ich bin mir sich­er, dass die laufende Diskus­sion von wirtschaftlichen Inter­essen geleit­et ist, von bei­den Seit­en, also auch von den Ver­la­gen um Bon­nier. Der Stre­it­punkt sind ja die Rabat­te, die Ama­zon fordert. Wenn Ama­zon meine Büch­er über die Bar­sor­ti­mente kaufen, dann bekom­men die die Büch­er zum gle­ichen Preis, wie jede andere Buch­hand­lung auch. Ich weiß nicht, ob die noch einen Son­derver­trag mit den Bar­sor­ti­menten haben, aber das kann mir auch egal sein. Das heißt, jedes Buch, das ich bei Ama­zon verkaufe, ist ein verkauftes Buch und damit gut für mich. Die Diskus­sion um die eBook-Rabat­te bet­rifft mich gle­ich gar nicht, da ich derzeit ja keine eBooks verkaufe. Und wenn man als Ver­lagskunde mit Ama­zon ein Part­ner­pro­gramm einge­ht, und damit erre­icht, dass alle Büch­er des jew­eili­gen Ver­lags auf Lager und umge­hend liefer­bar sind, dann muss man ohne­hin mit Ama­zon direkt die Rabat­te aushan­deln. Man bekommt dann bes­timmte Vorteile, muss aber höhere Rabat­te ein­räu­men. Das ist dann ein­fach Ver­hand­lungssache. Ama­zon ist dann aber ein zuver­läs­siger Geschäftspart­ner. Mein Prob­lem auf dem Buch­markt ist nicht Ama­zon. Da bin ich auffind­bar und meine Büch­er sind rel­a­tiv schnell liefer­bar. Mein Prob­lem sind nach wie vor die Großbuch­hand­lun­gen, also Thalia und Hugen­dubel, und noch schlim­mer die ganzen Bahn­hofs­buch­hand­lun­gen. Die wer­den in der Ama­zon-Debat­te plöt­zlich von den Ver­la­gen mit ins Boot geholt, weil dort die großen Ver­lage vertreten sind, aber für mich als Klein­ver­lag sind die wie gesagt das eigentliche Prob­lem. Die nehmen mich nicht wahr und bestellen mich nicht, weil ich immer unter ein­er gewis­sen Min­dest­stück­zahl bleibe. Bei denen tauche ich nicht auf, bei Ama­zon schon. Deshalb ist es aus geschäftlich­er Per­spek­tive auch schwierig, ein­fach nur zu sagen, Ama­zon ist der Böse und wir Ver­lage und der Buch­han­del die Guten. Das Beden­kliche an der aktuellen Debat­te ist die Tat­sache, dass dahin­ter wirtschaftliche Inter­essen steck­en und nicht, wie man meinen kön­nte und wie sug­geriert wird, kul­turelle.

  • xkcd: Watch­es — (sehr wahr …)
  • Arthur Schnit­zler Por­tal :: Start­seite — die dig­i­tale aus­gabe der his­torisch-kri­tis­chen edi­tion der werke arthur schnit­zlers

    Ziel des Pro­jek­ts ist die Erar­beitung ein­er dig­i­tal­en his­torisch-kri­tis­chen Edi­tion der lit­er­arischen Werke Arthur Schnit­zlers aus dem Zeitraum von 1905 bis 1931. Die Edi­tion wird im Rah­men ein­er bina­tionalen deutsch-britis­chen Koop­er­a­tion erar­beit­et und von der Uni­ver­sitäts­bib­lio­thek Cam­bridge beherbergt wer­den

  • Ras­sis­mus-Skan­dal in Polizeik­lasse: „Aus­län­der­schlampe“ und schlim­mer -
    taz.de
    — Die besten der besten (oder: früh übt sich): Ras­sis­mus-Skan­dal in Polizeik­lasse: „Aus­län­der­schlampe“ und schlim­mer
  • Inter­netkul­tur: Der Auf­stieg des Daten­pro­le­tari­ats | ZEIT ONLINE — gün­ter hack:

    Sie sind Lizenzbürg­er auf Zeit, das mul­mige Gefühl beim Bestä­ti­gungsklick auf die unge­le­se­nen juris­tis­chen Bindungs­floskeln vor der Soft­ware­in­stal­la­tion ist das des Aus­geliefert­seins. Der Pro­duk­tiv­itätss­chub durch Mobil­geräte wiederum lässt sich nur dann wirk­lich nutzen, wenn die wichtig­sten Prozesse verteilt in der “Cloud” laufen, bevorzugt auf den Plat­tfor­men der weni­gen Mark­t­führer.

    Wie etwa Jere­my Rifkin in seinem Buch Access gezeigt hat, birgt die Miet­men­tal­ität auch Chan­cen für die Flex­i­bil­ität und eine effizien­tere Ressourcennutzung. Aber im dom­i­nan­ten Konkur­ren­zszenario gilt: Wer mithal­ten will, ver­liert mehr an Frei­heit als er gewin­nt. Und es gibt Unter­schiede, je nach Branche und Sit­u­a­tion: Für einen Land­wirt ist es sin­nvoll, Mit­glied im Maschi­nen­ring zu sein, bes­timmte Geräte nur dann zu mieten, wenn er sie braucht. Aber wenn das Saatgut paten­tiert und an die Ver­wen­dung eines bes­timmten Insek­tizids geknüpft ist, dann ist die Repro­duk­tion sein­er Lebens­grund­lage betrof­fen. Die Bal­ance von Geben und Nehmen zwis­chen Kunde und Dien­stleis­ter stimmt nicht mehr, allein schon wegen der Konzen­tra­tion der Macht in den Hän­den weniger stark­er Plat­tfor­man­bi­eter. Und diese nehmen immer noch mehr mit, als ihnen bezahlt wurde, sei es an Geld oder an Aufmerk­samkeit, näm­lich die Nutzungs­dat­en.

    Egal, welchen gesellschaftlichen Sta­tus sie nach außen hin bek­lei­den mögen, sie sind in diesen Momenten nicht ein­mal mehr Lizenzbürg­er, son­dern sie sind ins Daten­pro­le­tari­at abgeglit­ten. Wie viel Geld sie auch immer mit ihrer Arbeit ver­di­enen mögen, egal wie stark sich ihre indi­vidu­elle Pro­duk­tiv­ität erhöhen mag: Jede ihrer Aktio­nen mehrt Reich­tum und Wis­sen der Plat­tfor­man­bi­eter, den eigentlichen Besitzern der Pro­duk­tion­s­mit­tel. Pro­le­tarisierung und Ver­lust an Pri­vat­sphäre gin­gen schon immer Hand in Hand.

  • Fahrrad­wege: Jed­er investierte Euro zahlt sich mehrfach aus — WiWo Green — noch ein grund, in fahrrad­in­fra­struk­tur zu investieren: es spart geld (näm­lich bei den gesund­heit­skosten):

    Je mehr in Fahrrad­in­fra­struk­tur investiert werde, je mehr nehme die Leben­squal­ität und der Umweltschutz zu und damit auch die Gesund­heit der betrof­fe­nen Stadt­be­wohn­er – das alles sorge für mas­sive Einsparun­gen bei der Stadtver­wal­tung (wenn diese für die Gesund­heit­skosten aufkom­men muss) oder eben der öffentlichen Haushalte.

  • “Die Zoos scheit­ern auf ganz­er Lin­ie” — Süddeutsche.de — sind zoos noch zeit­gemäß? brin­gen sie uns, der umwelt oder den tieren irgend etwas?

    Machen wir uns nichts vor: Zoos sind Gefäng­nisse, in denen die Tiere lebenslang einges­per­rt sind. Die Hal­tung von exo­tis­chen Wildtieren sollte aus­laufen. Keine Nachzucht­en, keine Importe mehr. Solange die gegen­wär­tig leben­den Tiere noch da sind und nicht aus­gewil­dert wer­den kön­nen, müssen sie so gehal­ten wer­den, dass ihre Bedürfnisse und Ansprüche erfüllt sind, und nicht die der Besuch­er. Wo das nicht geht, müssen eigene Refugien für sie geschaf­fen wer­den. Im Übri­gen müsste das Steuergeld, das in immer neue Zooge­hege hierzu­lande gesteckt wird, bess­er in den Aus­bau von Schutz­zo­nen in den natür­lichen Hei­mat­en der Tiere investiert wer­den. Zoos passen nicht mehr in die heutige Zeit.

Ein Blick ins “Buch der Madrigale” von Amarcord

Fünf Män­ner alleine in ein­er ital­ienis­chen Renais­sance-Vil­la: Selb­stver­ständlich fan­gen die an zu sin­gen. Ganz stilecht ertö­nen dort natür­lich Madri­gale des 16. Jahrhun­dert, wie es zur Bauzeit der Vil­la Godi von Anto­nio Pal­la­dio, die der Filmemach­er Gün­ter Atteln mit­samt ihrem Park als Drehort für den Musik­film gewählt hat, passt.

amarcord, book of madrigals“The Book of Madri­gals”: Der Titel der ersten eige­nen DVD des Ensem­ble Amar­cord (neben der bere­its 2010 veröf­fentlicht­en Doku­men­ta­tion von Christoph Scholtz) lehnt sich natür­lich an die gle­ich­namig Auf­nahme des Quin­tetts von 2007 an, ohne jedoch das selbe Reper­toire aufzuweisen — immer­hin hat seit­dem auch der zweite Tenor gewech­selt. Auf­nahme- und Reper­toire-Erfahrung hat das Quin­tett, das merkt man, genau wie die lange Rou­tine (das Ensem­ble singt ja schon seit mehr als zwanzig Jahren), auch wenn dies ihre erste Auf­nahme bewegter Bilder ist. So arg bewegt sind die dann aber doch nicht: Drei bis fünf Män­ner sitzen oder ste­hen in dem alten Gemäuer herum und sin­gen, ab und an unter­stützt von der Gam­bistin Hille Perl, dem Laut­enis­ten (und Gitar­ris­ten) Lee San­tana und dem Tromm­ler Michael Met­zler. Viel mehr passiert in den min­i­mal angedeuteten Szenen nicht. Die pit­toreske Umge­bung (und die wech­sel­nde Garder­obe) sorgt trotz­dem für nette Bilder. Vor allem gibt sie der Kam­era die Möglichkeit, durch den Park oder über die schö­nen Wand- und Deck­en­malereien zu schweifen. Das Schön­ste bleibt den­noch die Ton­spur dieser kleinen Europa­tour, mit der Amar­cord die Ubiq­ui­tät des Madri­gals in der Renais­sance betont: Eng­land — natür­lich mit Dow­land würdig vertreten -, Frankre­ich, Deutsch­land und Ital­ien sind selb­stver­ständlich dabei, mit di Las­so, Gesu­al­do, Gombert, Willaert und Schütz. Aber auch das Spanien des Gold­e­nen Zeital­ters gehört dazu, das mit zwei fast vul­gären Madri­galen von Juan del Enci­na vertreten ist.

Viel bekan­ntes ist zu hören — das man aber nicht immer in so har­monisch aus­tari­erten Klän­gen geboten bekommt. Amar­cord singt auch für den Film weich und geschmei­dig, bleibt immer aus­ge­wogen und klar in den Details — man merkt die lange Beschäf­ti­gung mit dieser Musik. Neben aller Kun­st­fer­tigkeit ist da dur­chaus auch Platz für mehr oder weniger deut­lich­es Augen­zwinkern und für possier­liche Friv­o­litäten (die vor allem Juan del Enci­na beis­teuert), die sich dann nicht nur hören lassen, son­dern auch in der Mimik der Sänger sicht­bar wer­den. Und das gehört ja ja genau­so zur Geschichte des Madri­gals wie die jauchzen­den Liebes­beschwörun­gen oder wehmütige Blick zurück, das vom Abschiedss­chmerz ver­schleierte Gedenken an die schöneren Tage und die ver­gan­gene Liebe (nahezu per­fekt führt Amar­cord das in Gomberts “Trist départ” vor), bei denen die Sänger schaus­pielerisch zurück­hal­tender agieren.
Nicht nur sin­gend, auch in den kurzen Inter­viewschnipseln beto­nen die Sänger die überzeitliche Gültigkeit der hier in Musik gefassten Gefüh­le und Ideen, machen aber nicht wie die Kings’ Singers mit ihrer “Madri­gal His­to­ry Tour” eine klin­gende Vor­lesung daraus. Dazu passt auch, dass die Unter­ti­tel lei­der nur die über­set­zten Texte bieten: “The Book of Madri­gals” ist eben vor allem ein Film zur Musik.

Amar­cord: The Book of Madri­gals. DVD 2014.

— Zuerst erschienen in Chorzeit — Das Vokalmagazin, Aus­gabe Sep­tem­ber 2014.

Pilger beim italienischen Zirkus: Christoph Irniger Pilgrim erzählen Musik

christoph irniger pilgrim, italian circus storyChristoph Irniger ist ein wirk­lich inter­es­san­ter Schweiz­er. Der noch ziem­lich junge Sax­o­phon­ist hat bei Intakt bere­its im let­zten Jahr mit seinem Trio die wun­der­bar kraftvolle CD Gowa­nuns Canal veröf­fentlicht. Und jet­zt legt er nach — und noch eines drauf. Mit der losen For­ma­tion “Christoph Irniger Pil­grim”, die in etwas ander­er Beset­zung schon eine Auf­nahme gemacht hat (die ich (noch) nicht kenne), hat er wieder bei Intakt (die sind eben wirk­lich gut, die Zürich­er …) Ital­ian Cir­cus Sto­ry vorgelegt. Und das ist tolle Musik, die mich beim ersten Hören berührt, beim zweit­en begeis­tert und beim drit­ten entzückt hat.

Schon der Beginn ist ziem­lich cool: schle­icht sich auf weichen Klangp­foten hinein, mit Zeit für Entwick­lun­gen und Ent­deck­un­gen. Über­haupt die Entwick­lung: Wie span­nend und vielfältig es sein kann, die Ideen zu ent­fal­ten, hört man wohl am besten beim vier­tel­stündi­gen Titel­stück Ital­ian Cir­cus Sto­ry. Das ist keine akro­batis­che Ver­renkung (für die ich ja dur­chaus auch einiges übrig habe …), son­dern eine phan­tastis­che Geschichte voller Ver­wand­lun­gen, Über­raschun­gen und Entwick­lun­gen, Höhep­unk­te und Tiefen. Neben­bei bemerkt klingt die Auf­nahme auch sehr gut, hat einen schö­nen war­men und plas­tis­chen Sound. Über­haupt zeich­net die ganze Ital­ian Cir­cus Sto­ry eine große Präzi­sion des klan­glichen Gefüges aus. Die Klänge ver­fü­gen in so ziem­lich jedem Moment über beein­druck­ende Klarheit — trotz der (zeitweise) hohen Dichte und dur­chaus vorhan­de­nen Kom­plex­ität erscheinen sie wie selb­stver­ständlich und fast natür­lich. Das hängt damit zusam­men, dass das Quin­tett aus Klang­pil­gern beste­ht: Fest ste­hen sie auf gemein­samen Grund, überzeugt in ihrem Tun, sehr selb­st­sich­er und selb­st­be­wusst. Und das dur­chaus mit Grund, denn sie sind hör­bar alle große Kön­ner und erstaunlich reife Stilis­ten. Das zeigt sich ger­ade immer wieder darin, dass sie Zeit haben oder sich Zeit nehmen, die Musik nicht drän­gen, son­dern ihr Freiraum zur inneren und äußeren Ent­fal­tung geben.

Die Klarheit der Far­ben und Motive, das oft auch sehr durch­sichtig Ensem­ble, selb­st bei erhe­blich­er klan­glich­er Dichte beziehungsweise momen­tan­er Verdich­tung ver­mit­telt so immer wieder eine dieser Musik innewohnende poet­is­che Frei­heit. Dabei ist alles sehr konzen­tri­ert, genau und im höch­sten Maße aus­ge­feilt — nicht die Frei­heit des egal was, des Wartens auf die Inspi­ra­tion hört man hier, son­dern die Frei­heit der Vor­bere­itung — und der daraus resul­tieren­den Gewis­sheit und Überzeu­gung (des Gelin­gens).

Christoph Irniger ist dabei selb­st als Sax­o­phon­ist gar nicht so sehr präsent, wie man das von Band­lead­ern gewohnt ist: Er drän­gelt nicht, son­dern lässt viel Raum — unter anderem für den klangsin­ni­gen Pianis­ten Ste­fan Aeby oder den schweben­den Gitar­ren­sound von Dave Gisler. Aber egal, wer ger­ade zu hören ist: Immer wieder beein­druckt die konzen­tri­erte Gelassen­heit der Musik, die erar­beit­ete, hergestellte Lock­er­heit und die anges­pan­nte Aufmerk­samkeit für jedes rhyth­mis­che, motivis­che und klan­gliche Detail.

Christoph Irniger Pil­grim: Ital­ian Cir­cus Sto­ry. Intakt CD 238. Intakt Records 2014.

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